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Für einen "fairen Ausgleich legitimer israelischer und palästinensischer Interessen"

24 ehemalige deutsche Botschafter appellieren an die Bundesregierung und die Europäische Union

Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern stagniert. 24 ehemalige deutsche Diplomaten fassen in fünf Thesen zusammen, wie Europa die Verhandlungen wieder in Gang bringen kann. Wir dokumentieren die Erklärung im Folgenden im vollen Wortlaut.

Kampf dem Stillstand: Europa kann mehr für den Frieden in Nahost tun - es geht auch um deutsche Interessen

Ein Diskussionsbeitrag ehemaliger deutscher Botschafter *

1) Der Konflikt berührt wesentliche europäische und damit deutsche Interessen, die mit dem gegenwärtigen Stillstand der Bemühungen um einen Frieden in Nahen Osten nicht vereinbar sind.

Der Nahostkonflikt ist ein Nährboden für extremistische Bewegungen, welche die öffentliche Sicherheit nicht nur in der Region selbst, sondern auch in Europa und in anderen Teilen der Welt ernsthaft gefährden. Die Radikalisierung in Israel und in den palästinensischen Gebieten schwächt die gemässigten politischen Kräfte in der Region, die von größter langfristiger Bedeutung für die Befriedung des Nahen Ostens sind.

Der Konflikt ist ein Kristallisationspunkt, an dem sich Kritik und Haß gegenüber dem Westen immer wieder entzünden. Die negative Wahrnehmung der bisherigen europäischen und amerikanischen Nahostpolitik, die in der Region vorherrscht, wird nur durch einen fairen Ausgleich legitimer israelischer und palästinensischer Interessen abgebaut werden können.

Deutschland hat sich zum Schutz der Sicherheit Israels als geschichtliches Vermächtnis verpflichtet. Eine wirkliche Sicherheit kann jedoch nur auf politischen Wege hergestellt werden, nicht durch Besetzung und Besiedlung oder das Vertrauen auf militärische Überlegenheit, sondern durch einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und eine darauf folgende palästinensische Staatlichkeit. Israel wird nicht darauf hoffen können, sowohl den Frieden zu gewinnen als auch die palästinensischen Territorien zu behalten.

Und schliesslich gehört die Stärkung des Völkerrechts, der Internationalen Gerichtsbarkeit und der Vereinten Nationen zum Kernbestand deutscher Außenpolitik. Den Genfer Konventionen kommt im Nahostkonflikt besondere Bedeutung zu. Ihrer Verletzung durch beide Seiten muß entgegengewirkt werden, ebenso wie der Mißachtung der Vereinten Nationen.

2) Es erscheint unerlässlich, im Rahmen der europäischen Nahostpolitik und in enger Abstimmung mit den USA über Maßnahmen nachzudenken, die den Forderungen an die Konfliktparteien auf Beendigung der Auseinandersetzung den notwendigen Nachdruck verleihen.

Die deutschen und europäischen Erklärungen zum Nahostkonflikt sind von beiden Seiten weitgehend ignoriert worden. Ein wesentlicher Grund für ihre Wirkungslosigkeit liegt in dem Verzicht, den Konfliktpartnern eine entschlossenere Gangart bei der Verwirklichung der Zwei-Staatenlösung zu signalisieren. So könnte z.B. die Aufrechterhaltung bestimmter Vergünstigungen oder von Transferleistungen an die eine oder andere Seite, aber auch eine stärkere Annäherung an die Europäische Union von konkreten Fortschritten bei der Konfliktbereinigung abhängig gemacht werden. Dieser Grundsatz sollte natürlich auch für die unausweichliche Einbindung der Hamas in den politischen Prozeß und für die unerläßliche dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge zum Gazastreifen gelten.

Deutschland wird diese Massnahmen nicht initiieren, sollte sich ihnen aber auch nicht widersetzen. Wir meinen, dass eine Nahostpolitik ohne Nachdruck den Gestaltungsspielraum einengt, der erforderlich ist, um Hindernisse für den Frieden – allen voran die Siedlungspolitik – wirkungsvoll abbauen zu können.

3) Die detaillierte Ausformulierung eines umfassenden Friedensabkommens liegt auf dem Tisch.

