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Stimmenschlacht um den ukrainischen Osten

Referendum über Trennung von Kiew / Drohung mit Sanktionen gegen Russland / US-Söldner im Einsatz

Von Detlef D. Pries *

Trotz Kiewer Drohungen und russischer Bitte um Aufschub fanden in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Lugansk am Sonntag Referenden über die Trennung von der Ukraine statt.

Was in den Augen der Kiewer Regierung eine »kriminelle Farce« ist, nennen die Organisatoren der Referenden eine demokratische Willensäußerung des Volkes: Die Bürger der Gebiete Donezk und Lugansk sollten am Sonntag über die staatliche Selbstständigkeit ihrer im April ausgerufenen »Volksrepubliken« abstimmen. Tatsächlich zeigten Fotos aus der Region lange Schlangen vor Wahllokalen. Ukrainische Medien berichteten dagegen mal von Desinteresse oder Unwissenheit der Bevölkerung, mal von einem Referendum »vor den Läufen von Maschinenpistolen«. Die Abstimmung sollte bis 22 Uhr Ortszeit (21 Uhr MESZ) dauern, Ergebnisse wurden erst für Montag oder Dienstag angekündigt. Weder die Übergangsregierung in Kiew noch deren westliche Unterstützer werden sie jedoch anerkennen. Das »vom Kreml inspirierte, organisierte und finanzierte Referendum«, hieß es in einer Stellungnahme des ukrainischen Außenministeriums, sei »rechtlich wertlos«. Für »unrechtmäßig« hatten es auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande am Freitag befunden. Sie betonten stattdessen die Bedeutung der für den 25. Mai anberaumten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine, für deren Stattfinden sie allein Russland verantwortlich machten, denn »fänden keine international anerkannten Präsidentschaftswahlen statt«, wären »entsprechende Konsequenzen zu ziehen, wie sie der Europäische Rat am 6. März vorgesehen hat«, hieß es in der gemeinsamen Erklärung Merkels und Hollandes. Gemeint sind härtere Sanktionen gegen Russland. Die EU-Außenminister wollen darüber bereits am heutigen Montag in Brüssel beraten.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte die Aktivisten in der Ostukraine aufgefordert, die Abstimmungen vom 11. Mai zu verschieben, war jedoch nicht erhört worden. Immer wieder wird ihm vorgeworfen, Russland unterstütze die Separatisten in der Ukraine finanziell und personell, was Moskau dementiert. Darüber hinaus besteht der Westen auf einem Rückzug russischer Truppen aus grenznahen russischen Gebieten.

Auf ukrainischem Gebiet dagegen sollen über 400 schwer bewaffnete Söldner der früher unter dem Namen »Blackwater« bekannten US-amerikanischen Sicherheitsfirma operieren. »Bild am Sonntag« berichtete darüber und berief sich auf Informationen aus dem Bundesnachrichtendienst (BND), die am 29. April in der sogenannten Nachrichtendienstlichen Lage im Bundeskanzleramt vorgetragen worden sein sollen. Die Kämpfer der jetzt »Academi« genannten Firma würden verdeckte Einsätze im Gebiet der abtrünnigen Stadt Slawjansk führen und koordinieren. Aus Slawjansk und der Umgebung von Lugansk wurden auch am Sonntag Kämpfe gemeldet. Die Söldnertruppe war bereits in Irak und Afghanistan im Einsatz. Der BND wollte sich am Sonntag nicht zu dem BamS-Bericht äußern.

* Aus: neues deutschland, Montag, 12. Mai 2014


»Wir wollen diese Banditen in Kiew nicht«

Umstrittenes Referendum in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Lugansk

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Trotz Angriffen ukrainischer Truppen auf Städte in der Ostukraine beteiligten sich am Sonntag viele Menschen an Referenden über die Unabhängigkeit der Region.

Hunderte Meter lang waren am Sonntag die Schlangen vor den Wahllokalen in der Millionenstadt Donezk. Obwohl von einzelnen Angriffen ukrainischer Regierungstruppen und Scharfschützen auf Stellungen der Aufständischen vor der Stadt Slawjansk berichtet wurde, gingen ausnehmend viele Bürger der Gebiete Donezk und Lugansk zur Abstimmung. Die Wahllokale, meist in Schulen untergebracht, waren von 8 bis 22 Uhr Ortszeit geöffnet.

