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Brüssel und der Koalitionskrach in Kiew

Der EU-Ukraine-Kooperationsrat erörtert heute die beschleunigte Westintegration des Landes

Von Manfred Schünemann *

Am Dienstag (9. September) tagt in Evian bei Paris der EU-Ukraine-Kooperationsrat. Vor dem Hintergrund des Georgien-Konflikts ist geplant, Kiew demonstrativ eine beschleunigte Westintegration anzubieten. Dazu soll der politische Rahmen für Verhandlungen über eine vertiefte Kooperation, einschließlich eines Freihandelsabkommens, vereinbart werden.

Die innenpolitischen Realitäten in der Ukraine dürften der Umsetzung der weitreichenden EU-Pläne erneut Grenzen setzen. Unmittelbar vor dem heutigen Treffen kam es in der letzten Woche zum offiziellen Bruch der »Orangefarbenen Regierungskoalition«. Nach einer Parlamentssitzung erklärte die Fraktion von Präsident Viktor Juschtschenko (Unsere Ukraine - Selbstverteidigung des Volkes) das Ende der Koalition mit dem Wahlblock von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (BJUT). In Fernseherklärungen gaben sich Präsident und Ministerpräsidentin gegenseitig die Schuld am Koalitionsbruch und bezichtigten den jeweils anderen des »Verrats nationaler Interessen« und der »Vorbereitung eines Staatsstreichs«.

Formaler Anlass für den seit Langem - vor allem vom Präsidentenlager - geplanten Bruch der Regierungskoalition war das Zusammengehen der BJUT-Fraktion mit der Partei der Regionen (PdR) und den Kommunisten (KPU) bei Abstimmungen in der Werchowna Rada. Dabei ging es um Gesetze zur weiteren Einschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten entsprechend der Verfassungsreform von 2006. Außerdem verhinderte diese »neue« Parlamentsmehrheit die Verabschiedung einer Resolution zum Georgien-Konflikt, in der Russland einseitig verurteilt und die Position von Präsident Juschtschenko gebilligt werden sollte.

Die eigentlichen Ursachen für die Zuspitzung der andauernden Staatskrise liegen tiefer und überschatten schon seit Jahren die Gesellschaftsentwicklung in der Ukraine. Im Kern geht es immer wieder um die tiefe Zerrissenheit in Grundfragen der Entwicklung und zum Platz der Ukraine zwischen Russland und dem Westen. Das Unvermögen der politischen Kräfte, dazu einen tragfähigen nationalen Konsens herbeizuführen, brachte das Land immer wieder an den Rand von Staatskrisen. Verstärkt wird dieses Unvermögen durch das unverhohlene Machtstreben der wichtigsten politischen Akteure und der hinter ihnen stehenden Kreise im In- und Ausland.

Die weitere Entwicklung ist offen. Das ursprünglich vom Juschtschenko-Block mit dem Koalitionsbruch verfolgte Ziel, den Weg für ein Zusammengehen mit der PdR zu öffnen, scheint nach dem unabgestimmten Agieren Juschtschenkos im Georgien-Konflikt kaum noch realistisch. Wie Meinungsumfragen und die Protestaktionen gegen US-amerikanische Schiffe in Sewastopol zeigen, lehnt die Wählerschaft der PdR den Konfrontationskurs gegen Russland und die Forcierung eines NATO-Beitritts entschieden ab. Daher würde ein Zusammengehen mit dem Juschtschenko-Block die Wahlchancen der PdR und ihres Chefs Viktor Janukowitsch erheblich schwächen.

Eine dauerhafte Koalition zwischen dem Block Julia Timoschenko und der PdR scheint ebenfalls auf Grund der prinzipiellen Gegensätze kaum möglich. Sie würde zur Zerreißprobe für die Partei der Ministerpräsidentin werden. Allerdings ist eine pragmatische Zusammenarbeit bis zu den regulären Präsidentenwahlen Ende 2009, Anfang 2010 oder bis zu vorgezogenen Parlaments- und Präsidentenwahlen durchaus vorstellbar. Julia Timoschenko hat in ihrer Erklärung zum Koalitionsbruch zumindest Bereitschaft zu einem solchen Deal signalisiert und »Gespräche mit allen Parteien« angekündigt. Fraglich bleibt aber, ob die PdR und Viktor Janukowitsch auf den immer wieder geforderten Rücktritt der Ministerpräsidentin verzichten werden.

