Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wo eigentlich liegt Marokko? Wer rührt an die Grenzen Nordafrika?

Von Axel Goldau *

Seit dem Frühjahr verhandelt die EU Kommission auf Antrag des Königreichs Marokko eine „privilegierte Partnerschaft [engl.: advanced status]“. Grundlage ist der 1995 in Gang gesetzte „Barcelona-Prozess“, wonach sich die EU verstärkt dem Mittelmeerraum zuwendet, einem Gebiet, das sich durch drei langanhaltende, zwischenstaatliche Konflikte auszeichnet: Den Konflikt zwischen Israel und Palästina sowie der Türkei und Zypern im Osten und dem zwischen Marokko und der Westsahara im Westen. Diese drei Konflikte werden von spezifischen Missionen der Vereinten Nationen begleitet. Es sind die drei längsten ihrer Geschichte.

Hier geht es nur um den „jüngsten“ der drei Konflikte, den Kolonialkonflikt um die Westsahara, und die international anerkannten Grenzen. Unklare Grenzen wurden bereits von den alten Kolonialmächten als riskant angesehen: Während der Berliner Kongokonferenz von 1884/85 haben sich die europäischen Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent untereinander aufgeteilt und dort die Grenzen festgelegt. Dabei fielen die größten Teile des Maghreb an Frankreich und die Westsahara an Spanien. Später kolonisierte Spanien den Norden Marokkos sowie die Enklave Ifni im Süden; Frankreich machte den Rest zu seinem Protektorat.

Als erstes Land der Region erlangte Marokko am 2. März 1956 seine Unabhängigkeit: Noch im selben Jahr wurde das Königreich Marokko als Vollmitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen. Die französische „Omnium Nord-Africaine“, die Vermögensverwaltung französischer Kolonialinteressen, ging völlig in den Besitz der königlichen Familie über [1], während Spanien die Enklaven Ceuta und Melilla im Norden und Ifni im Süden nicht losließ. Und die Westsahara, die Sáhara Español, sollte für immer ein Teil „des spanischen Mutterlandes“ bleiben.

1958 wagten die Menschen der spanischen Sahara-Kolonie den Aufstand. Erhoffte Hilfe aus dem gerade „unabhängigen“ Königreich Marokko blieb aus: Der Aufstand wurde gemeinsam von Franzosen und Spaniern niedergeschlagen. Als „Judaslohn“ erhielt das junge Königreich den Tan-Tan-Streifen. Die Südgrenze Marokkos verlief jetzt am 27°40‘ Nördlicher Breite und nicht mehr im Bett des Qued Draa.

Seit 1972 hatte die UN-Vollversammlung von Spanien immer wieder die Entkolonisierung der Westsahara gefordert – vergeblich: Stattdessen übergab Spanien am 14. November 1975 im „dreiseitigen Abkommen von Madrid“ die Sahara-Kolonie an die Nachbarn Marokko und Mauretanien. Dass der Internationale Gerichtshof die „historischen Ansprüche“ Marokkos für null und nichtig erklärte, kümmerte weder die Regierung in Madrid noch das marokkanische Königshaus. Im Hintergrund agierten sowohl Paris als auch Washington, wenn auch aus anderen Motiven.

Über die hinter dem Abkommen stehenden Interessen drangen nur wenige Einzelheiten an die Öffentlichkeit; erst 1978 wurde z.B. bekannt, wie gut Spanien an seinem Völkerrechtsbruch und der Missachtung sämtlicher Beschlüsse der Vereinten Nationen zu verdienen versuchte: So sicherte sich Spanien Fischfangrechte bis 1983 für einen Teil seiner Fischereiflotte in den sahrauischen Gewässern sowie einen Anteil von 35% an der lukrativen Phosphatmine BuCraa. Das spanische Parlament hatte übrigens diesem Abkommen 1975 zugestimmt, ohne Einzelheiten seines Inhalts überhaupt zu kennen. [2] Mit dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Union [damals noch Gemeinschaft] 1986 war dem König ein eher schwacher Verhandlungspartner abhanden gekommen: Ihm gegenüber saß nun die viel mächtigere Gemeinschaft.

