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Ungehemmter Warenverkehr

Hintergrund. Dem Konflikt um die Ukraine zwischen EU und Rußland liegen in erster Linie handelspolitische und ökonomische Interessen zugrunde

Von Jürgen Wagner *

Mit der Ende November 2013 getroffenen Entscheidung, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union auf Eis zu legen, hat sich Präsident Wiktor Janukowitsch mächtige Feinde in Brüssel und vor allem in Berlin gemacht. Bereits die unmittelbare Reaktion der deutschen Kanzlerin enthielt eine kaum versteckte Drohung: »›Die Tür für die Ukraine bleibt offen‹, betonte Merkel nach der Pleite mehrfach. Man sei weiterhin gesprächsbereit. Das klang nach mühsamer Gesichtswahrung, wie sie nach Niederlagen üblich ist. Aber es heißt auch: Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Und die Kanzlerin will vor der nächsten Runde eine neue Figur ins Spiel bringen: Witali Klitschko.« (Spiegel 50/2013)

Obwohl es sicher gute Gründe gibt, gegen die korrupte Janukowitsch-Regierung auf die Straße zu gehen, repräsentiert die Protestbewegung weder die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, noch sollte man irgendwelche Hoffnungen in das sie anführende Dreierbündnis setzen. Es besteht einmal aus der neofaschistischen Partei »Swoboda« (»Freiheit«) mit Oleg Tjagnibok an der Spitze, die mit ihren Schlägertrupps unter anderem dafür sorgte, daß linke Studenten und Gewerkschafter regelrecht vom zentralen Protestplatz, dem Maidan in Kiew, weggeprügelt wurden. »Batkiwschtschina« (»Vaterland«) wiederum repräsentiert Teile der Oligarchie und wird von der inhaftierten und ebenfalls hochgradig korrupten Julia Timoschenko angeführt. Und dann gibt es schließlich noch »Udar« (»Schlag«) mit dem Aushängeschild Witali Klitschko. Die deutliche Affinität hiesiger Politiker und Medien zur Partei des ehemaligen Boxweltmeisters, der in der Bundesrepublik aktuell zur Galionsfigur der Protestbewegung hochstilisiert wird, resultiert vor allem aus ihrer klar proeuropäischen Ausrichtung. Diese Programmatik ist allerdings nicht weiter überraschend, schließlich wurde Udar von Beginn an von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert und, wie Spiegel online am 8.12.2013 berichtete, von der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament logistisch unterstützt.

Was die deutschen und europäischen Interessen anbelangt, so geht es einmal darum, den neoliberalen Umbau der Ukraine weiter zu forcieren und dadurch den westeuropäischen Konzernen ein riesiges Absatz- und Investitionsgebiet zu erschließen. Wichtiger noch ist aber die Rolle der Ukraine als geopolitischer Schlüsselstaat in den Auseinandersetzungen zwischen zwei sich zunehmend feindlich gegenüberstehenden Blöcken, der Europäischen Union und der von Moskau initiierten und am 1. Juli 2010 in Kraft getretenen Zollunion mit Belarus und Kasachstan. Es ist vor allem Deutschland, das hier überaus aggressiv und buchstäblich an vorderster Front agiert: »Der Kampf um die Ukraine ist einer zwischen dem russischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin. (…) Fast 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges geht es darum, wer es schafft, die früheren Sowjetrepubliken der Region in seinen Einflußbereich zu ziehen. Es geht um Geopolitik, um das ›Grand Design‹, wie es die Experten gern nennen.« (ebd.)

