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Ukraine im Zwiespalt

Ökonomische Offensive des Westens läßt EU zum wichtigsten Handelspartner Kiews aufsteigen. Abhängigkeit von Energiegroßmacht Rußland bleibt bestehen

Von Tomasz Konicz *

Die Ukraine orientiert sich nach Westen. Zumindest scheint die neue Regierung unter Julia Timoschenko, erst kürzlich mühsam in den Sattel gelangt, ein wichtiges Indiz dafür zu sein. Ökonomisch ist die Annäherung an den Westen längst voll im Gange. Selbst den offiziellen Verlautbarungen der EU-Kommission zum Stand der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit der Ukraine ist ein verhaltener Triumph anzumerken. So habe die »erweiterte EU« bereits Rußland als den »führenden kommerziellen Partner« Kiews abgelöst, hieß es im offiziellen Report der Kommission. Der bilaterale Handel habe zudem 2006 ein Volumen von umgerechnet 29,6 Milliarden US-Dollar erreicht (26,6 Milliarden Euro; das Statistische Amt der Ukraine rechnet auf Dollarbasis).

Absatzmarkt für EU

Die neuesten, vom ukrainischen Statistikamt veröffentlichten Zahlen, lassen eine hohe Dynamik in der westlichen Handels- und Investitionstätigkeit erkennen. Allein in dem Zeitraum vom Januar bis Oktober 2007 betrug das Handelsvolumen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union nahezu 29 Milliarden US-Dollar. Besonders stürmisch entwickelte sich der EU-Export in den osteuropäischen Staat, der im besagten Zeitraum um 37,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr zunahm. Allerdings ist Kiew dabei, sich in zunehmende Abhängigkeit vom Westen zu begeben. Die ukrainische Volkswirtschaft weist bereits jetzt ein Handelsdefizit von annähernd 5,5 Milliarden US-Dollar gegenüber der westlichen Wirtschaftsgemeinschaft auf, denn die ukrainischen Exporte in die EU stiegen mit 17 Prozent weitaus schwächer an als die Importe aus Deutschland, Frankreich, Österreich oder Polen.

Im Verhältnis zum früheren Haupthandelspartner Rußland belief sich das ausgetauschte Warenvolumen im besagten Zeitraum auf umgerechnet 24 Milliarden US-Dollar. Mit dem gesamten GUS-Raum, den Staaten der früheren Sowjetunion, wurden seitens der Ukraine Güter im Wert von 35 Milliarden US-Dollar gehandelt. Insgesamt kann man in der Handelsstruktur der Ukraine derzeit von einer Parität zwischen dem »Westen« und dem »Osten« sprechen. In den kommerziellen Beziehungen Kiews gegenüber Rußland und dem GUS-Raum ist eine Art umgekehrter Dynamik festzustellen: Hier wachsen derzeit die ukrainischen Exporte sehr viel schneller als die Importe aus diesen Staaten. Besonders der russische Markt nahm zwischen Januar und Oktober 2007 um die 50 Prozent mehr ukrainische Waren auf als im Vorjahr. Rußlands Ausfuhren ins Nachbarland stiegen hingegen nur um 20 Prozent. Dennoch weist die Ukraine auch gegenüber dem großen Nachbarn und den zentralasiatischen Staaten ein hohes Handelsdefizit auf. Denn diese Staaten fungieren als Kiews Energielieferanten, und Energieträger, ob Gas oder Öl, haben sich in den zurückliegenden Jahren drastisch verteuert.

Noch deutlicher wird das verstärkte westliche Engagement bei Betrachtung des Kapitalexports. Interessanterweise ist ein qualitativer Sprung bei den ausländischen Direktinvestitionen (FDI) festzustellen, der vom Jahr der sogenannten orangen Revolution 2004 bis 2005 erfolgte. In diesem Zeitraum steigerte der Westen seine »Investi­tionstätigkeit« in der Ukraine um etwa 43 Prozent auf über neun Milliarden US-Dollar. Seitdem hält dieses stürmische Wachstum an. Anfang 2007 belief sich das Volumen des ausländischen Geldes, das zwischen Lviv (Lwow) und Donezk »angelegt« wurde, auf über 21 Milliarden US-Dollar.

Von dieser Investitionssumme entfielen 16,2 Milliarden US-Dollar, also gut drei Viertel aller FDI, auf die EU-Staaten. Und diese Investitionsoffensive geht weiter: Mit Stichtag 1. Juli 2007 zeichnete der EU-Raum für nahezu 77 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen von inzwischen 24,1 Milliarden US-Dollar verantwortlich. Rußlands Investitionen in der Ukraine nehmen sich mit einem Wert von umgerechnet 1,34 Milliarden Dollar bis zum 1. Oktober 2007 geradezu zwergenhaft aus. Und selbstverständlich führen deutsche Unternehmen und Konzerne mit einem Investitionsvolumen von etwa 5,7 Milliarden US-Dollar souverän beim Kapitalexport in diesen östlichen Vorhof der EU. Aber auch österreichisches, niederländisches und britisches Kapital engagierte sich stark. Dabei kauften sich die westlichen Investoren hauptsächlich in die verarbeitende Industrie (25 Prozent aller FDI), den Finanzsektor (15 Prozent) und in den Einzelhandel (10 Prozent) ein.

Moskau am Gashahn

Dennoch bleibt Moskau weiter ein beachtenswerter ökonomischer Faktor für die Ukraine. Rußlands ökonomischer und politischer Einfluß fußt auf seiner Position als Energiegroßmacht, als Quelle und Transitraum von Energieträgern. Selbst die um antirussische Polemik nie verlegene Timoschenko nahm die diesjährige Erhöhung der Gaspreise von 130 auf 179,5 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter durch den russischen Staatsmonopolisten Gasprom ohne größeren Widerstand hin. Statt dessen kündigte die neue ukrainische Premierministerin laut RIA-Novosti an, mit »Rußland Verhandlungen zur Situation auf dem Gasmarkt der Ukraine« aufzunehmen. Es wird hierbei wohl um den staatlichen Kiewer Energieversorger Naftogas Ukrainy gehen. An dem soll russisches Kapital beteiligt sein, und das Unternehmen soll laut Meldungen dieser Woche kurz vor der Pleite stehen. Beobachter sehen hinter dem dubiosen Gerangel allerdings eher einen Machtkampf um die Infrastruktur für den Energietransport.

Die EU-Kolonisatoren können sich hingegen zurücklehnen und die ökonomischen Früchte jenes »Aktionsplanes« ernten, der gleich nach dem Amtsantritt der »Revolutionäre« Anfang 2005 im Rahmen eines Partnerschafts- und Kooperationsabkommens verabschiedet worden war. Ohne von Brüssel eine eindeutige Mitgliedschaftsperspektive zu erhalten, verpflichtete sich Kiew auf eine Konvergenz des ukrainischen Rechtssystems mit dem Recht der EU, auf die Bildung einer EU-kompatiblen Marktwirtschaft und eine stabile politische Entwicklung hinzuarbeiten. Im Gegenzug wurde der bilaterale Handel zwischen der EU und der Ukraine liberalisiert, und es wird die Errichtung einer Freihandelszone in Erwägung gezogen – unter der Bedingung, daß die Ukraine der Welthandelsorganisation WTO beitreten wird.

* Aus: junge Welt, 5. Januar 2008


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