Wahlen im Ostteil der Ukraine sind, wie in Russland, seit Sowjetzeiten eine festliche Veranstaltung. Abstimmen, das ist bis heute so etwas wie Bürgerpflicht. Und mit Ernst und Pflichtgefühl gingen die Menschen trotz – oder gerade wegen – der Gewalt der vergangenen Tage an die Urnen. Am Sonntag um 16 Uhr Ortszeit meldete der Vorsitzende der Wahlkommission der »Donezker Volksrepublik«, Roman Ljagin, eine Wahlbeteiligung von 69,21 Prozent in seinem Gebiet. 2,2 Millionen Menschen hätten abgestimmt. Im Gebiet Lugansk, das unmittelbar an Russland grenzt, soll die Wahlbeteiligung um 14 Uhr bereits bei 75 Prozent gelegen haben.

Auf den Abstimmungszetteln stand in russischer und ukrainischer Sprache eine einzige Frage: »Unterstützen sie den Akt der staatlichen Selbstständigkeit der Volksrepublik Donezk?« Bei den Nachbarn wurde über die Selbstständigkeit der Volksrepublik Lugansk abgestimmt.

»So eine hohe Wahlbeteiligung hatten wir noch nie«, sagte eine Blondine Mitte 30 dem Fernsehkanal »Rossija 1«. Die Frau stand mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in einer Schlange vor einem Donezker Wahllokal. Kritiker behaupten, der Andrang sei auf die geringere Zahl von Wahllokalen zurückzuführen.

Eine Frau um die 50 meinte. »Sie werden sehen, dass die Menschen trotz der Gewehrläufe ihren Willen ausdrücken.« Offensichtlich spielte sie auf die von der Kiewer Übergangsregierung befohlene »Anti-Terror-Operation« an, der schon so viele Menschen zum Opfer gefallen sind.

Die von Journalisten Befragten sprachen weniger von der Unabhängigkeit als von näherliegenden Problemen. Sie hofften, dass mit ihrer Stimmabgabe Frieden und Stabilität in die Region einziehen. Eine Frau mittleren Alters sagte dem Fernsehkanal »Moskwa 24« unter Tränen: »Das Einzige, was ich machen kann, ist, meine Stimme abzugeben.« Und zu den Leuten vom bewaffneten Selbstschutz sagte sie: »Männer, haltet durch!« Korrespondenten der französischen Nachrichtenagentur AFP zitierten einen Mann vor dem Donezker Wahllokal Nr. 7: »Wir wollen diese Banditen in Kiew nicht.« Ob die Region später Russland beitrete oder unabhängig bleibe, sei ihm gleichgültig – Hauptsache sie könne ohne die bisherige Führung existieren.

»Wenn wir unabhängig werden, wird das zuerst hart sein, doch alles ist besser, als mit den Faschisten zu leben«, diktierte die 35-jährige Tatjana den Korrespondenten. Und ein Mann namens Nikita hält die Ukraine für nicht überlebensfähig, »weil sie von Dieben geführt wird«. Er wollte daher für »Russland« stimmen – auch wenn das nicht zur Abstimmung stand.

Es gab gläserne Urnen, Wahlkabinen mit einfarbigen Vorhängen und Tische, an denen die Pässe geprüft und die Stimmabgabe in die vorbereiteten Wählerverzeichnisse eingetragen wurden. Da die Regierung in Kiew die offiziellen Wählerverzeichnisse blockiert hatte, nutzten die Organisatoren die Einwohnermeldelisten. Wahlbeobachter waren weder aus Russland noch aus anderen Staaten angereist, für die Korrektheit der Auszählung können also nur die Wahlkommissionen garantieren.

Auch in Slawjansk und Mariupol, wo die ukrainischen Truppen in den letzten Tagen Angriffe vorgetragen hatten und Blut geflossen war, wurde abgestimmt. In der Nacht zum Sonntag hatten ukrainische Einheiten einen Verkehrskontrollpunkt der Regierungsgegner bei Andrejewka, unweit von Slawjansk, mit Granatwerfern angegriffen.

Die Lage um Slawjansk ist brisant. Sergej Edriljuk, Vizekommandeur des »Selbstschutzes« im Gebiet Donezk, erklärte gegenüber dem Fernsehkanal »Rossija 1«, die Stadt sei von 10 000 ukrainischen Soldaten und 1000 Mann in gepanzerten Fahrzeugen eingeschlossen. Auch »Grad«-Raketenwerfer und Haubitzen vom Typ »Nelke« seien aufgefahren. Edriljuk erinnerte an die Warnung Julia Timoschenkos, die Separatisten mit einem Schlag vernichten zu wollen.

In Mariupol legten Einwohner am Sonntag Blumen vor der völlig ausgebrannten Polizeizentrale nieder. Die ukrainische Nationalgarde hatte die Zentrale am Freitag mit Granatwerfern beschossen, in dem Gebäude brach ein Brand aus. Neun Polizisten starben, 42 wurden verletzt, teilte die Donezker Gebietsverwaltung mit. Der Angriff hing offenbar damit zusammen, dass sich die Polizisten geweigert hatten, dem Befehl des aus Kiew eingeflogenen Polizeichefs Valeri Androschtschuk zu folgen. Der hatte von seinen Untergebenen gefordert, auf radikale Demonstranten ohne Vorwarnung zu schießen. Es waren dramatische Szenen, die sich am 9. Mai in Mariupol abspielten. Demonstranten versuchten mit bloßen Händen, ukrainische Schützenpanzer aufzuhalten. Erschütternde Videos zeigen, wie ukrainische Soldaten im Zentrum der Stadt unbewaffnete Passanten niederschossen. In der Nacht zu Sonnabend setzten Unbekannte den Stadtrat von Mariupol in Brand. Regierungsgegner vermuten Leute vom Rechten Sektor als Täter.

Aber AFP zitierte auch Stimmen von Gegnern des Referendums. »Wenn dies durchgeht und sie wirklich die Republik Donezk werden, wird das eine Katastrophe«, sagte ein 20-jähriger Feuerwehrmann. »Was für Leute werden sie führen? Es wird Chaos – noch schlimmer als jetzt.«

In der Stadt befindet sich eine der größten Stahlhütten der Region mit 30 000 Beschäftigten. Sie gehört zur Holding Metalinvest und damit zum Imperium des mutmaßlich reichsten Mannes der Ukraine, des Oligarchen Rinat Achmetow. Die Holding gab inzwischen bekannt, dass sie Freiwillige gemeinsam mit der Polizei auf Patrouille schicken werde. »Die ukrainischen Militärs sollen die Stadt verlassen«, heißt es in einer Erklärung von Metalinvest.

Achmetow gehörte zu den Förderern des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch, hatte sich in den letzten Monaten aber für eine Verständigung zwischen Anhängern und Gegnern einer EU-Assoziierung ausgesprochen.

** Aus: neues deutschland, Montag, 12. Mai 2014


»Keine Gefangenen machen«

Ukraine: Auseinandersetzungen im Donbass immer brutaler. 31 Tote in Mariupol

Von Reinhard Lauterbach, Kiew ***


Truppen der Kiewer Machthaber haben am Sonntag mehreren Orte im Osten der Ukraine angegriffen und Wahllokale besetzt, um die in den Gebieten Donezk und Luhansk durchgeführte Abstimmung über eine Unabhängigkeit der beiden »Volksrepubliken« zu stören. Trotzdem zeichnete sich dort russischen Medien zufolge eine hohe Beteiligung ab. In Donezk hätten bis 16 Uhr Ortszeit knapp 70 Prozent der Berechtigten ihre Stimme abgegeben, meldete der TV-Sender Russia Today.

Der Kiewer »Präsident« Olexander Turtschinow hatte zuvor erklärt, daß mit »Separatisten und Terroristen« nicht geredet werde. Sie verstünden nur die Sprache der Gewalt. Das erlebten die Bürger der Stadt Mariupol (jW berichtete). Kiewer Angaben zufolge sind dort bei der »Antiterroroperation« am vergangenen Freitag sieben Menschen umgekommen. Die Zahl müßte auf elf erhöht werden, weil das Verteidigungsministerium einen Tag brauchte, um den Tod von vier Soldaten zuzugeben. 20 Kämpfer der Aufständischen, die nach Aussage von »Innenminister« Arsen Awakow bei den Kämpfen um das Polizeipräsidium »liquidiert« wurden, werden von der Kiew-treuen Presse offenbar nicht als Menschen gezählt, sondern separat registriert. Turtschinow mußte allerdings zugeben, daß große Teile der Bevölkerung die Aufständischen unterstützen.

Die Angehörigen der im März aus den Reihen der Maidan-Schläger in Kiew gegründeten »Nationalgarde« müssen in Mariupol mit großer Brutalität vorgegangen sein. Selbst die dem Regime nahestehende Ukrainskaja Prawda berichtete am Samstag, die »Nationalgarde« sei aus Mariupol abgezogen worden, um »die Bevölkerung nicht länger zu provozieren und die Sicherheit der friedlichen Bewohner zu gewährleisten«. Der »Volksbürgermeister« des von Kiewer Truppen belagerten Slowjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, kündigte als Reaktion auf Mariupol an, seine Kämpfer würden ab sofort keine Gefangenen mehr machen.

*** Aus: junge welt, Montag, 12. Mai 2014


Söldner morden mit

Ukraine: US-Privatarmee »Academi« offenbar an Kämpfen um Slowjansk beteiligt. Bundesregierung informiert. Immer mehr Nachrichten über westliche Einmischung

Von André Scheer ****


Der Bundesnachrichtendienst (BND) hat die Bundesregierung Ende April darüber informiert, daß 400 Söldner der US-amerikanischen Privatarmee »Academi« in der Ukraine im Einsatz sind. Das berichtete Bild am Sonntag – versteckt in einem Artikel, in dem es ansonsten darum geht, daß »Putin der Lüge« überführt sei, weil die russische Luftwaffe im April den ukrainischen Luftraum verletzt habe. Dem Bericht zufolge hat der Vertreter des BND bei der »Nachrichtendienstlichen Lage« am 29. April im Bundeskanzleramt gestützt auf US-Geheimdienstberichte informiert, daß die Söldner rund um die Stadt Slowjansk als »Guerillakämpfer« gegen die Widerstandsbewegung aktiv seien. Der Artikel in der BamS ist nicht der erste Bericht über eine direkte militärische Einmischung von EU und USA in der Ukraine, aber – wenn die Informationen des Springerblattes richtig sind – die erste Bestätigung dafür aus dem Westen. Warum die Informationen gerade jetzt an BamS durchgestochen wurden, ist unklar. Die gewollte Indiskretion könnte ein Hinweis auf wachsende Spannungen zwischen Berlin und Washington sein.

»Academi« ist das Nachfolgeunternehmen der aus dem Irak-Krieg berüchtigten Söldnertruppe »Blackwater«. Selbst will man mit dem damaligen Unternehmen, das für Folterungen und Massaker an Zivilisten unter der US-Besatzung verantwortlich war, nichts mehr zu tun haben. »Academi hat keine Beziehungen mit einer Entität namens Blackwater oder mit dem früheren Eigentümer Erik Prince«, heißt es in einer im März von dem Unternehmen veröffentlichten Pressemitteilung. Tatsächlich aber ist »Academi« direkt aus »Blackwater«, das zwischenzeitlich »Xe Services« hieß, hervorgegangen. Dpa berichtete am Sonntag: »2010 kaufte eine private Investorengruppe die Firma. Der Gründer Erik Prince verließ das Unternehmen. Geleitet wird die Firma nun vom Ex-Brigadegeneral der US Army, Craig Nixon. Im Aufsichtsrat sitzt auch der ehemalige Justizminister unter Präsident George W. Bush, John Ashcroft. Der Hauptsitz in McLean (Virginia) und die Trainingsanlage in North Carolina wurden übernommen. Das Unternehmen erhält weiterhin lukrative Aufträge der US-Regierung, unter anderem als Betreiber von Militäranlagen in Afghanistan.«

Die US-Söldner sind offenbar nicht die einzigen westlichen Berufskiller, die in der Ukraine mitmischen. Schon im März stiegen US-Amerikaner in Militäruniformen in einem Kiewer Hotel ab, die nach jW-Informationen mit »logistischen Vorbereitungen« betraut waren. Etwa zur gleichen Zeit hatte auch der russische Außenminister Sergej Lawrow öffentlich Aufklärung über die Präsenz von 150 Söldnern des »Academi«-Ablegers »Greystone« verlangt, die auf der Seite der ukrainischen Armee an den Kämpfen beteiligt seien. Die Erstürmung des Flughafens von Kramatorsk Mitte April soll ebenfalls auf das Konto von US-Söldnern gehen. In einem seit Anfang Mai im Internet kursierenden Video, das in Kramatorsk entstanden sein soll, ist ein schwerbewaffneter Soldat zu sehen, der sich in fließendem Italienisch mit Reportern unterhält. Außer in einigen Internetblogs hat dieser Vorgang in italienischen Medien bislang keine Aufmerksamkeit erregt. Und schließlich warf die Ende April erfolgte Festsetzung von zwölf Militärbeobachtern aus NATO-Staaten durch die Widerstandsbewegung in Slowjansk ein Schlaglicht auf die Zusammenarbeit der Bundeswehr und des BND mit den Kiewer Machthabern.

**** Aus: junge welt, Montag, 12. Mai 2014

Lesen Sie dazu auch:

Blackwater-Erben in der Ukraine?
Sicherheitsfirma dementiert Berichte über US-Söldner (14. Mai 2014)




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