Neoliberales Abkommen

Assoziierungsabkommen werden mit den angrenzenden Staaten im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) ausgehandelt, in die gegenwärtig 16 Länder eingebunden sind. Offiziell geht es dabei darum, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu fördern, ohne den Staaten aber eine realistische Beitrittsperspektive zu eröffnen. Aber es wird darauf hingearbeitet, die Nachbarländer in eine großeuropäische Wirtschaftszone einzubeziehen und neoliberale »Reformen« zu forcieren: »Was nicht gesagt wird ist, daß das Hauptmotiv der wirtschaftlichen Integration darin besteht, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken, Ökonomien in die expandierende Wirtschaft des Imperiums (der EU) einzugliedern und Zugang zu natürlichen Ressourcen in der ener­giereichen Nachbarschaft zu erhalten. Die riesige Ansammlung von Wohlstand und wirtschaftlicher Macht der EU hat ihr einen Hebel gegeben, um marktfreundliche Reformen einschließlich Privatisierung, Handelsliberalisierung und der Übernahme der EU-Regula­tionsmechanismen durchzusetzen und gleichzeitig die weiterführenden Debatten in den peripheren Gesellschaften zu umgehen.«[1]

Die Verhandlungen mit der Ukraine wurden im Jahr 2005 aufgenommen und mündeten 2012 in ein unterschriftsreif vorliegendes Assoziierungsabkommen. Problematisch sind vor allem die dem Dokument angehängten Details der »Tiefen und umfassenden Freihandelsabkommen«, die ebenfalls rechtlich bindend umzusetzen wären, sollte das Abkommen verabschiedet werden. Dabei ist unter anderem die Absenkung der jeweiligen Zölle um 99,1 Prozent (Ukraine) bzw. 98,1 Prozent (EU) sowie die weitgehende Beseitigung von Mengenbegrenzungen und anderer sogenannter. nicht-tarifärer Handelshemmnisse vorgesehen. Der angestrebte »freie und faire Wettbewerb« (level-playing field) zwischen europäischen und ukrainischen Firmen soll zusätzlich durch die Einführung einheitlicher – wohlgemerkt europäi­scher – Produktstandards und Zertifizierungsmethoden gefördert werden.

Glaubt man den Verlautbarungen Brüssels würden der verschärfte Wettbewerb und der verbesserte Marktzugang in der Ukraine einen regelrechten Wirtschaftsboom auslösen. So prognostiziert EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle, nach Abschluß des Assoziierungsabkommens sei mit einer Verdopplung der ukrainischen Exporte in die EU und einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um zwölf Prozent zu rechnen (European Commission, Speech 13/687, 11.9.2013). Diese optimistische Einschätzung wurde jedoch einer Studie Ricardo Giuccis entnommen, der als Mitherausgeber des Newsletters der »Deutschen Beratergruppe«, die maßgeblich vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie finanziert wird, wohl kaum als neutral einzustufen ist.82]

Demgegenüber wird von russischer Seite argumentiert, das Abkommen werde sich hochgradig schädlich für die Ukraine auswirken. So schreibt etwa Sergej Glasjew, der Berater für eurasische Integrationsfragen von Präsident Wladimir Putin: »Wenn die Ukraine die Vereinbarung über die Assoziation mit der EU unterzeichnet und sich in diese nicht gleichberechtigte Freihandelszone begibt, so wird sie bis 2020 im Wirtschaftswachstum und in der Handelsbilanz ein Minus erhalten. Wir schätzen die Verluste auf etwa minus 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr. Bis 2020 wird eine Verdrängung ukrainischer Waren vom eigenen Markt, begleitet von einem Wirtschaftsrückgang und einer Verringerung der Entwicklungsmöglichkeiten erfolgen.« (Stimme Rußlands, 7.11.2013)

