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Arafats Überlebenskampf und das Elend der Palästinenser

Israels militärische Aktionen lösen kein einziges Problem

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Texte, die sich mit ganz verschiedenen Themen zu befassen scheinen: Mit dem Versuch Israels, Arafat endgültig zu Fall zu bringen, und mit der schier ausweglosen ökonomischen und sozialen Situation in den Palästinensergebieten, verursacht zu einem großen Teil ebenfalls durch die militärische Abriegelung von Israel. Der erste Beitrag - er liest sich fast wie ein Nachruf und wurde geschrieben, als es so aussah, als wollte Israel tatsächlich den Amtssitz Arafats "platt machen" - stammt aus der Feder der deutschen Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten, die an der palästinensischen Universität Bir Zeit lehrt. Der zweite Artikel basiert auf statistischen Angaben der UNSCO, einem UN-Büro des Spezialkoordinators in Palästina, und ergänzt ähnlich erschütternde frühere Berichte aus anderen Quellen, etwa den Bericht von USAID über die gesundheitliche Situation der Menschen in den Autonomiegebieten vom Juli d.J. Beide Artikel sind in der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschienen (ein Blick in www.woz.ch lohnt immer).

Vom Staatsmann zum Symbol

Arafats einstöckiger Staat

Von Helga Baumgarten, Jerusalem*


Der Amtssitz des palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat liegt in Trümmern. Die israelische Kriegsmaschine hat gnadenlos gewütet in Ramallah. Arafat ist mit seinen engsten Beratern sowie einer grösseren Zahl palästinensischer Aktivisten auf ein einziges Stockwerk zurückgedrängt worden. Die israelische Armee kontrolliert den Rest des Gebäudes. Auf dem Dach weht die israelische Fahne.

Ist Arafat am Ende angekommen? Ist mit seinem Ende auch die Ära der palästinensischen Autonomiebehörden vorbei, die durch die Osloer Verträge seit 1993 etabliert worden sind? Hat gar die Todesstunde für den palästinensischen Nationalismus geschlagen und ist damit eine eigenständigen palästinensische staatliche Existenz ausgeschlossen? Zweifellos ist dies das Ziel des israelischen Premiers Ariel Scharon. Für ihn kann der schon über hundert Jahre währende Kampf zwischen ZionistInnen und PalästinenserInnen nur mit der vollständigen Niederlage einer Seite enden, der palästinensischen. Denn nur damit wäre, so das scharonsche Weltbild, die Zukunft eines jüdischen Staates Israel, vom Mittelmeer bis zum Jordantal, garantiert.

Scharon ging in seinem Krieg gegen die PalästinenserInnen systematisch vor. Unerbittlich und Schritt für Schritt wurde das gesamte Westjordanland wiederbesetzt und in hunderte und aberhunderte kleiner Gefängnisse verwandelt, kontrolliert durch die israelische Armee. Dieses Niederwalzen von allem, was palästinensisch ist, kulminiert symbolisch in der Abriegelung und Zerstörung des Amtssitzes von Arafat. Doch wird Arafat auch diesen israelischen Angriff, wie schon unzählige zuvor, überleben? Seit Samstag sind Palästinenserinnen und Palästinenser, junge, alte, politisch organisierte, militante AktivistInnen und einfache BürgerInnen, auf der Strasse. In offener Herausforderung der Ausgangssperre demonstrieren sie für Arafat, für den palästinensischen Nationalismus und für eine palästinensische Zukunft in einem unabhängigen Staat. Dies lassen sie sich von niemandem verwehren.

Dass derartige Manifestationen auch unter den extremsten Bedingungen möglich sind, trotz Abriegelung, Ausgangssperre und unter direkter Gefahr für Leib und Leben aller, die sich auf die Strasse wagen, gehört zu den historischen Verdiensten Arafats. Seine ideologische, politische und organisatorische Arbeit als Mitbegründer und später Führer der Fatah, der Bewegung zur Befreiung Palästinas, sowie seit 1969 als Präsident des Exekutivkomitees der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO haben wesentlich dazu beigetragen, dass die PalästinenserInnen sich zur Nation konstituierten und den Anspruch auf einen eigenen Staat zu artikulieren begannen. Damit meldeten sie sich unüberhörbar als politische Stimme zu Wort, angeführt und repräsentiert, sowohl direkt politisch als auch symbolisch, eben durch Jassir Arafat.