Die sog. "Genfer Initiative" wurde 2003 von namhaften Israelis und Palästinensern ausgehandelt. Der Vertragsentwurf enthält realistische Kompromisformeln zu allen wesentlichen Fragen des Konflikts : Errichtung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 ( minus gegenseitig vereinbarten Landtauschs, der die Einbeziehung der grossen grenznahen Siedlungsblöcke in den israelischen Staat gegen entsprechende territoriale Kompensation an anderer Stelle ermöglicht) ; Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten mit territorial getrennter Souveränität ; eine realistische Regelung der Flüchtlingsfrage, die israelische Sicherheitsbedürfnisse ebenso berücksichtigt wie die notwendige Entschädigung der Flüchtlinge ; Palästina als entmilitarisierter Staat ; Stationierung einer multinationalen Truppe auf palästinensischem Gebiet während des Rückzugs der israelischen Besatzungstruppen sowie Einrichtung einer internationalen Implementierungs- und Verifikationsgrupe zur Überwachung der Vereinbarungen.

Zusammen mit dem Angebot aller 22 Staaten der Arabischen Liga zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den arabischen Staaten und Israel unter der Bedingung eines Rückzugs aus den besetzten Gebieten ("Arabische Friedensiniative" 2002) bestehen hiermit neben den bestehenden Vereinbarungen weitere Grundlagen für die Verhandlungen über eine gesicherte Zukunft von Israelis und Palästinensern durch Ausgleich ihrer legitimen Interessen. Die EU sollte die Genfer Initiative und die Arabische Friedensinitiative in ihre zukünftigen Nahostpolitik einbeziehen.

4) Das entschlossenere Eintreten für die Zweistaatenlösung wird nicht verkennen, daß ein Rückzug aus den besetzten Gebieten eine schwere Belastungsprobe für Politik und Gesellschaft in Israel bedeutet.

Die Gründe hierfür liegen in der in der Furcht vor innenpolitischen Auseinandersetzungen und in der Sorge um die nationale Sicherheit. Angesichts von Israels hochgerüsteter, nuklearbewehrter Militärmacht, der amerikanischen Garantien, der europäischen Solidarität sowie der grundsätzlichen Bereitschaft der arabischen Staaten zu einem Friedensvertrag mit Israel kann von einer Existenzbedrohung Israels durch einen Staat der Palästinenser nicht mehr ernsthaft gesprochen werden. Das Gegenteil ist der Fall: eine Fortsetzung den Konfliktes steht der Stabilisierung der ganzen Region entgegen und birgt unvorhersehbare Risiken.

5) Deutschland wird mit einer Nahostpolitik, die – ohne die deutsch-jüdische Vergangenheit zu vergessen – sich an den dringenden Erfordernissen der Zukunft orientiert, nicht nur in der eigenen, sondern auch in Teilen der israelischen Öffentlichkeit Verständnis und Unterstützung finden.

Die israelisch-palästinensische Auseinandersetzung bewegt viele Deutsche. Wir möchten mit diesen Überlegungen einen Beitrag zu der öffentlichen Diskussion leisten, zumal auch die neue Bundesregierung vor der Herausforderung stehen wird, dazu beizutragen, das Gewicht der Europäischen Union in einen erneuten Anlauf zu einer Bereinigung des nunmehr bereits sechzig Jahre dauernden Konflikts einzubringen.

Wolfgang Erck, Dr. Gerhard Fulda, Dr. Helmut Frick, Ekkehard Hallensleben, Dr. Martin Hecker, Dr. Jürgen Hellner, Dr. Herbert Hoffmann-Loss, Dr. Peter Christian Hauswedell, Mdg.a.D., Dr. Wilfried Hofmann, Dr. Michael Libal, Rüdiger Lemp, Kurt Leonberger, Dr. Gunter Mulack, Dr. Gerhard Müller-Chorus, Juergen Oestreich, Dr. Helmut Rau, Rolf Schumacher, Dr. Hans-Lothar Steppan, Ulrich Schöning, Helmuth Schroeder, Dr. Martin Schneller, Dr. Klaus Terfloth, Dr. Hans Georg Wieck, Dr. Bernd Wulffen

* Diese Stellungnahme wurde am 7. Dezember 2009 in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erstmals veröffentlicht.


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