Statt dessen plädiert Moskau für einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion, die gegenwärtig aus Rußland, Belarus und Kasachstan besteht. Aktuell gehen – allerdings variieren die Zahlen je nach Quelle – wohl über 30 Prozent der ukrainischen Exporte in Staaten dieser Zollunion (EU: 25 Prozent), und über 40 Prozent der Importe stammen aus diesen Ländern (EU: 31 Prozent). Von russischer Seite wird nun unter Bezug auf eine Studie der von der Zollunion ins Leben gerufenen Eurasischen Entwicklungsbank argumentiert, ein Freihandelsvertrag mit der EU werde die Exporte dorthin zwar um zehn Prozent erhöhen, die Importe aber um 15 Prozent steigern, mit dem Ergebnis eines wachsenden Handelsbilanzdefizits. Da zudem das Assoziierungsabkommen einen Beitritt zur Zollunion unmöglich machen würde (und umgekehrt), würden die teilnehmenden Staaten dann u.a. ihre Zölle erhöhen und der Handel mit ihnen dadurch einbrechen. Im Resultat hätte dies dann den – von Glasjew prognostizierten – Rückgang des BIP von 1,5 Prozent zur Folge. Demgegenüber sei nach einem Beitritt zur Zollunion mit einem BIP-Anstieg von 2,5 Prozent zu rechnen.[3]

Ob der Beitritt zu einer vom östlichen Nachbarn dominierten Freihandelszone tatsächlich wirtschaftlich derart von Vorteil wäre, wie dies von russischer Seite dargestellt wird, darf allerdings bezweifelt werden. Wie zuvor schon Kasachstan und Belarus müßte auch die Ukraine in diesem Fall ihre Außenzölle teils massiv anheben, was zwangsläufig den – ebenfalls nicht zu vernachlässigenden – Handel mit der EU wohl empfindlich beeinträchtigen würde. In jedem Fall aber sind die Warnungen vor den wirtschaftlichen Folgen eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union absolut plausibel. Denn die Abschaffung von Schutzzöllen und nichttarifären Handelshemmnissen würde die ukrainischen Firmen, die durch die Einführung teurer europäischer Produktstandards und Zertifizierungsprozesse noch zusätzlich belastet werden, der übermächtigen Konkurrenz schutzlos ausliefern: »Ukrainische Waren werden in Preis und Qualität schwer mit den europäischen Waren konkurrieren können. Letztere werden die einheimische Produktion vom Binnenmarkt verdrängen. Und am Außenmarkt werden die ukrainischen Waren keinen Käufer finden. (…) Was den Maschinenbau betrifft, so wird diese Produktion wegen der Aufhebung der Subventionen nicht konkurrenzfähig sein. Dafür aber wird die Vereinbarung mit der EU die Ukraine verpflichten, alle Wirtschaftszweige in Einklang mit dem technischen Regelwerk der EU zu bringen. Für diese Ziele wird Kiew im Laufe von zehn Jahren etwa 165 Milliarden Euro benötigen. Dieses Geld aber steht nicht zur Verfügung, und die EU beabsichtigt lediglich, mit mehreren Millionen Euro zu helfen. Jene ukrainischen Produzenten, die nicht zu den europäi­schen Standards übergehen werden, verlieren ihr Recht, ihre Produktion zu verkaufen.« (Stimme Rußlands, 7.11.2013)

Diese Bedenken scheinen auch innerhalb der Janukowitsch-Regierung eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Nach der Entscheidung, die Vereinbarung auf Eis zu legen, argumentierte Michail Tschetschetow, stellvertretender Vorsitzender der regierenden Partei der Regionen: »Wir sind nicht bereit, dieses Abkommen zu unterschreiben, wenn dabei Hunderte Betriebe, vor allem im industriellen Ballungszentrum des Landes, werden schließen müssen.« (RIA Nowosti, 13.11.2013) Und auch Präsident Janukowitsch wollte in Nachverhandlungen zusätzliche Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft festlegen lassen: »Wenn wir einen Stand erreichen, der für uns vorteilhaft ist und der unseren Interessen entspricht, dann werden wir über eine Unterschrift sprechen«, so Janukowitsch (Spiegel online, 26.11.2013).