In einer ersten Phase, zwischen 1965 und 1970/71, war es der bewaffnete nationale Befreiungskampf, der einen unabhängigen palästinensischen Staat zu erringen versuchte. Schon Anfang der siebziger Jahre jedoch versuchte Arafat, der zeitlebens zuallererst ein Politiker, nie aber ein Militär war wie etwa Ariel Scharon, den Staat Palästina politisch durchzusetzen. Als Realpolitiker, der Arafat auch immer war und geblieben ist, hielt er relativ früh, spätestens aber nach dem Oktoberkrieg 1973, nur einen palästinensischen Kleinstaat neben Israel in den Grenzen der Periode vor dem Krieg 1967 regional und international für durchsetzbar. Typisch für Arafats Politikstil ist dabei, dass er sein übergeordnetes Ziel vor allem aussenpolitisch durchzusetzen versuchte. Die palästinensische Gesellschaft in der Diaspora, also in den arabischen Anrainerstaaten rund um Israel, war wie die palästinensische Gesellschaft, die seit 1967 unter direkter israelischer Besatzungsherrschaft stand, durch den bewaffneten Kampf mobilisiert und für das Ziel der Befreiung gewonnen. Befreiung und bewaffneter Kampf blieben so die Schlagworte auf der palästinensischen Strasse, während die politische Führung unter Arafat einen diplomatischen Feldzug zur Etablierung eines palästinensischen Staates führte. Erst 1988, nach einem Jahr palästinensischem Volksaufstand gegen die israelische Besatzung trafen sich beide Strategien. Der palästinensische Nationalrat – die Legislative der PLO – verabschiedete unter der Federführung von Arafat ein klares Ziel für den palästinensischen Nationalismus: ein unabhängiger palästinensischer Staat in friedlicher Koexistenz mit Israel. Arafat hatte damit durchgesetzt, dass die Strategie des Befreiungskrieges ersetzt wurde durch die politische Strategie der Staatenbildung.

Arafats Tragödie als politischer Führer war und ist es bis heute, dass keine israelische Regierung die Chance einer friedlichen Lösung des Nahostkonfliktes durch Kooperation mit ihm akzeptiert hat. Von Yitzhak Rabin bis – in extremster Form – Ariel Scharon meinten alle Premiers, sie könnten sich in der Region unter Missachtung jeglicher palästinensischer Ansprüche behaupten. Rabin war in Oslo sicher am weitesten gegangen, als er die Möglichkeit eines palästinensischen Staates implizit zugestand. Aber auch er machte schon den ersten und entscheidenden Rückzieher, als er sich nach dem Massaker durch einen Siedler in der Abrahams-Moschee in Hebron 1994 weigerte, gegen israelische Siedler vorzugehen. Ein Ausgleich zwischen Israel und den PalästinenserInnen ist jedoch nur denkbar und vor allem realisierbar, wenn die israelische Siedlungspolitik beendet wird. Denn diese Siedlungspolitik ist Kolonialismus in reinster Form. Sie verhindert per se die Beendigung der Besetzung und damit den Beginn eines Friedensprozesses, der diesen Namen auch verdient.

Teile der palästinensischen politischen Elite, sowohl aus der Diaspora als auch aus der Westbank, meinten, aus dem Kriegszug Scharons Kapital schlagen zu können. Vor allem, als sich US-Präsident George Bush voll hinter Scharons Politik stellte, wenn auch in einem logischen Salto mortale, als er diese Politik nämlich koppelte mit der Forderung nach einem palästinensischen Staat, sahen einige palästinensische PolitikerInnen, mit kräftiger finanzieller Unterstützung aus westlichen Quellen, die Chance, Arafat den politischen Gnadenstoss zu versetzen und die politische Führung zu übernehmen. Sie haben dabei übersehen, dass auch sie für Scharon nicht akzeptabel sind – genauso wenig wie Arafat.

