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Putin sprengt "Nabucco"

Ankara gestattet Moskau Gasleitungsbau durch Hoheitsgewässer. Das russisch-italienische Southstream-Konsortium läßt so Konkurrenz aus Westeuropa hinter sich

Von Tomasz Konicz *

Es wird eng für »Nabucco«. Während seiner Türkei-Visite ist es dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin am Donnerstag gelungen, Ankara zur Kooperation bei der von Rußland geplanten Gasleitung namens Southstream zu bewegen. Die Türkei stimmte der Verlegung der Pipeline durch ihre Hoheitsgewässer zu. Southstream soll von der russischen Schwarzmeerküste ausgehend Erdgas unter Wasser bis nach Bulgarien befördern.

Putin brachte auch ein schönes Präsent mit: Im Rahmen des Abkommens verpflichtete sich die russische Seite, der Türkei sechs Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich zu liefern. Überdies sicherte er der Türkei die Unterstützung Rußlands beim geplanten Bau einer Ölpipeline zwischen der Schwarzmeerstadt Samsun und dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu. Obendrauf legte Putin bei seinen Gesprächen mit seinem Amtskollegen Tayyip Erdogan das Angebot, künftig beim Bau von Atomkraftwerken in der Türkei zu kooperieren. Der Staat am Bosporus will bis 2020 vier Reaktorblöcke errichten, und Rußlands Atomindustrie hat durchaus Interesse an dem Auftrag im Volumen von etwa 15,5 Milliarden Euro.

Klassischer Coup

Wladimir Putin gelang mit dem Abkommen ein geopolitischer Coup. Der Kreml kommt damit der Realisierung eines seiner wichtigsten energiepolitischen Vorhabens einen entscheidenden Schritt näher. Die von Gasprom in Kooperation mit dem italienischen Energieversorger ENI geplante Southstream-Pipeline soll laut russischer Nachrichtenagentur RIA-Nowosti bis 2013 gebaut werden. Am 20. Mai erklärten der russische Gasmonopolist und ENI, die jährliche Durchleitungskapazität dieses Projekts von 30 auf 63 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich mehr als verdoppeln zu wollen. Gut 25 Milliarden Euro soll das kosten.

Moskau verfolgt mit diesem Projekt gleich mehrere Ziele: Durch Southstream können krisengeschüttelte Transitländer - hier insbesondere die Ukraine - umgangen werden. Diese befanden sich bislang bei energiepolitischen Auseinandersetzung mit dem Kreml in einer günstigen Verhandlungsposition, zumal sie die politische Unterstützung der EU hatten. Im vergangenen Januar brach in Folge des russisch-ukrainischen Gasstreites in weiten Teilen Südosteuropas die Versorgung zusammen. Anfang August gewährte die EU der klammen Ukraine milliardenschwere Kredite zur Modernisierung ihres maroden Energiesektors.

Putin ist es gelungen, mit Italien den zweitgrößten europäischen Gaskunden Rußlands ins Boot zu holen. Damit durchkreuzte er das Bestreben Brüssels, eine einheitliche europäische (und womöglich gegen Rußland gerichtete) Energiepolitik zu etablieren.

Vor allem dürften das Abkommen beim westeuropäischen Nabucco-Konsortium für erhebliche Verstimmungen sorgen, einem Pipelineprojekt, das mit seiner Leitung zentralasiatisches und mittelöstliches Erdgas unter Umgehung Rußlands nach Europa pumpen soll. Erst Mitte Juli wurde dieses Projekt offiziell in Ankara in Angriff genommen.

Rohstoffmangel

Bis zu 31 Milliarden Kubikmeter Gas soll Nabucco ab 2014 über Aserbaidschan, Georgien (eventuell den Iran) und die Türkei bis nach Westeuropa befördern. Der Bau der Pipeline ist für 2011 anvisiert. Doch nun stellt sich den Europäern wohl die Frage, wo das ganze Erdgas herkommen soll, das Nabucco zur Kapazitätsauslastung und Wirtschaftlichkeit braucht. Insbesondere der Ende Juni zwischen Aserbaidschan und Rußland geschlossene Liefervertrag über bis zu 1,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas läßt die Möglichkeiten des Nabucco-Konsortium, die Leitung auch nur annährend auszulasten, schwinden.

Neben Putin sieht sich auch der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi als Profiteur der Vereinbarung. Berlusconi habe sich über zwei Stunden an den Konsultationen zwischen Erdogan und Putin beteiligt, meldeten russische Medien. Auch die geplante Ölpipeline Samsun-Ceyan wird von der italienischen Regierung unterstützt - auch hier ist ENI federführend beteiligt. Diese Leitung werde den »Zugang zu den Ölfeldern im kaspischen Raum und ihren Transport in den Mittelmeerraum erleichtern«, hieß es in einer Pressemitteilung des Amtes des italienischen Ministerpräsidenten.

Größter Gewinner in diesem Pipelinepoker ist die Türkei. Sie ist zum Schlüsselland beim Energietransport in die EU schlechthin geworden und profitiert von beiden sich bekämpfenden Projekten. Und sie ist nach Deutschland und Italien der drittgrößte Gaskunde Rußlands.