Allerdings weigerte sich die Europäische ­Union, auch nur die kleinsten Zugeständnisse zu machen – und hier liegt die Hauptursache dafür, daß das Abkommen auf Eis gelegt wurde. Rußland andererseits schwang zwar durchaus die Peitsche, indem es bereits im Sommer 2013 mit Sanktionen drohte, sollte Kiew unterzeichnen. Andererseits vergaß es aber auch nicht das Zuckerbrot, indem es früh beträchtliche Vergünstigungen in Aussicht gestellt hatte. Dies führte mittlerweile dazu, daß russisches Gas nun um ein Drittel günstiger geliefert wird (Kostenersparnis allein 2014: umgerechnet drei Milliarden US-Dollar), und Moskau zugesagt hat, ukrainische Staatsanleihen in Höhe 15 Milliarden Dollar aufzukaufen.

Geopolitisches Filetstück

Um denselben Betrag hatte die in extremen Finanznöten steckende Janukowitsch-Regierung zuvor den Westen gebeten, und bekam dafür gleich die Daumenschrauben angesetzt. Dies gab laut dem mittlerweile zurückgetretenen Regierungschef Nikolai Asarow schlußendlich den Ausschlag, das Abkommen nicht zu unterzeichen: »Der schrumpfende Handel mit Rußland und anderen GUS-Staaten gefährde ernsthaft die ukrainische Wirtschaft. Die Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland habe zur Folge gehabt, daß die Ratingagentur Fitch die Bonität der Ukraine vor kurzem abgestuft habe, sagte Asarow weiter. Der ›letzte Tropfen‹ sei die Forderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom 20. November gewesen, die Gaspreise für die ukrainischen Haushalte zu erhöhen, die Gehälter einzufrieren und die Ausgaben zu kürzen. Nur dann dürfe die Ukraine mit Krediten rechnen.« (RIA Nowosti, 22.11.2013)

Unter diesen Umständen war die Entscheidung, das Abkommen zu versenken, ebenso richtig wie nachvollziehbar. Vor allem aufgrund der geopolitischen Bedeutung des Landes ist der Westen aber nicht bereit, kampflos das Feld zu räumen. In der Folge wurde alles daran gesetzt, um die Protestbewegung gegen Janukowitsch zu unterstützen.

Nach dem Ende der Blockkonfrontation versuchte die Europäische Union (zusammen mit den USA) zielstrebig, den Löwenanteil der sowjetischen Konkursmasse in ihre Einflußsphäre zu integrieren. Dies geschah in Form der EU-Osterweiterung und über die sogenannten »bunten Revolutionen«, westlich unterstützte Umstürze wie etwa 2003 in Georgien, bei denen prorussische durch prowestliche Machthaber ersetzt wurden. Auch in der Ukraine wurde mit maßgeblicher Unterstützung durch die »Orangene Revolution« im Jahr 2004 der genehmere Wiktor Jusch­tschenko an die Macht gebracht. Seine Regierung, an der zeitweise auch Julia Timoschenko beteiligt war, erwies sich aber als derart unfähig, daß sie 2010 wieder sang- und klanglos abgewählt wurde. Rußland war über diese Politik in seinem Hinterhof, vorsichtig formuliert, nicht gerade glücklich und ging seinerseits zum Versuch über, den Einflußgewinn der Europäischen Union zurückzudrängen oder wenigstens aufzuhalten.

So kündigte Wladimir Putin im Juli 2009 an, die schon erwähnte Zollunion zu gründen, gemeinsam mit Belarus und Kasachstan. Es folgte im Jahr 2010 die Vereinheitlichung der Zölle, und im Januar 2012 wurden zwischen den drei Ländern die Grenzkontrollen abgeschafft. Im September 2013 signalisierte zudem Armenien, das ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen und statt dessen der Zollunion beizutreten. Im Westen wird dieser Versuch, der europäischen Expansionspolitik etwas entgegenzusetzen, mit großem Argwohn beobachtet. Insbesondere weil die weiteren Ambitionen darauf hindeuten, daß sich hier eine neue Blockkonfrontation entwickeln könnte: »Putins Ziel ist es, die Zollunion bis 2015 in eine Eurasische Union umzuwandeln – ein politischer Gegenspieler der Europäischen Union.«[4]