Die politische Situation in der Ukraine wird für Wochen und Monate außerordentlich labil bleiben. Das wird die angestrebte engere Kooperation mit der EU gewiss nicht erleichtern. Obwohl dieser Kurs unter den wichtigsten politischen Kräften der Ukraine unstrittig ist, bleiben Legislative und Exekutive durch den Koalitionsbruch und den beginnenden Wahlkampf in der nächsten Zeit paralysiert. Das macht eines erneut sehr deutlich: Die Ukraine wird einen wesentlich längeren Zeitraum für die Lösung ihrer Probleme benötigen, als vom Westen erhofft. Bestrebungen, diesen Prozess durch einen raschen NATO-Beitritt zu beschleunigen - wie im Zusammenhang mit dem Georgien-Konflikt von politischen Kreisen in den USA und der EU propagiert -, sind kontraproduktiv. Sie führen zu einer noch tieferen Spaltung der ukrainischen Gesellschaft und gefährden auf Dauer die innere Stabilität des Landes.

* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2008

Letzte Meldung vom EU-Ukraine-Gipfel

Europäische Union und Ukraine vertiefen Zusammenarbeit

Mit einem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine will die EU einer Ausweitung des Russland-Georgien-Konflikts vorbeugen. Auf dem EU-Ukraine-Gipfel am Dienstag (9. September) in Paris seien die Verhandlungen für das Abkommen in eine neue Phase getreten, sagte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko auf einer Pressekonferenz mit dem französischen Staatschef und amtierenden EU-Ratspräsidenten Nicolas Sarkozy.

Sarkozy betonte, die Ukraine habe «eine europäische Bestimmung». Eine Vorentscheidung über eine von Kiew angestrebte EU-Mitgliedschaft wird durch das Abkommen, das laut Sarkozy im kommenden Jahr abgeschlossen werden könnte, aber nicht gefällt.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso trat dem Eindruck entgegen, die Annäherung an Kiew sei eine Provokation für Russland. «Wir brauchen keinen neuen Kalten Krieg in Europa, wir brauchen kaltes Blut», sagte er. «Genau dies ist der Weg der EU.»

Sarkozy hatte am Montag (8. Sept.) in Moskau von Russland die Zusicherung erhalten, die russischen Truppen in einem Monat aus Georgien abzuziehen. Am Dienstag erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow dessen ungeachtet, Moskaus Truppen würden «für lange Zeit» in Abchasien und Südossetien bleiben.

«Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass wir einen sensiblen Moment in der Geschichte der Region erleben», sagte Barroso. Sarkozy betonte, dass die EU «an friedlichen Beziehungen zu Russland interessiert» sei. Zugleich warnte er Moskau, seine Machtbestrebungen auf die Ukraine auszuweiten. Wie in Georgien gibt es auch in dem Nachbarstaat überwiegend russische Regionen mit separatistischen Bestrebungen. «Die Integrität der Ukraine ist nicht verhandelbar», sagte Sarkozy.

Dessen ungeachtet hat sich die EU bislang nicht auf eine einheitliche Position zu einer Mitgliedschaft der Ukraine geeinigt. Während Polen auf ein Beitrittsversprechen dringt, sind die meisten westeuropäischen EU-Staaten, darunter Deutschland, dagegen.

Das Assoziierungsabkommen zielt auf eine tiefere Zusammenarbeit in Sicherheitspolitik, Wirtschaft und Justiz. So ist etwa der Aufbau einer Freihandelszone und die Abschaffung der Visumspflicht vorgesehen.

Juschtschenko brachte seine Sorge zum Ausdruck, sein Land könnte nach Georgen als nächstes das Machtstreben Moskaus zu spüren zu bekommen. Es gibt zahlreiche Parallelen zu Georgien: Beide ehemaligen Sowjetrepubliken sind stark nach Westen orientiert, und in beiden Staaten wurden in Revolutionen langjährige Machthaber und Moskau-Verbündete gestürzt.

