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Etappensieg für das Völkerrecht

Das Europäische Parlament weist einen Eilantrag der Kommission für ein schnelles Inkrafttreten des neuen Fischerei-Partnerschaftsabkommens mit Marokko zurück

Am Dienstag morgen (4. April 2006) hatte das Europäische Parlament mit 127 gegen 53 Stimmen einen Eilantrag der Kommission zurückgewiesen, wonach die Ratifizierung des umstrittenen Fischerei-Partnerschafts-Abkommens zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko am Parlament vorbei nur durch den Ministerrat erfolgen sollte. Hintergrund sind völkerrechtliche Bedenken; denn dieses Abkommen lässt – wie seine beiden Vorläufer auch – die Südgrenze explizit offen. Dort befindet sich jedoch die Westsahara, die letzte Kolonie Afrikas. Dies wiederum würde bedeuten, dass die europäische Fischereiflotte vor allem die Gewässer der Westsahara abfischen könnte. Auf diesen Zusammenhang machen seit Monaten Akteure aufmerksam, die sich in der Kampagne „fish elsewhere“ („Fangt doch euren Fisch anderswo“) aus ganz Europa zusammengeschlossen haben.

Bereits im Sommer vorherigen Jahres hatte die Europäische Kommission dieses Abkommen ausgehandelt; zum 1. März sollte es in Kraft treten. Allerdings ist das Abkommen wegen seiner völkerrechtlichen Implikationen sowohl im Parlament, zwischen den Mitglieds-Staaten, der Kommission und dem Ministerrat umstritten. Während sich die Abgeordneten der Grünen, Konservativen, Liberalen und der Vereinigten Linken allgemein gegen das angestrebte Eilverfahren aussprachen, stimmten vor allem Sozialdemokraten dem zu. Dieser Fraktion gehören Abgeordnete der in Spanien regierenden Sozialisten an, die sich in vielen Bereichen marokkanischen Positionen angenähert haben und denen mehrfach Verrat an den Sahrauis vorgeworfen worden ist.

Von den Mitgliedsstaaten sind es vor allem Spanien und Portugal, die am meisten von diesem Abkommen profitieren, sowie Frankreich, das praktisch als Sprachrohr Marokkos innerhalb der EU fungiert, die dieses Abkommen in der vorliegenden Form möglichst schnell in Kraft gesetzt sehen möchten. Bedenken hat vor allem die schwedische Regierung angemeldet, weil „sich die EU höchst unglaubwürdig machen würde, wenn sie ein solches Abkommen mit Marokko schließen würde, das die Westsahara mit einbezieht.“ Den schwedischen Bedenken haben sich Dänemark, Deutschland, Finnland, Irland und das Vereinigte Königreich angeschlossen. Mit einem solchen Abkommen ginge ein fatales Signal von Europa aus – nämlich denjenigen in den Rücken zu fallen, die im Vertrauen auf das internationale Recht die Waffen niedergelegt haben und seither vergeblich auf ihr Recht warten.

Seit 30 Jahren hält Marokko die Westsahara besetzt. Während die alte Kolonialmacht – das franquistische Spanien – den Sahrauis das Selbstbestimmungsrecht zumindest verbal immer wieder zugesichert hatte, lehnt Marokko selbst jede Sprachregelung ab, die auch nur vage den Sahrauis ihr Recht auf Selbstbestimmung in Aussicht stellen könnte und schwadroniert statt dessen über „die Marokkanität der Westsahara“. Seit 1991 besteht ein UN – vermittelter beiderseitiger Waffenstillstand, dem im Frühjahr 1992 ein freies und faires Referendum hätte folgen müssen. Dieses Referendum aber verhindert Marokko seither– trotz einschlägiger Resolutionen des Weltsicherheitsrates.

Laut Vertrag erhielte Marokko einen „Finanzausgleich“ von € 144 Millionen. Der Militärhaushalt beträgt etwa US-$ 2,3 Milliarden; also etwa US-$ 6 Millionen pro Tag. Davon fließt der größte Teil in die Besetzung der Westsahara-Kolonie. Die Fürsprecher des Abkommens behaupten, das Geld komme der Bevölkerung zu Gute. Tatsächlich investiert Marokko in seine Fischereiwirtschaft – vor allem in die marokkanische in der Westsahara. Mit anhaltender Besatzung breitet sich Armut im ganzen Königreich aus: Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 20%; etwa 10% der städtischen Bevölkerung Marokkos ist in ghettoartige Vorstädte abgedrängt, wo sie nicht nur von der öffentlichen Vorsorge wie Wasser, Energie, Bildung und Gesundheit abgeschnitten, sondern mittlerweile völlig von der Gesellschaft abgekoppelt sind.

Vom reformerischen Aufbruch des jungen Königs ist heute kaum noch etwas zu verspüren. Umso hartnäckiger beißt er sich in der Westsahara fest: Seit 1999 demonstrieren die Menschen in der Westsahara für ihr Recht auf Selbstbestimmung, ihren Protesten schließen sich zunehmend die Menschen im Königreich an, weil ihre wirtschaftliche Lage immer unerträglicher geworden ist. Seit Mai 2005 kommt es zu massiven Demonstrationen und öffentlichen Kundgebungen gegen die marokkanische Besatzung in der Westsahara; die Proteste greifen auf das Königreich über. In allen Fällen reagiert das marokkanische Regime mit unverhältnismäßiger Härte und Brutalität.

Ende März besuchte der König die Westsahara. Vorsorglich wurden in Al-Aaiun, der Hauptstadt des Landes, alle weggesperrt, die ihm wohl nicht zugejubelt hätten. Großzügig entließ er 37 politische sahrauische Gefangene, deren einziges Verbrechen darin bestanden hatte, mit friedlichen Mitteln ihr Selbstbestimmungsrecht eingefordert zu haben. Berühmte Menschenrechtler wie Ali Salem Tamek waren nicht darunter. Beim Besuch in Dahkla, der zweitgrößten Stadt des Landes, wurden Proteste brutal niedergeschlagen und die Gefängnisse wieder aufgefüllt. Lediglich eine begrenzte Autonomie will der König den Menschen anbieten. Ende April läuft das bestehende Mandat der Vereinten Nationen zur Durchführung eines Referendums wieder einmal aus.

Der Fischerei-Ausschuss des Europäischen Parlaments hatte sowohl Marokko als auch die Frente Polisario gebeten, ihre Positionen zum Abkommen darzulegen: Marokko hat das Gesprächsangebot verweigert. Demgegenüber hat die Frente Polisario immer wieder erklärt, dass sie das Abkommen für völkerrechtswidrig hält und dass es der sahrauischen Bevölkerung nicht zu Gute käme. Vielmehr würde die EU mit diesem Abkommen den Konflikt weiter anheizen und die Arbeit der Vereinten Nationen erschweren.

Das Abkommen wird im Laufe der nächsten Monate im Ministerrat und Europäischen Parlament weiterverhandelt. Die Grünen im Fischereiausschuss haben bereits die Festlegung der Südgrenze im Abkommen vorgeschlagen. Die zivilgesellschaftlichen Akteure der internationalen Kampagne „fish elsewhere“ werden den Verhandlungsprozess genau beobachten und nicht müde werden, Exekutive und Legislative zu einem Abkommen zu drängen, das den Konflikt entschärft anstatt ihn weiter anzuheizen.

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