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Gysi kritisiert Moskau und den Westen

Bundeskanzlerin erwägt wegen der Krise auf der Krim Einreiseverbote und Kontensperren

Von Aert van Riel *

Die Parteien im Bundestag sind sich in ihrer Kritik am russischen Vorgehen auf der Krim einig. Linksfraktionschef Gregor Gysi warf aber auch westlichen Regierungen Fehler vor.

Kanzlerin Angela Merkel hat im Konflikt um die mögliche Sezession der ukrainischen Halbinsel Krim Russland mit weiteren Sanktionen gedroht. In ihrer Regierungserklärung im Bundestag sagte die CDU-Chefin, die EU werde handeln, falls Sanktionen »unumgänglich werden«. Das sei der Fall, wenn es demnächst nicht zu Verhandlungen mit Russland kommen sollte, die zu Resultaten führten. Merkel erwägt dann Einreiseverbote und Kontensperren. Ein militärisches Eingreifen im Krim-Konflikt schloss die Kanzlerin hingegen aus. Die OECD legte ihre Beitrittsverhandlungen mit Russland vorerst auf Eis.

Die russische Regierung unterstützt das Referendum der Halbinsel im Schwarzen Meer, in dem die Bevölkerung am Sonntag über einen Beitritt zu Russland abstimmen soll. Westliche Länder und die ukrainische Übergangsregierung werfen Moskau vor, die Krim mit Soldaten unter Kontrolle gebracht zu haben.

»Die Sezession widerspricht der ukrainischen Verfassung«, sagte Merkel. Mit der vom Westen unterstützten Sezession Kosovos 1999 sei das aber nicht vergleichbar. Damals habe man »ethnischen Säuberungskriegen« lange tatenlos zugesehen und deswegen im Kosovo-Konflikt auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates eingreifen müssen.

Linksfraktionschef Gregor Gysi widersprach. Mit dem Eingreifen in den Kosovo-Konflikt und dem Völkerrechtsbruch durch die NATO sei die »Büchse der Pandora geöffnet worden«. Gysi verurteilte das Vorgehen Russlands auf der Krim und kritisierte zugleich die westlichen Regierungen. Diese hätten die ukrainische Übergangsregierung anerkannt, obwohl ihr auch Faschisten der Partei »Swoboda« angehören. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt meinte hingegen, dass rechte Kräfte nicht die Oberhand in der Ukraine hätten.

Im Europaparlament scheiterten die Grünen mit einem Antrag, wonach Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wegen seiner Verbindungen zum russischen Energiekonzern Gazprom »keine öffentlichen Aussagen zu Themen machen sollte, die Russland betreffen«. Schröder hatte erklärt, dass seine Regierung in Kosovo das Völkerrecht gebrochen habe. Deswegen könne er auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht verurteilen.

Derweil teilte der Kommissionsleiter des Obersten Rats der Krim, Michail Malyschew, mit, über 50 Vertreter von 21 Ländern seien bereit, die Volksabstimmung zu beobachten. Es seien Vertreter Israels, der USA, Frankreichs, Italiens und EU-Parlamentarier. Laut dpa prüft auch die rechte Front National in Frankreich eine russische Einladung zur Beobachtung. Die Freiheitliche Partei Österreichs habe ebenfalls eine Einladung bekommen.

In Wien wurde der ukrainische Oligarch Dmitri Firtasch, ein Unterstützer des Expräsidenten Viktor Janukowitsch, verhaftet. Das FBI ermittelte gegen ihn.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 14. März 2014


Russland pocht aufs Selbstbestimmungsrecht der Völker

Igor Maximytschew: »Wir können Hilferufe von Menschen nicht abweisen, mit denen wir aufs Engste verbunden sind.« **

Nein, Russland wolle keinen Krieg, versichert Igor Maximytschew, Russland sehe sich aber bei entsprechender Bitte zum Beistand für die in der Ukraine lebenden Russen wie auch das gesamte ukrainische Volk verpflichtet: »Wir können Hilferufe von Menschen nicht abweisen, mit denen wir geschichtlich wie auch gegenwärtig aufs Engste verbunden sind.«

Für große Teile der Bevölkerung Russlands sei der Unterschied zwischen Russen und Ukrainern fließend. »Mindestens ein Drittel der Bürger der Russischen Föderation hat ukrainische Wurzeln. Zahlreiche Russen haben Verwandte und Freunde in der Ukraine. Zwischen drei und fünf Millionen ukrainische Gastarbeiter gibt es in Russland.« Für Russen sei es selbstverständlich, »sich den Bitten ihrer Verwandten und Freunde nicht zu verschließen«.

Eine reale Gefahr für die Bevölkerung der Ukraine und ihre Nachbarn sieht Maximytschew in extrem rechten, neonazistischen Gruppierungen, die in Kiew jetzt mit an der Macht sind. Diese Gefahr wolle der Westen offenbar nicht wahrhaben. Die EU-Garanten des Abkommens vom 21. Februar, in dem der ukrainische Präsident Janukowitsch und die Oppositionsführer die Marschroute für den Machtwechsel fixiert hatten, »hüllten sich in Schweigen«, als die Erfüllung des Abkommens durch die Staatsmacht von der Gegenseite zum bewaffneten Sturm auf Regierungsgebäude genutzt wurde. »Schlimmer noch: Der Westen entschloss sich zur sofortigen Anerkennung der Umstürzler in Kiew.« Und da die Putschisten begonnen hätten, ihre Ordnung auch der südöstlichen Ukraine aufzuzwingen, »blieb der Bevölkerung dieser Regionen nichts anderes übrig, als zur Selbstverteidigung zu greifen und Russland um Unterstützung zu bitten«.