Die Bemühungen der EU um eine Entschärfung der Spannungen werden aber von der anhaltenden Regierungskrise in Kiew erschwert. Präsident Juschtschenko hat seiner Ministerpräsidentin Julia Timoschenko Hochverrat vorgeworfen. Er beschuldigt sie einer moskaufreundlichen Haltung, um sich die Unterstützung des Kreml für die nächste Präsidentschaftswahl zu sichern. Timoschenko nahm nicht an dem Gipfel in Paris teil.

Nachrichtenagentur AP, 9. September 2008



Weitere Meldungen

Militär will sich aus Regierungskrise in der Ukraine raushalten

KIEW, 09. September (RIA Novosti). Vor dem Hintergrund einer neuen Regierungskrise in der Ukraine versichert Verteidigungsminister Juri Jechanurow, dass sich die Armee nicht einmischen wird.

Eine gewaltsame Lösung der Krise käme nicht in Frage, die ukrainische Armee sei eine "verantwortungsvolle Institution", sagte Jechanurow am Dienstag in Kiew.

Nach dem Auseinanderbrechen der Regierungskoalition in der Ukraine, dem ein Konflikt zwischen Präsident Viktor Juschtschenko und Regierungschefin Julia Timoschenko vorausgegangen war, befürchten viele Experten, dass Juschtschenko, dessen Vollmachten davor stark zugunsten der Regierung eingeschränkt wurden, eine direkte Präsidialverwaltung oder einen Ausnahmezustand verhängen kann.

Timoschenko warnte am Montag Juschtschenko vor rigorosen Schritten. Andernfalls drohe dem Präsidenten eine Amtsenthebung, sagte sie.

Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 9. September 2008

Polit-Krimi in der Ukraine: Timoschenko sieht sich von Beschattern verfolgt

KIEW, 08. September (RIA Novosti). Nachdem Präsident Viktor Juschtschenko ihr Landesverrat vorgeworfen hat, behauptet die ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko, "schon seit Monaten" bespitzelt zu werden.

"Ich werde bereits seit Monaten beschattet", sagte Timoschenko am Montag in Kiew. Sie sei zum 11. September in die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft zum Verhör vorgeladen worden, sagte die Regierungschefin. Ihr liegen Angaben darüber vor, dass die Justizbehörde unter Druck gesetzt werde, damit sie ein Strafverfahren gegen sie einleite.

Das Präsidentenamt hatte vor rund drei Wochen Timoschenko vorgeworfen, geheime Absprachen mit dem Kreml zu treffen. Die Regierungschefin habe Russlands Vorgehen im Kaukasus nicht kritisiert, weil Moskau ihr bei der nächsten Präsidentenwahl Unterstützung versprochen habe. Somit habe Timoschenko die Interessen der ukrainischen Nation verraten, hieß es. Die Regierungschefin betonte dagegen, sie verzichte auf spektakuläre Erklärungen, weil sie das Blutbad im Kaukasus nicht zu einer PR-Kampagne instrumentalisieren wolle.

Nachdem der Block Julia Timoschenko Anfang der vergangenen Woche gemeinsam mit der oppositionellen Partei der Regionen für die Einschränkung der Präsidentenvollmachten gestimmt hatte, trat Juschtschenkos Partei "Unsere Ukraine" aus der Koalition mit dem Timoschenko-Block aus. Präsident Juschtschenko drohte mit einer Auflösung des Parlaments, sollte kurzfristig keine neue Koalition gebildet werden.

Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. September 2008

Ukraine: Timoschenko weist Juschtschenkos Vorwurf des Verrats zurück

LONDON, 08. September (RIA Novosti). Die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko hat die Vorwürfe von Präsident Viktor Juschtschenko wegen ihrer angeblich prorussischen Haltung strikt zurückgewiesen.

"Auf Moskau mit einem Finger zu zeigen, ist dumm. Nicht Moskaus Hand, sondern die jüngste Entscheidung des Präsidenten hat die Koalition zerfallen lassen", so Timoschenko in einem Interview mit der britischen Zeitung "Financial Times".

"Ich verstehe Juschtschenkos Hysterie sehr gut, denn seine Popularitätswerte sind von 52 auf fünf Prozent gefallen", hieß es.

