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Tod den Besatzern!

Jan Myrdal über das, was in der schwedischen Afghanistandebatte nicht gesagt werden darf *

Mein ganzer Respekt gilt jenen, die sich jetzt mit Argumenten dagegen wenden, dass auch Schweden Söldner in den Kolonialkrieg des Westens in Afghanistan schickt. Denn natürlich muss man argumentieren. Vernünftig reden. Das habe ich getan und tue es. Vor bald dreißig Jahren sprachen Gun Kessle und ich auf einem Treffen, das der Anfang der Entstehung der Solidaritätsarbeit in Schweden gegen die damalige sowjetische Invasion in Afghanistan wurde. Als sie im Sommer 2007 bereits sterbenskrank ihre letzte große Ausstellung Afghanistan in meinem Herzen in Karlshamn eröffnete, sprach ich gegen die gerade stattfindende Okkupation der Vereinigten Staaten und der EU. Trotz allem sollte man weiterhin dabei bleiben, vernünftig zu argumentieren.

Aber derjenige, der sich alte Zeitungsartikel, Bücher, (auch auf Schwedisch) erhaltene Fernseh- und Radioprogramme ansieht, kann feststellen, dass das sowjetische Medienbild der damaligen Okkupation zum Verwechseln dem jetzt üblichen offiziellen schwedischen (dem der Nato und der Vereinigten Staaten) glich: Güte, Edelmut, Befreiung der Frauen, Kampf gegen den Terrorismus; zukünftige Demokratie und Wohlstand für das Volk Afghanistans.

Unsere Verunftargumente kamen im vorigen Afghanistankrieg selbst in der damals offiziell neutralen schwedischen Öffentlichkeit nicht an (guckt doch mal nach, wer an der zivilisatorischen Mission des Warschauer Pakts in Afghanistan beteiligt war!). In der Sowjetunion waren unsere Argumente sogar strafbar.

Deshalb dauerte es 15.000 Leichensäcke für tote sowjetische Besatzer, bis die moralischen und vernünftigen Argumente gegen die Besatzung politisch zu wirken begannen.

Dieses alles war bis ins Detail genauso wie damals, als die Briten im neunzehnten Jahrhundert zwei Mal versuchten, Afghanistan militärisch zu erobern. Es gab einen gewissen begrenzten politischen Widerstand. Aber selbst die politischen Argumente gegen den Krieg im Unterhaus und in der offiziellen Presse waren eingebettet in allgemeine imperiale Texte über Zivilisation und die Aufgaben des weißen Mannes. Diejenigen, die damals in Großbritannien prinzipiell gegen das Gerede von der zivilisatorischen Aufgabe argumentierten und für das Recht der ungebildeten, zurückgebliebenen und grausamen Eingeborenen auch dann Stellung bezogen, wenn diese im Widerspruch zu den Kriegsgesetzen der Zivilisierten Heim und Herd mit allen Mitteln verteidigten („pro aris et foci), war eine kleine Minorität von alten Chartisten und einer Handvoll recht isolierter politischer Emigranten wie ein Karl Marx.

Entscheidend dafür, dass die Politiker und Militärs des britischen Imperiums doch gezwungen waren, ihre Pläne aufzugeben, waren schließlich die militärische Niederlage und all zu viele tote Soldaten.

Von den britischen Truppen, die am 6. Januar 1842 von Kabul aus heimwärts nach Indien zogen, kam, wie die Afghanen mir lachend zu sagen pflegten, nur ein Mann, auch er halbtot, Dr. William Brydon, am 13. Januar in der britischen Garnison in Jalalabad an. Als er nach den übrigen 16.500 in der Armee gefragt wurde, sagte er:

"Ich bin die Armee."

Diese Antwort wurde in der ganzen Welt gehört.