Zwischen 1988 und 2000 wurden insgesamt drei „Fischereipartnerschafts-Abkommen zwischen der EG/EU und dem Königreich Marokko“ – vor allem auf spanische Initiative – geschlossen, war es doch Spanien, das am meisten von diesen Verträgen zu profitieren hoffte. Fangquoten-Beschränkungen bei immer höheren Zahlungen und Art und Umfang der Beteiligung der marokkanischen Fischerei-Industrie ließen die Verhandlungen zäh verlaufen und führten im Herbst 2000 zum vorläufig endgültigen Abbruch sämtlicher Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko, das sich nun wiederum nach anderen „Partnern“ umschaute. [3] Gleichzeitig wurde die marokkanische Fischfangflotte und die Fischverarbeitungsindustrie modernisiert – allerdings nicht nur in Marokko, sondern vor allem da, wo sich Fischfang überhaupt noch lohnte – nämlich in der besetzten Westsahara.

Mohamed spielt den Weihnachtsmann

Die Bedeutung der Fischvorkommen der Westsahara erlangten für das Königreich wachsende Bedeutung, da die eigenen Fischvorkommen im Mittelmeer und im Atlantik bereits die Folgen der nicht-nachhaltigen industriellen Fischereipolitik des größeren Nachbarn, der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union, zu spüren bekamen. Und auch andere Fehlentscheidungen innerhalb der EU wusste das Königreich sich geschickt zu Nutze zu machen:

Als Ende 2002 der Tanker Prestige seine tödliche Fracht in die Biskaya spuckte und die Aznar-Regierung [4] seelenruhig die Havarie zur Katastrohe eskalieren ließ, bot König Mohamed VI., Sohn und Thronfolger des 1999 verstorbenen Hassan II., der gebeutelten galizischen und asturischen Fischereiflotte „großzügig“ an, in seinem Reich – wozu nach marokkanischer Lesart selbstverständlich auch die Gewässer der besetzten Kolonie gehörten – zu fischen: Der König mobilisierte durch seine „Großzügigkeit“ die spanische Fischerei-Lobby, den Druck auf die spanische Regierung zu verstärken, um via EU nun endlich wieder zu einem Fischereiabkommen zu gelangen. In anderen Fragen machte die Aznar-Regierung allerdings keinerlei Konzessionen gegenüber dem südlichen Nachbarn.[5]

Insgesamt verhandelte die marokkanische Regierung äußerst geschickt: Fisch nur gegen viel Geld; eine vereinbarte Fangquoten-Limitierung hört sich an nach nachhaltiger Nutzung, Beschäftigung von marokkanischen Staatsbürgern und Beteiligung der eigenen Fischfangindustrie nach Partizipation – wenn da nicht die Westsahara wäre: Immer deutlicher stellt sich nämlich heraus, dass Marokko vor allem deshalb an Handelsverträgen mit der EU interessiert ist, weil sie eine indirekte Anerkennung der marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara beinhalten.

Mit den ersten drei Fischereiverträgen war es Marokko bereits gelungen, seine Ansprüche auf die Westsahara vom großen Nachbarn zwar nicht explizit, jedoch immerhin implizit anerkennen zu lassen. Der Trick ist ganz einfach: Man definiert die Südgrenze für die Gültigkeit solcher Abkommen einfach erst gar nicht. Dies allerdings geht nur mit einem „willigen“ Handelspartner wie der Europäischen Union: Die USA z.B. haben die besetzten Gebiete der Westsahara ausdrücklich von ihrem Freihandelsabkommen ausgenommen.

Aber die EU verhandelt weiter …

Im Frühjahr 2006 waren sich die EU und Marokko wieder einmal einig: Ein neues „Fischerei-Partnerschaftsabkommen“ war geschlossen, wonach Fischereischiffe „in Gewässer, die unter die Souveränität oder die Zuständigkeit des Königreich Marokko fallen“ aus der EU entsandt werden dürfen. Dass dies eine Verklausulierung für das Abfischen der Sahara-Kolonie und die implizierte Anerkennung von Marokkos Souveränität über dieses Gebiet bedeutet [6], wurde im April auf Anfrage aus dem Europäischen Parlament durch die Kommission bestätigt.[7]

Bereits im Frühjahr 2008 hatte das Königreich Marokko bei der EU Kommission den Antrag auf eine „privilegierte Partnerschaft“ gestellt. Seither haben sieben Verhandlungsrunden stattgefunden: Die letzte am 13. Oktober in Luxemburg. Diese Verhandlungen führt der „Assoziationsrat EU-Marokko“, eine Einrichtung, die im Rahmen des am 1. März 2000 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommens geschaffen wurde.