Nachdem der Block Julia Timoschenko Anfang der vergangenen Woche gemeinsam mit der oppositionellen Partei der Regionen für die Einschränkung der Präsidentenvollmachten gestimmt hatte, warf Staatschef Juschtschenko der Ministerpräsidentin vor, die "orange Revolution" verraten zu haben, und verkündete den Ausstieg aus der Regierungskoalition.

Der Präsident will Timoschenko auch einer heimlichen Absprache mit Russland überführt haben: Weil der Kreml ihr angeblich Unterstützung bei der Präsidentschaftswahl verspreche, habe die Regierungschefin auf Kritik an Russlands Kaukasus-Einsatz verzichtet.

Zum Kaukasus-Konflikt sagte Timoschenko, sie unterstütze zwar die territoriale Integrität Georgiens, betrachte aber "ausgeglichene und harmonische" Beziehungen zu Russland auch als nötige Voraussetzung für eine erfolgreiche Partnerschaft mit dem Westen.

Die Regierungschefin sagte weiter, sie sei bereit gewesen, auf ihre Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl Ende 2009 zu Gunsten eines einheitlichen demokratischen Kandidaten zu verzichten, ziehe nun jedoch ihren Einstieg beim Präsidentschaftsrennen "ernsthaft" in Erwägung.

Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. September 2008

Ukrainische Parlamentskrise mutiert zum Wahlkampf

KIEW, 03. September (RIA Novosti). Präsident Juschtschenko und Regierungschefin Timoschenko werfen einander vor, die politische Krise in der Ukraine für den Machtkampf zu instrumentalisieren. Die beiden sprechen bereits von der Präsidentschaftswahl, obwohl diese erst in einem Jahr stattfinden soll.

Julia Timoschenko sagte am Mittwochabend (3. September) in einer Fernsehansprache, sie könne auf ihre Kandidatur bei der nächsten Präsidentschaftswahl Ende 2009 verzichten: "Ich bin bereit, einen demokratischen Einheitskandidaten bei der Präsidentschaftswahl zu unterstützen. Ich kann ihm Vorrang einräumen, falls die Regierung normal und ungestört arbeiten kann. Ist diese Forderung zu hoch?".

Ihre Partei wies die Kritik von Viktor Juschtschenko zurück, die "orange Revolution" verraten zu haben. "Die Vorwürfe von Präsident Juschtschenko sind abenteuerliche Lügen. Sein Motiv ist der Kampf gegen die Regierungschefin um den Sieg bei der nächsten Präsidentschaftswahl", hieß es in einer Erklärung des Timoschenko-Blocks vom Mittwoch.

Am selben Tag kündigte Juschtschenko seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl an. "Ich werde kandidieren und wir werden gewinnen", sagte der Staatschef vor Mitgliedern seiner Fraktion NUNS.

Das Vorgehen der Regierungschefin und ihrer Partei wurde vom Präsidenten in einer Fernsehansprache sogar als Staatsstreich bezeichnet. Besonders empört zeigte sich Juschtschenko darüber, dass der Timoschenko-Block am Dienstag gemeinsam mit der Opposition für einige Gesetze gestimmt hatte, die die Vollmachten des Präsidenten einschränken. "Gegen all diese verfassungswidrigen Gesetze werde ich zweifelsohne Veto einlegen", betonte der Staatschef.

Vor diesem Hintergrund kündete Juschtschenkos Fraktion NUNS den Ausstieg aus der bisherigen Regierungskoalition an. Falls Timoschenkos Partei ihre Haltung nicht ändert und die "orange" Mehrheitskoalition zerfällt, soll innerhalb von 30 Tagen eine neue Koalition gebildet werden - ansonsten darf der Präsident das Parlament auflösen und Parlamentswahlen ausschreiben.

Die Beziehungen zwischen den einstigen Anführern der "orange Revolution" kühlten sich in den letzten Monaten deutlich ab. Juschtschenko warf Timoschenko sogar vor, in heimlicher Absprache mit der Kreml zu agieren: Dafür sichere Russland der ukrainischen Regierungschefin angeblich Unterstützung bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu.

Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 3. September 2008


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