Doch Arafat bleibt. Er ist für die meisten PalästinenserInnen das Symbol ihres Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit. Und dies trotz ihrer immer wieder artikulierten Kritik an seiner Israel gegenüber allzu kompromissbereiten Politik. Und auch trotz ihrer Kritik an Arafats Führungsstil, an seiner Unfähigkeit, oder präziser: seiner Nichtbereitschaft, die weit verbreitete Korruption in der palästinensischen politischen Elite zu stoppen, an der Unfähigkeit, oder: Nichtbereitschaft seiner Behörden, die palästinensische Gesellschaft im Widerstand gegen die israelische Besetzung zu organisieren und anzuführen.

* Die Autorin lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Zeit. Eben erschienen ist ihr Buch "Arafat. Zwischen Kampf und Diplomatie" (Ullstein Taschenbuch, München 2002). In Zürich leitet Helga Baumgarten am 8. Oktober innerhalb der Projektwoche "Sheharazade goes West" eine Diskussion über demokratische Perspektiven in Israel und Palästina. Im Wintersemester 2002/2003 wird sie im Rahmen einer Ringvorlesung der AG Friedensforschung an der Universität Kassel einen Vortrag über die israelisch-palästinensischen Perspektiven halten.

Aus: WoZ, 26. September 2002


Palästina: Der Preis der Abriegelung

Dem Kollaps nahe

Armin Köhli

Jetzt liefert die Uno die Daten. Das Büro des Spezialkoordinators in Palästina Unsco veröffentlichte den ersten Bericht für das Jahr 2002. Die Unsco-Berichte über die wirtschaftliche Entwicklung in Palästina erschienen seit 1996 im Prinzip halbjährlich und gelten als genaueste Datenerhebung in den palästinensischen Autonomiegebieten. Im Zentrum des neuesten Berichts stehen die Folgen der fast vollständigen Abriegelung Gazas und der Westbank im Zuge der Operation Defence Shield ab Ende März 2002.

Die harten Fakten der «von Menschen geschaffenen humanitären Krise»: Unterernährung, Anämie und hunderttausende, die direkt von Lebensmittelhilfe abhängen. Schon vor Beginn von Defence Shield hatten als Folge des israelischen Krieges gegen die Intifada über 56 Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte ihres Einkommens verloren; etwa 67 Prozent aller Haushalte lebten in Armut. Nach dem 29. März unterstanden zeitweise über 600 000 PalästinenserInnen tagelang – einige Städte für rund drei von sechs Monaten – einer 24-stündigen, vollständigen Ausgangssperre. Die Ausgangssperren und die militärischen Aktionen, so schreibt das Unsco, beeinträchtigten praktisch jeden Bereich des normalen Lebens. Die ländliche Bevölkerung blieb von der Gesundheitsversorgung abgeschnitten; die Militärs zerstörten gezielt Kommunikationsmittel, sanitäre Einrichtungen, Kühlmöglichkeiten und Heizungen. Da die Zisternenwagen die Häuser kaum mehr oder nur über grosse Umwege erreichen konnten, verdreifachte sich der Wasserpreis. Viele Menschen verschuldeten sich, nur um Wasser kaufen zu können, andere benützen gebrauchtes und verschmutztes Wasser. Ende März lebten 85 Prozent der Menschen in Gaza und 58 Prozent jener in der Westbank in Armut. Zwischen Ende März und Ende Juni erhöhte sich die Arbeitslosenquote von 36 auf 50 Prozent.

Der Unsco-Bericht beschreibt mit Zahlen und Fallbeispielen die Folgen der israelischen Strangulierung für Landwirtschaft, Industrie, Handel, Transport, Produktivität, Einkommen und Konsum. Und er kommt zu einem eindeutigen Schluss: «In einer Gegend, in der zehn Millionen Menschen auf sehr begrenztem Raum leben, kann ein Sicherheitssystem für zwei Drittel der Menschen nicht von Dauer sein, wenn es auf Kosten sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit des anderen Drittels geht.»

Aus: WoZ, 26. September 2002


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