Von einer »Aufteilung« der Ukraine will der Moskauer Diplomatieveteran nichts wissen. »Es geht vielmehr um das Selbstbestimmungsrecht jener Territorien, in denen russische Kultur und Tradition von besonderem Gewicht sind.« Auf der Krim seien schließlich an die 60 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen. Überhaupt sei die Halbinsel 1954 nur deshalb zur Ukraine gekommen, weil Nikita Chruschtschow die Unterstützung der ukrainischen Parteiführung für seinen Kampf um den Kreml benötigte. Der Streit um die Macht in Moskau war im Jahr nach Stalins Tod noch nicht entschieden.

In der unabhängigen Ukraine habe die Krim laut Verfassung von 1992 zunächst weitgehende Autonomie genossen, »sie hatte damals sogar noch einen eigenen Präsidenten«. Kiew habe diese Autonomie jedoch bald empfindlich eingegrenzt. Freilich hat auch Moskau die Rechte seiner Republiken beschnitten und deren Oberhäuptern untersagt, sich als Präsidenten zu bezeichnen.

Seit dem Umsturz in Kiew, so Maximytschew weiter, wetteiferten die Führer der extremen Rechten in ihren Erklärungen darum, wie sie die rebellierenden Regionen und die »Moskalen«, die Russen, »disziplinieren« wollen. Das nähre Ängste bei den Betroffenen. Das Krim-Referendum werde entscheiden, ob deren Bewohner zur Verfassung von 1992 zurückkehren oder lieber Teil der Russischen Föderation werden möchten. »Ein Volksentscheid ist ein demokratisches Mittel, Streitfragen beizulegen.«

Maximytschew pocht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen, das »heute fester Bestandteil des Völkerrechts ist«. Auch auf das Beispiel Kosovo nimmt er Bezug: »Der Westen hat die Abtrennung Kosovos von Serbien mit Gewalt betrieben und besiegelt; vom Standpunkt des Völkerrechts gesehen war dieser Akt sehr zweifelhaft. Die Situation auf der Krim dagegen ist klar. Doch nun soll der Bevölkerung der Krim das Recht verweigert werden, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden. An der Tatsache, dass die Ukraine einer illegitimen Regierung unterstellt wurde, die nicht imstande ist, Ruhe und Ordnung im Lande auf demokratischer Basis zu sichern, trägt Russland keine Schuld.«

Man dürfe jedenfalls annehmen, dass Russland die Ergebnisse des Volksentscheids auf der Krim »respektiert«. Im Übrigen hofft Maximytschew auf weitsichtige Politiker im Westen, »die bedenken, dass die wichtigste Aufgabe nach einer Periode der Spannung darin besteht, zur Normalität zurückzufinden«. Eine geostrategische Konzeption, die auf »Eindämmung« und Einkesselung Russlands zielt, werde in eine Katastrophe führen. »Es gibt nur eine Perspektive: Russland muss gleichberechtigt in den Aufbau eines vernünftigen und wirksamen globalen Sicherheitssystems einbezogen werden.«

** Aus: neues deutschland, Freitag, 14. März 2014


Merkels Mitschuld

Aert van Riel über die Debatte zur Krim-Krise im Bundestag ***

Für Angela Merkel ist die Sache sehr einfach: Russland ist der einzige Schuldige für die Krise auf der Krim und muss mit weiteren Sanktionen bestraft werden, wenn Wladimir Putin nicht einlenken sollte. Solche Gut-Böse-Schemata sollen darüber hinwegtäuschen, wie es zur jetzigen Situation in der Ukraine gekommen ist. Zwar ist das Vorgehen Moskaus auf der Krim völkerrechtswidrig, aber auch die Bundesregierung trägt eine Mitschuld für die mögliche Sezession. Denn sie unterstützt eine Übergangsregierung in der Ukraine, in der auch Faschisten vertreten sind. Die neuen Machthaber hatten mit dem Sturz von Präsident Janukowitsch den Einfluss der im russisch geprägten Osten dominierenden Partei der Regionen eingeschränkt. Als eine der ersten Amtshandlungen sollte ein Gesetz zur Stärkung der russischen Sprache abgeschafft werden. Viele Russen auf der Krim sehen sich von dieser Regierung nicht vertreten.

Der Bundesregierung geht es vor allem um Wirtschaftsinteressen. Um die Ukraine stärker an die EU zu binden, wird die Übergangsregierung bald Teile eines Assoziierungsabkommens unterzeichnen. Russland verfolgt strategische Interessen. Ein ukrainischer Weg, in dem sich das Land nicht zwischen einer Hinwendung nach Osten oder Westen entscheiden müsste, scheint unter diesen Bedingungen unmöglich zu sein.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 14. März 2014 (Kommentar)


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