Glaubt man Berichten, nach denen ein semioffizielles Regierungspapier vom engen Putin-Berater Glasjew mitverfaßt sein soll, so spielt die Ukraine in den russischen Überlegungen eine zentrale Rolle: »Das Ziel ist laut dem Dokument, die Ukraine bis zu den Wahlen 2015 in den Schoß der russischen Zollunion zu holen. Dazu soll durch die Unterstützung rußlandfreundlicher Meinungsmacher der proeuropäische Einfluß in den ukrainischen Medien ›neutralisiert‹ werden. Außerdem sollen gen Westen orientierte Oligarchen ›sanktioniert‹ werden. Nach den ukrainischen Wahlen sollen zudem die pro-europäischen Staatsdiener – insbesondere im Außen- und Verteidigungsministerium – ›diskreditiert‹ und aus ihren Ämtern gejagt werden. Bei ihnen handle es sich nämlich um ›De-facto-Agenten des euro-atlantischen Einflusses‹.« (euractiv, 30.8.2013)

Auch westlicherseits wird die Ukraine als geopolitisches Filetstück betrachtet, was vom Topstrategen Zbigniew Brzezinski bereits 1997 folgendermaßen begründet wurde: »Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr. (…) Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen (heute 45 Millionen – jW) Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Rußland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.«[5]

Gerade Deutschland legt traditionell seinen Schwerpunkt auf die Expansion in den östlichen Nachbarschaftsraum, und die Ukraine unterliegt dabei seit langem besonderer Aufmerksamkeit. Dies liegt sicher nicht allein daran, daß bei den ausländischen Direktinvestitionen in die Ukraine Deutschland hinter Zypern an zweiter Stelle steht. Noch entscheidender dürfte sein, daß das Land von den deutschen Eliten als Einfallstor Tor für die Einverleibung des gesamten postsowjetischen Raums betrachtet wird. Beispielhaft hierfür ist etwa ein Beitrag der führenden außenpolitischen Zeitschrift Deutschlands: »Bis vor kurzem schien die EU ignoriert zu haben, daß sich Moskau gegen eine Integration der Ukraine wehren könnte. Eine solche Blauäugigkeit gegenüber den außenpolitischen Interessen des Kremls hat Tradition. (…) Nun stehen sie vor der Entscheidung: Gehört ihr Land zum westlich geprägten Europa, oder ist es Teil einer russisch geprägten ›eurasischen‹ Zivilisation? (…) Mit der Annäherung der Ukraine an die EU würde sich nicht nur die Reichweite europäischer Werte und Institutionen um Hunderte Kilometer gen Osten ausdehnen. Rußland müßte sich mit der Heranführung der Ukraine an die EU endgültig von seinen neoimperialen Träumen verabschieden. (…) Die Ukraine hat deshalb nicht nur als solche für die EU eine große Bedeutung. Sie könnte für den Westen insgesamt zum Tor für eine schrittweise Demokratisierung des riesigen, vormals sowjetischen Territoriums im nördlichen Eurasien werden. (…) Deutschland sollte es – schon aus historischen Gründen – nicht an Beherztheit, Prinzipienfestigkeit und Weitsicht in seiner künftigen Ukraine-Politik fehlen lassen.«[6]

Rent a Revolution

Entgegen dem hierzulande erweckten Eindruck, die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung sei proeuropäisch eingestellt, ist sie in dieser Frage tatsächlich tief gespalten: »Ukrainische Soziologen verweisen darauf, daß sich die Bevölkerung des Landes tatsächlich noch nicht zwischen der EU und Rußland entschieden hat. Laut einer Studie des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew befürworten 39,8 Prozent der Ukrainer einen Beitritt zur Zollunion, während 36 Prozent eine EU-Integration begrüßen würden. 22 Prozent gaben keine klare Antwort. Eine Umfrage der Rating Group ergab dagegen, daß 41 Prozent der Ukrainer für eine Annäherung an die EU und 38 Prozent für die Zollunion sind.« (RIA Nowosti, 22.8.2013)

Aus westlicher Sicht müssen diese Zahlen enttäuschen, hat die Europäische Union doch in den letzten Jahren beträchtliche Summen in die Ukraine investiert. Allein aus dem Topf des Europäischen Nachbarschaftsinstruments flossen zwischen 2007 und 2013 fast eine Milliarde Euro ins Land, der Großteil davon war dafür bestimmt, die ukrainische Verwaltung »fit« für die Implementierung des europäischen Rechts in die nationale Gesetzgebung zu machen und einen proeuropäischen Beamtenapparat sowie eine EU-affine »Zivilgesellschaft« aufzubauen. Und auch wer diese »Zivilgesellschaft« bei den nächsten Wahlen repräsentieren soll, wurde schon längst entschieden, wie etwa aus den Aussagen von Elmar Brok (EVP), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, hervorgeht: »Wir erleben Demonstrationen der Opposition, wie es sie auch schon bei der ›Orangenen Revolution‹ 2004 gegeben hat. Die Bürgerinnen und Bürger protestieren gegen Manipulationen der Regierung Janukowitsch und wollen verhindern, daß das Angebot der Europäischen Union eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommens gegen ihren Willen ausgeschlagen wird. (…) Die Ukraine braucht Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit. Dem Präsidenten fehlt dazu der Mut, er scheut davor zurück, Rußland entgegenzutreten. (…) Den besten Dienst würde er seinem Land erweisen, wenn er jetzt den Weg für Neuwahlen freimachen würde. (…) Witali Klitschko hat das Zeug, bei der nächsten Wahl spätestens 2015 Staatspräsident der Ukraine zu werden.« (Donaukurier, 3.12.2013)

Wie eingangs erwähnt, ist Klitschkos Partei Udar faktisch von der Konrad-Adenauer-Stiftung ins Leben gerufen worden: »Wegen seines Erfolges wurde die Konrad-Adenauer-Stiftung auf ihn aufmerksam; wie der CDU-Politiker Werner Jostmeier berichtet, hat die CDU-nahe Stiftung Klitschko vor geraumer Zeit ›damit beauftragt‹, ›in der Ukraine eine christlich-konservative Partei unterstützend mit auf die Beine zu stellen und zu etablieren‹.« (German-Foreign-Policy.com, 26.11.2013) Darüber hinaus machte sich vor allem noch die konservative Europäische Volkspartei um Udar »verdient«. Der Spiegel (Ausgabe 50/2013) zitiert einen hochrangigen Abgeordneten: »Klitschko ist unser Mann. Der hat eine klare europäische Agenda.«

Anmerkungen
  1. Dimitrovova, Bogdana: Imperial re-bordering of Europe: the case of the European Neighbourhood, in: Cambridge Review of International Affairs, Nr. 2/2012, S. 249–267, S. 254.
  2. Movchan, Veronika/Giucci, Ricardo: Quantitative Assessment of Ukraine’s Regional Integration Options, Institute for Economic Research and Policy Consulting, Policy Paper, 5/2011
  3. Ivanter, Viktor u.a.: The Economic Effects of the Creation of the Single Economic Space and Potential Accession of Ukraine, in: Eurasian Integration Yearbook 2012, Eurasian Development Bank 2012, S. 19
  4. Åslund, Anders: Ukraine’s Choice, PIIE, Policy Brief, September 2013, S. 4
  5. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 74f.
  6. Umland, Andreas: Tor zum Osten oder Krisenherd? in: Internationale Politik, November/Dezember 2013, S. 108–112
* Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.

Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. Februar 2014



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