Ebenso in der Schlacht bei Maiwand in der Nähe von Kandahar am 27. Juli 1880 während des zweiten Afghanistan-Krieges. Da erlitten die Briten eine vollständige Niederlage. Sie flohen. Nach ihren eigenen frisierten offiziellen Angaben fielen 21 Offiziere und 948 Soldaten. Das war das erste Mal in moderner Zeit, dass eine reguläre britische Truppe in einem Kolonialkrieg eine militärische Niederlage gegen einen aus ihrer Sicht zusammengewürfelten Haufen Eingeborener erlitt. Auch diese Nachricht ging um die Welt.

Genauso die, dass die tierfreundliche Königin Viktoria in einer hochoffiziellen Zeremonie dem bei Maiwand so mutigen Regimentshund Bobbie „The Afghan War Medal“ gab. (Übrigens war es bei Maiwand, wo Dr. Watson den Schaden erlitt, der ihn veranlasste, Indien zu verlassen und in der Baker Street 221 B zu landen.)

Warum schreibe ich dies alles? Ja, natürlich ist es notwendig, vernünftig gegen die neue schwedische Kriegspolitik von Tolgfors [Schwedischer Verteidigungsminister von der konservativen Partei Moderaterna, Anm. d. Übersetzerin] zu argumentieren, die mit hundertsiebzig Jahren vorsichtiger sogenannter Bernadottepolitik gebrochen hat (merke, dass der äußerst konservative Gustav V. mit einer Königin, die deutscher Ehrenoberst war, sich im Jahre 1914 nicht von deutschen und österreichischen Gesandten zur mutigen Beteiligung überreden ließ). Ja, es ist notwendig, der herrschenden öffentlichen Meinung zu trotzen, indem man darauf hinweist, dass in der derzeitigen politischen Lage nur solche ISAF-Soldaten, darunter auch schwedische, die in Leichensäcken nach Haus transportiert und dann unter militärischen Ehrenbezeugungen (mit inspirierenden Ministerreden) begraben werden, den Afghanen Frieden bringen können. Die Friedensparole, die 1943 während des deutschen Krieges im Osten und 1985 während des sowjetischen Krieges in Afghanistan galt, "Tod den Besatzern!", gilt auch heute. Wie sie 1842 und 1880 gegolten hat! Dieses muss so laut gesagt werden, dass auch die sich an die Großmächte Anpassenden es hören. Das ist natürlich ebenso unzweckmäßig und schädlich für die eigene Karriere, das laut in Schweden (oder den Vereinigten Staaten) zu sagen, wie es das in London 1842 oder 1880 war. Vielleicht etwas weniger gefährlich, als wenn es in Berlin im Frühjahr 1943 oder in Moskau 1985 gesagt worden wäre.

Aber wie große Trauer die Opfer bei oder nach Stalingrad oder El Alamein in deutschen Familien auch bereiteten, wir auf unserer Seite damals in dem Krieg wussten , dass die Trauer der Familien zu unser aller Nutzen und Freude war!

Denen, die sich jetzt freiwillig in den Dienst bei der ISAF in Afghanistan begeben, muss aber klar gesagt werden, dass es sich bei den kommenden schwedischen Todesopfern nicht um dorthin kommandierte Wehrpflichtige handelt, wie die vor sechzig Jahren im Osten und in Nordafrika gefallenen deutschen Soldaten, sondern um erwachsene Mitbürger, die bewusst und freiwillig, wenn auch gegen Bezahlung, beschlossen haben, für die imperiale Politik von EU, NATO und Vereinigten Staaten in den Krieg zu ziehen.

* Jan Myrdal, Schriftsteller und Verfasser, wohnhaft in Skinnskatteberg, Schweden.
Der Originalartikel wurde publiziert auf www.fib.se am 21.08.2009.
Übersetzung: Renate Kirstein


Siehe auch:
"Unbehagliche Lust an Militäroperationen"
In Schweden wenden sich ehemalige Spitzenpolitiker gegen den Afghanistan-Kurs der Regierung (13. März 2007)


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