* Aus: junge Welt, 7. August 2009


Volles Rohr: Putin in der Türkei

Von Andrej Fedjaschin **

Gaspipelines sind derzeit eine komplizierte Angelegenheit, bei der man nicht weiß, wo die Rohre beginnen und Politik endet.

Der eintägige Ankara-Besuch von Regierungschef Wladimir Putin kam einem Drahtseilakt im Pipeline-Poker ähnlich. Gleichzeitig wurde ein Abkommen über Atom-Kooperation unterzeichnet: Russland wird jetzt für die Türkei sein erstes Atomkraftwerk bei einem Mittelmeerstädtchen bauen.

Nach den Ausmaßen und der Ausrichtung aller unterzeichneten Dokumente zu urteilen, wird die Türkei im Süden bald zu einem der größten Drehscheiben für Energielieferungen zwischen Russland und der Europäischen Union aufsteigen. Im Norden haben wir also Nord Stream und Deutschland, im Süden die Türkei und South Stream. Es handelt sich sozusagen um zwei Freundschaften: eine nordische und eine ottomanische.

Die Türkei ist schon seit langem ein Schwergewicht in der Region. Ihr zusätzliches Gewicht in der Gaswirtschaft wird die Rolle der Türkei noch bestärken. In den letzten Jahren fordert Ankara Moskau immer energischer auf, an dem von ihr vorgeschlagenen Diskussionsplattform zur Lösung der Kaukasus-Probleme teilzunehmen.

Der "Kaukasus-Krieg" brachte die Türkei in große Verlegenheit, weil sie sowohl zu Georgien als auch zu Russland enge Wirtschaftsbeziehungen pflegt. Als Nato-Staat unterstützte die Türkei verdeckt Georgien, wo sie Militärausbilder hat und Ausrüstung hinschickte.

Zugleich möchte die Türkei die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland aufrechterhalten. Ganz besonders in derzeit schwierigen Wirtschaftszeiten. Moskau liefert der Türkei nämlich 64 Prozent des von ihr benötigten Gases und könnte noch mehr liefern.

Man muss in Betracht ziehen, dass alljährlich über eine Million Russen am türkischen Mittelmeer Urlaub machen und dort über 1,42 Milliarden Dollar ausgeben.

Als außenwirtschaftlicher Partner steht Moskau für die Türkei überhaupt an erster Stelle: Im vergangenen Jahr betrug der Handelsumsatz mit Russland 38 Milliarden Dollar. In den nächsten vier Jahren hoffen die Türken, ihn auf 100 Milliarden Dollar zu steigern. So etwas darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Wenn Ankara sich als regionale Plattform für die Regelung von Russlands "kaukasischen Problemen" anbietet, versteht es natürlich sehr wohl, dass der Kreml mit dem georgischen Staatschef Michail Saakaschwili nicht sprechen wird.

Doch beim Anbieten ihrer Vermittlerdienste hoffen die Türken sehr darauf, von Russland in einem Bereich Hilfe zu bekommen, ohne welche sie nicht auskommen würden.

Die Rede ist von der Lösung des Karabach-Konflikts und von der Normalisierung der Beziehungen zu Armenien. Das ruft jedoch Aserbaidschan auf den Plan. Die Türkei schlägt vor, auch dieses "blutsverwandte" Land an den Kaukasus-Gesprächen zu beteiligen.

Ohne eine Regelung der Karabach-Frage aber ist für die Türkei eine Normalisierung der Beziehungen zu Armenien unmöglich.

Dazu drängen sie auch die EU, genauer die Hoffnung auf einen EU-Beitritt (Brüssel fordert dazu eine Normalisierung mit Armenien) und die eigenen wirtschaftlichen Interessen in der Region.

Doch auf dem Wege zu einer türkisch-armenischen Annäherung steht das verwandte Aserbaidschan, das seine Position schon längst formuliert hat: Ohne die Lösung des Karabach-Konflikts werde es die türkischen diplomatischen Beziehungen zu Armenien nicht begrüßen.

Nur Russland allein kann Armenien zu einer größeren Nachgiebigkeit in puncto Bergkarabach animieren, was alle sehr wohl verstehen. Allerdings wird Russland Armenien zur völligen Aufgabe der Interessen in Bergkarabach natürlich nicht motivieren, denn das setzt den abermaligen Anschluss des Gebiets an Aserbaidschan, wenn auch mit weitgehenden Autonomierechten, voraus. Das will Russland nach der Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien erst recht nicht. Notgedrungenermaßen wird unsere Freundschaft also vorläufig nur durch Gas, Öl und friedliches Atom gefestigt werden.

South Stream wird die Abhängigkeit Russlands und der Gasabnehmer von den Transitländern vermindern, darunter von der Ukraine, weil die Türkei formal kein Transitland sein wird. Über das Rohr sollen ab 2013 alles in allem 63 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich gepumpt werden.

Die Investitionen in das Projekt werden insgesamt auf 25 Milliarden Euro geschätzt. Die Betreiber des Projekts sind zu gleichen Teilen der russische Energiekonzern Gazprom und der italienische Versorger Eni. South Stream wird jetzt in Ankara eigentlich gedreiteilt: Zur feierlichen Unterzeichnung traf extra Italiens Premier Silvio Berlusconi ein.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 7. August 2009; http://de.rian.ru


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