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Spasibo, Angela

Ukraine gibt EU einen Korb und will Dreiergespräche mit Rußland. Freilassung Timoschenkos wäre für Janukowitsch politischer Selbstmord

Von Reinhard Lauterbach, Nekielka *

Wenn es gerecht zuginge auf der Welt, müßte demnächst im Kanzleramt ein Päckchen aus Moskau mit einer ordentlichen Ladung Kaviar eintreffen. Denn Wladimir Putin hat allen Anlaß, sich bei seiner Intimfeindin Angela Merkel zu bedanken. Sie persönlich und die von den deutschen Unionsparteien beherrschte Europäische Volkspartei (EVP) haben mit ihrem Insistieren auf der Freilassung der rechtskräftig wegen Amtsmißbrauchs verurteilten Oppositionsführerin Julia Timoschenko den Anlaß dafür geboten, daß der sicher geglaubte Assoziierungspartner Ukraine der EU fürs erste vom Haken gesprungen ist.

Mit diesem Tribut an die Abteilung Ironie der Geschichte hört das Schmunzeln aber auch schon wieder auf. Denn die Entscheidung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht zu unterzeichnen, ist Resultat der Zumutungen aus Brüssel. Die Freilassung Timoschenkos zu bewilligen, das wäre für das Lager der aktuellen Regierung einem politischen Selbstmord gleichgekommen. Janukowitsch und die Abgeordneten seiner »Partei der Regionen« hätten bis zum letzten Hinterbänkler damit rechnen müssen, daß bei einem Wahlsieg Timoschenkos genau die Maschinerie selektiver Justiz gegen sie eingesetzt worden wäre, die deren Anhänger und die EU der Regierung vorwerfen. So etwas macht niemand, der noch irgendeine andere Option hat, und Janukowitsch hatte sie: bessere Beziehungen mit Rußland. Wladimir Putin hat dem ukrainischen Präsidenten offenbar in den vergangenen Wochen billigeres Gas und milliardenschwere Investitionen in gemeinsame Wirtschaftsprojekte angeboten.

Janukowitschs Entscheidung paßt aber auch in eine langfristige Tendenz aller ukrainischen Regierungen seit der Unabhängigkeitserklärung 1991: zwischen Rußland und EU-Europa zu lavieren und sich möglichst für keine der beiden Seiten entscheiden zu müssen. Hinter dieser Strategie steckt nicht, wie westeuropäische Ukraine-Experten gern mäkeln, mangelnde politische Entscheidungskraft, sondern die Struktur des ukrainischen Exports, der zu ungefähr gleichen Teilen in die EU und nach Rußland geht. Jede Festlegung auf eine der beiden Seiten hätte also schwere wirtschaftliche Einbußen in einer Zeit bedeutet, in der es der Ukraine sowieso nicht gut geht. Insofern ist es bemerkenswert, was Janukowitsch gerade nicht erklärt hat: den Beitritt der Ukraine zur russisch-belarussisch-kasachischen Eurasischen Union. Statt dessen hat er dreiseitige Gespräche über Handelsfragen zwischen der Ukraine, Rußland und der EU vorgeschlagen und damit eine russische Initiative der vergangenen Tage aufgegriffen. Aus dieser Tatsache geht wiederum hervor, daß Rußland sich offenbar mit einem gewissen Einfluß der EU in der Ukraine abgefunden hat. Abzuwarten bleibt nun, wie Brüssel auf diesen Vorschlag reagiert.

Absehbar ist allerdings, daß die Timoschenko-Freunde im Westen ihre Schlappe nicht einfach so einstecken werden. Janukowitsch wird sich auf eine neue Welle politischer Angriffe einstellen müssen, die ukrainische Gesellschaft wird sich wieder stärker nationalistisch polarisieren. Die Kampagne der Oppositionsparteien in den vergangenen Wochen gab darauf einen Vorgeschmack, und die Zusammenarbeit von Timoschenkos »Vaterland« mit den offenen Faschisten der Partei »Freiheit« (Svoboda) läßt für die kommenden Wahlkämpfe nichts Gutes erwarten. Für alle Fälle hat sich Berlin überdies mit der Partei »UDAR« (Schlag) des Boxweltmeisters Witali Klitschko eine Reserveoption aufgebaut, sollte sich die Timoschenko-Partei ohne ihre charismatische Chefin nicht so gut halten wie bisher. Im übrigen sind die EU-Politiker Materialisten genug, um den Einfluß des subjektiven Faktors nicht zu überschätzen: Im stillen wird in Brüssel an Plänen gearbeitet, die ukrainische Abhängigkeit von russischem Gas zu mildern. Mangels eigener Erdgasvorkommen ist die Idee, daß westeuropäische Länder auf eigene Rechnung russisches Gas zu günstigeren Preisen kaufen, als es die Ukraine kann, und es über die bestehenden, einst von der Sowjetunion angelegten, Pipelines in die Ukraine zurückpumpen. Die Sache hakt einstweilen an der Bockigkeit der Slowakei, über deren Gebiet die leistungsfähigste Pipeline verläuft, die sich aber ihre recht guten Beziehungen zu Moskau nicht verderben will. Wenn sich also demnächst die westeuropäische Presse auf den slowakischen Regierungschef Robert Fico einschießen sollte, wird man sich denken können, was dahinter steht.

* Aus: junge Welt, Samstag, 23. November 2013


Unser Mann in Kiew

Neues Aufgebot: Boxweltmeister Klitschko soll die Ukraine wieder auf EU-Kurs trimmen. Noch ist die Resonanz bescheiden

Von Rüdiger Göbel **


Während die ukrainische Regierung ihr »Njet« zum geplanten Assoziierungsabkommen mit der EU verteidigt, versucht die Opposition, die Bevölkerung zu einer Neuauflage der »Orangen Revolution« zu mobilisieren. Der vorläufige Stopp der Annäherung an die Europäische Union sei eine schwere Entscheidung gewesen, erläuterte Ministerpräsident Nikolai Asarow am Freitag im Parlament. Aus wirtschaftlichen Gründen sei die Entscheidung gleichwohl notwendig. Schuld an dem international beachteten Schritt vom Donnerstag habe vor allem der Internationale Währungsfonds. Dessen Forderungen seien »der letzte Tropfen« gewesen, so der Regierungschef. Tatsächlich fordert der IWF im Gegenzug für Kredite eine Anhebung der Gaspreise für die Bevölkerung um 40 Prozent, das Einfrieren von Löhnen und die Reduzierung des Staatshaushaltes. Zudem hätte die Ukraine ihren wichtigen Handelspartner Rußland verloren.

Im Parlament kam es nach der Rede zu Tumulten. Abgeordnete der Opposition um die inhaftierte frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (allesamt in weißen T-Shirts) und um Boxweltmeister Witali Klitschko (alle in roten Hemden) zwangen die Regierungsmitglieder zur Flucht aus dem Saal. Für das Wochenende rufen sie landesweit zu Demonstrationen gegen den »Putsch« (Timoschenko) auf. Dann unter blauer Flagge mit gelben Sternen der EU.

Ziel, eine Mobilmachung wie 2004, damals in Orange. In der Nacht zum Freitag gab es in einzelnen Städten Unmutsbekundungen über den Kurs der Regierung. In Kiew machte Klitschko – hierzulande als »Dr. Eisenfaust« für seine Erfolge im Ring gefeiert und mit Bambi und Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet – den auf dem »Platz der Unabhängigkeit« Versammelten Mut: »Zusammen können wir die Botschaft vermitteln, daß die Ukraine zu Europa gehören und ein demokratischer Staat sein wird.« Und: »Zusammen können wir diese Regierung austauschen.«

Der Chef der 2010 gegründeten Partei Udar (Schlag) gilt als neuer Hoffnungsträger des Westens, die Ukraine endlich auf Kurs weg von Moskau zu bringen. Im August kündigte Klitschko an, für die Präsidentschaftswahl 2015 gegen Amtsinhaber Wiktor Janukowitsch kandidieren zu wollen. Seine in Hamburg-Ottensen ansässige Vermarktungsagentur »Klitschko Management Group GmbH« (KMG) hat er offensichtlich noch nicht in Anspruch genommen. Zu Spitzenzeiten fanden sich auf dem »Majdan Nesaleschnosti« etwa 1500 Demonstranten ein, am Freitag morgen waren es laut »Stimme Rußlands« nicht mehr als 150. Der ukrainische Politikwissenschaftler Rostislaw Ischtschenko merkte dazu süffisant an, man werde wohl keine Massenunruhen befürchten müssen. »Selbst in die Schule meines Sohnes kommen morgens mehr Menschen, als zur Aktion zum Majdan gekommen waren.«

** Aus: junge Welt, Samstag, 23. November 2013


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