Seit 1995 wendet sich die EU verstärkt dem Mittelmeerraum zu. Ergänzend zu diesem „Barcelona-Prozess“ hat die EU die „Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)“ eingerichtet und verleiht dem durch das neu geschaffene Kommissariat für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik Nachdruck. Dem Kommissariat steht die ehemalige konservative österreichische Außenministerin, Frau Benita Ferrero-Waldner, vor. Ihre Behörde ist federführend mit den Verhandlungen zwischen der EU und dem Königreich betraut.

Wie bei den „Fischerei-Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und dem Königreich Marokko“ bleibt auch in diesem Abkommen die Südgrenze undefiniert. Dass es den Machthabern in Marokko nicht nur darum geht, billig Apfelsinen auf den europäischen Markt zu werfen, sondern mit Formulierungen wie „unter marokkanischer Souveränität und Zuständigkeit“ eine Anerkennung der völkerrechtswidrigen Ansprüche über die Westsahara zu erlangen, legen Veröffentlichungen in der marokkanischen Presse nahe.[8]

Undefinierte Grenzen haben in dieser Region (koloniale)Tradition: Frankreich, das 1956 „sein Protektorat Marokko“ in die Unabhängigkeit entließ, hinterließ den Völkern ein giftiges Geschenk, nämlich die undefinierte Grenze zwischen Algerien und Marokko. Dies war 1961der Grund für den „Sandkrieg“ zwischen dem Königreich und dem mittlerweile auch – allerdings gegen massivsten französischen Widerstand – unabhängigen Algerien. Der Krieg dauerte nicht lange; er wurde durch Vermittlung der Organisation für Afrikanische Einheit nach mehreren Monaten beigelegt: Die Rivalität und das Misstrauen der beiden Nachbarn aber blieben bestehen.

Eine EU, die vorgibt, weltweit das friedliche Zusammenleben der Völker fördern zu wollen, aber gleichzeitig Handelsverträge mit Partnern abschließt, die das Völkerrecht nachhaltig beschädigen und die Menschenrechte massiv verletzen, wird international an Glaubwürdigkeit verlieren.

Fußnoten
  1. Abdelmoumen Diouri (1992): A qui appartient le Maroc?; L’Harmattan, Paris.
  2. s. Karl Rössel (1991): Wind, Sand und (Mercedes-)Sterne; Westsahara: Der vergessene Kampf für die Freiheit, Horlemann Unkel/Bad Honnef: pp.177f.
  3. Daniela Hinze (2003): Der Westsahara – Konflikt: Die Bedeutung von wirtschaftlichen Interessen sowie politischen Entscheidungen für das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis und den Friedensprozess; Diplom-Arbeit FU-Bln.
  4. José-Maria Aznar war von 1996 bis 2004 als Vorsitzender der konservativen Partido Popular, die ihre Wurzeln in der franquistischen Diktatur hat, spanischer Ministerpräsident. Im Rahmen seines neoliberalen Wirtschaftsprogramms wurde u.a. der Küstenschutz privatisiert, sodass für eine frühzeitige Eindämmung der Havarie-Folgen weder Zuständigkeiten, Mittel und noch nicht einmal der politische Wille vorhanden waren.
  5. Am 18. Juli 2002 z.B. stürmten spanische Elitesoldaten unterstützt von sechs Hubschraubern, zwei U-Booten und mehreren Kriegsschiffen eine winzige Felseninsel („Petersilieninsel“), die 200 m vor der marokkanischen Küste liegt, um zwölf marokkanische Soldaten zu vertreiben.
  6. mehr hierzu s. Axel Goldau (2006): Westsahara│EU – Heizt die EU als letzter „Groß-Investor“ den Westsahara-Konflikt weiter an? INAMO Nr. 46: 49; Berlin.
  7. Parlamentarische Anfrage: E-1073/08 vom 04.März 2008 und die Antwort vom 9. April 2008 durch Fischerei-Kommissar Borg.
  8. z.B.: Le Matin du Sahara et du Maghreb vom 31.10.08.
* Axel Goldau, Redakteur der Kritischen Ökologie / ifak e.V. – Berlin/Göttingen, redaktion@kritische-oekologie.de


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 56/Winter 2008, Jahrgang 14, S. 49-50

Die Zeitschrift inamo erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
inamo e.V.
Postfach 310 727
10637 Berlin
(Tel.: 030/86421845; e-mail: redaktion@inamo.de)



Zurück zur Marokko-Seite

Zur Westsahara-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage