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Anklage in Den Haag

Lehren aus dem Fall des Bradley Manning: Kriegsverbrechen zu verbergen, kann in keinem Fall Sinn und Aufgabe der Geheimhaltung sein. Die Verantwortlichen gehören vor Gericht

Von Norman Paech *

Der US-Gefreite Bradley Manning ist am 21. August für die »Weitergabe von Staatsgeheimnissen« an die Enthüllungsplattform Wikileaks von einem Militärgericht zu 35 Jahren Haft verurteilt worden. Zu den publik gemachten Staatsgeheimnissen gehörte ein Video, das ein Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak dokumentiert. Es hatte international für Furore gesorgt. In Deutschland war 2011 der Whistleblower-Preis unter anderem an die Person vergeben worden, die das »Collateral Murder«-Video der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Die Preisübergabe an den Whistleblower sollte erfolgen, sobald dessen Identität feststand, scheiterte jedoch dann an der Inhaftierung des US-Soldaten. Bradley Manning ist 2011, 2012 und 2013 für den Friedensnobelpreis nominiert worden. An seinen Oberfehlshaber, US-Präsident Barack Obama, 2009 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, will er direkt ein Gnadengesuch richten. Der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech fragt, »wer ist hier der Gesetzesbrecher, der Kriminelle, und wer der Gesetzeshüter, der um die Einhaltung der Gesetze Besorgte?«

Kurz vor seiner Verurteilung entschuldigte sich Bradley Manning für die Weitergabe der geheimen Dokumente. Er habe niemanden schädigen wollen. »Als ich meine Entscheidung getroffen habe, dachte ich, ich helfe Menschen, nicht, daß ich ihnen schade.« Nun müsse er den Preis dafür zahlen. Und die Verteidigung assistierte, Manning sei ein psychisch labiler Mensch, der irrtümlich geglaubt habe, mit den Enthüllungen die Welt verbessern zu können. Von diesem Irrtum hat ihn seine Behandlung im Gefängnis und in der Presse wahrscheinlich gründlich geheilt. Es mag sein, daß diese clevere Verbeugung »pater peccavi« ihm einige Jahre Gefängnis erspart haben. Doch das hätte er sich vorher alles anders überlegen können. Hätte er sich an den Folterungen in Abu Ghraib und Bagram oder den gezielten Exekutionen, die er aufgedeckt hat, beteiligt, wäre er heute vielleicht bereits Colonel, mit der einen oder anderen Medaille ausgezeichnet, und hätte nicht dreieinhalb Jahre in Untersuchungshaft zu menschenunwürdigen Bedingungen gesessen. Selten genug sind Urteile, wie gegen Unteroffizier Robert Bates, der gestanden hatte, 16 Afghanen in ihren Wohnungen abgeschlachtet zu haben. Er wurde jetzt zu lebenslanger Haft verurteilt. Michael Behenna, der einen unbewaffneten Iraker während eines Verhörs tötete, bekam 25 Jahre Gefängnis, die auf 15 Jahre reduziert wurden. Und der Korporal der Reserve Charles Graner, der für den Mißbrauch von Gefangenen in Abu Ghraib zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde nach sechseinhalb Jahren entlassen. Wenige Urteile angesichts der Masse der zivilen Opfer.

Aber es geht nicht um das Strafmaß, welches viele wie der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum oder Die Welt okay finden. Manning sei kein Whistleblower, sondern ein Gesetzesbrecher, habe schließlich gegen die Gesetze verstoßen und könne nach Verbüßung mit 54 Jahren immer noch ein vernünftiges Leben beginnen. Es geht um das Rechtsverständnis dieses Verfahrens und die politische Kultur und Moralität dieser Gesetze sowie des »Law and order«-Durchgriffs, der mit der Sicherheit des Staates und der Schutzverpflichtung für die Bürger ummantelt wird. Wer ist hier der Gesetzesbrecher, der Kriminelle, und wer der Gesetzeshüter, der um die Einhaltung der Gesetze Besorgte?

Angriffskrieg

Seit Juli 2002, als das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes in Kraft trat, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen strafbar, ab 2017 wird das auch für das Verbrechen der Aggression, d.h. des Angriffskrieges sein. George W. Bush, Donald Rumsfeld, Richard Cheney und Co. werden nicht mehr wegen des Überfalls auf den Irak zur Verantwortung gezogen werden können, weil im Jahre 2003 der Angriffskrieg zwar völkerrechtswidrig aber noch nicht strafbar war. Aber wegen ihrer wiederholten Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und zivile Objekte, der Folter, der »Zerstörung von Eigentum in großem Ausmaß« usw. im Irak und in Afghanistan wären sie sowie die Verantwortlichen der Obama-Administration wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzuklagen und zu verurteilen.

Die Motive Mannings für seine Veröffentlichungen waren, entgegen aller Psychologisierung seiner Persönlichkeit, klar, eindeutig und vollkommen nachvollziehbar. Als sein Verteidiger David Coombs nach dem Urteil ankündigte, bei Obama ein Gnadengesuch einzureichen, verlas er eine Stellungnahme von Bradley Manning, in der es heißt: »Die Entscheidungen, die ich 2010 getroffen habe, geschahen aus Sorge für mein Land und die Welt, in der ich lebe. Seit den tragischen Ereignissen von 9/11 befindet sich unser Land im Krieg. Wir befinden uns mit einem Feind im Krieg, der sich nicht auf einem traditionellen Schlachtfeld bewegt. Deshalb hatten auch wir die Methoden unseres Kampfes gegen die Gefahren für uns und unser Leben zu ändern. Anfangs war ich mit diesen Methoden einverstanden und meldete mich freiwillig, meinem Land zu helfen, sich zu verteidigen. Erst als ich im Irak die täglichen geheimen Militärreports las, begann ich, die Moral unseres Tuns zu hinterfragen. Zu dieser Zeit realisierte ich, daß wir in unseren Bemühungen, diesen Gefahren zu begegnen, unsere Menschlichkeit vergessen haben. Wir haben uns bewußt dafür entschieden, menschliches Leben zu entwerten, im Irak und in Afghanistan. Mit unserer Entscheidung darüber, wen wir als Feind ansehen wollten, töteten wir manchmal unschuldige Zivilisten. Immer wenn wir unschuldige Zivilisten töteten, beschlossen wir, anstatt die Verantwortung für unsere Taten zu akzeptieren, uns hinter dem Schleier der nationalen Sicherheit zu verstecken und erklärten die Informationen für geheim, um jede öffentliche Rechenschaft zu vermeiden.«

Illegales Handeln

Wie jeder Verbrecher, so haben auch die Bush- und Obama-Administration versucht, ihre Taten zu vertuschen. Sie haben das Netz der Geheimhaltung, welches jede Regierung mit Hilfe des Gesetzgebers über Regierungshandeln breitet, mit immer feineren Maschen versehen und durch Strafvorschriften abgesichert. Jede Gesellschaft mag darüber selbst entscheiden, wie sinnvoll, notwendig und akzeptabel das für normales und legales Regierungshandeln ist. Darunter jedoch illegales Handeln, gar schwere Menschlichkeits- und Kriegsverbrechen zu verstecken, kann in keinem Fall Sinn und Aufgabe der Geheimhaltung sein. Es ist simpel Strafvereitelung und nach den meisten Strafgesetzbüchern strafbar. Es ist der US-Regierung überlassen, ohne parlamentarische Kontrolle darüber zu entscheiden, was sie unter das Netz der Geheimhaltung steckt. Und es fehlt offensichtlich das Bewußtsein dafür, daß dies nur legales Handeln nicht aber Gesetzesverstöße und Verbrechen sein können. Wird dennoch illegales Handeln versteckt, ist das ein weiteres Vergehen. Auf jeden Fall dürfte die Aufdeckung dieses Vergehens nicht strafbar sein. Der Staat bezahlt seine Beamten, die mit der Aufdeckung gesellschaftlicher Straftaten beschäftigt sind, stoßen sie auf staatliche Vergehen und bringen sie ans Licht, wirft er sie ins Gefängnis – offensichtlich ein Relikt aus vorkonstitutioneller Zeit.

Daß Bradley Manning viel eher den Friedensnobelpreis verdient hätte als sein Kriegsherr Obama, ist Schmonzes. Sein Mut und sein Fall legen die verkommene Rechtsmoral auch demokratischer Rechtssysteme offen. Es ist nur die Fortsetzung der Weigerung der US-Administration, die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofes, dessen Einrichtung sie einst intensiv mit betrieben hatten, für ihre Staatsbürger anzuerkennen. Während sie zahlreiche Staaten vertraglich verpflichteten, gegen ihre Pflichten aus dem Statut des Gerichtshofes zu verstoßen, und keinen einer Straftat verdächtigen US-Bürger nach Den Haag auszuliefern, drängen sie die Staatsanwaltschaft, vorwiegend Täter aus Afrika vor den Gerichtshof zu bringen. Mannings Opfergang weist also weit über das hinaus, was er sich zum Ziel gesetzt hatte, die Enthumanisierung der Kriegsführung zu stoppen. Sein Prozeß müßte den Anstoß dazu geben, die illegale Geheimhaltungspraxis und die vordemokratischen Straffolgen zur Diskussion stellen. Aber auch dafür könnte die Erklärung seines Verteidigers zutreffen, daß Bradley Manning »irrtümlich geglaubt habe, mit den Enthüllungen die Welt verbessern zu können«.

* Aus: junge welt, Freitag, 30.08.2013


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