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Zypern: Nein zur Vereinigung

EU übt Wählerschelte - Kofi Annan blamiert - Türkei gestärkt

Der Wahlkampf um das Referendum über die Wiedervereinigung Zyperns zeigte eine schiefe Schlachtordnung: Die türkischen Hardliner-Separatisten plädierten genauso leidenschaftlich für ein Nein wie die Mehrheit der griechischen Zyprioten. Deren Votum war aber kein Nein zur Vereinigung, sondern ein Nein zu einer Vereinigung unter diesen Umständen. Es gab gute Argumente gegen den von Kofi Annan vorgelegten Abstimmungstext. Die Hauptargumente waren von zyperngriechischer Seite der Verbleib von türkischem Militär auf der Insel, die unvollständige Rückgabe des bei der türkischen Invasion von 1974 zurückgelassenen Besitzes und die Einschränkung der Freizügigkeit von griechischen Zyprern in dem vorgesehenen föderativen Staat, der nach Schweizer Muster konstruiert sein sollte.

Dennoch übte sich ein Teil der Presse im Nachhinein in Wählerschelte und in unmissverständlichen Drohungen an die Adresse der griechischen Zyprioten.Das Abstimmungsergebnis war aber auch eine Blamage für den UN-Generalsekretär, der den Zyprioten eine "Lösung" des Zypernproblems aufzwingen wollte, die für viele keine Lösung sein konnte.


Im Folgenden dokumentieren wir
  1. das Abstimmungsergebnis vom 24. April,
  2. einen Hintergrundartikel über die Aussichten vor dem Referendum,
  3. ein Interview mit einem Professor für Internationale Politik (ebenfalls vor dem Referendum), sowie
  4. ein paar Pressestimmen nach dem Referendum.

Zum Abstimmungsergebnis vom 24. April

Am 25. April meldeten die Nachrichtenagenturen u.a.:

Die Wiedervereinigung Zyperns ist am überwältigenden Widerstand des griechischen Südens vorerst gescheitert. Bei dem Volksentscheid am Samstag votierten dort 75,83 Prozent gegen den UN-Plan, im türkischen Norden stimmten indessen 64,91 Prozent dafür. Damit kann am 1. Mai nur der griechische Teil der Europäischen Union beitreten. Die internationale Gemeinschaft reagierte mit Enttäuschung. Eine einmalige Gelegenheit zur Beilegung des Konflikts sei ausgeschlagen worden, sagte EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen.

Für die Umsetzung des Plans von UN-Generalsekretär Kofi Annan wäre ein Ja in beiden Inselteilen erforderlich gewesen. Die griechische Seite störte sich vor allem daran, dass ihr nur ein beschränktes Niederlassungsrecht im türkischen Norden eingeräumt werden sollte. Da der Süden ohnehin EU-Mitglied wird, blieb die Begeisterung für den UN-Plan unter den 480.000 griechischen Zyprern gering.

Die meisten der 180.000 türkischen Zyprer sahen in dem Annan-Plan und einem möglichen EU-Beitritt indessen die Chance einer besseren Zukunft für ihren seit der türkischen Invasion 1974 isolierten Inselteil. Die Wahlbeteiligung lag mit 87 Prozent im Norden und 88 Prozent im Süden denkbar hoch.

Die Europäische Kommission bedauerte die Ablehnung seitens der griechischen Volksgruppe zutiefst, wie es in einer Erklärung aus Brüssel hieß. Die EU-Kommission dankte den türkischen Zyprern ausdrücklich für ihr Ja und versprach, den türkischen Inselteil bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung zu unterstützen.

Verheugen sagte in der ARD, angesichts der Ereignisse in den zurückliegenden Tagen sei das Ergebnis selbst in dieser Höhe nicht überraschend. Dennoch sei es eine bittere Enttäuschung. Der Präsident der griechischen Zyprer, Tassos Papadopoulos, hatte ungeachtet des hohen internationalen Drucks zur Billigung des Plans bei seinen Landsleuten massiv für ein Nein geworben. Widerstand kam auch vom türkisch-zyprischen Volksgruppenführer Rauf Denktasch. Dagegen hatte der türkisch-zyprische Ministerpräsident Mehmet Ali Talat für ein klares Ja plädiert.

Verheugen zollte der türkischen Seite große Anerkennung dafür, dass sie «sich eindeutig für die Wiedervereinigung und für den Weg zu Europa ausgesprochen hat». Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan rief die EU dazu auf, seine Regierung ebenso wie die nur von Ankara anerkannte Türkische Republik Nordzypern für ihre positive Haltung zu belohnen. Ein neues Referendum schloss er aus.

Dagegen erklärte Papadopoulos, er wolle das Abstimmungsergebnis nicht als Absage an eine endgültige Lösung des Zypern-Konflikts verstanden wissen. Beobachtern zufolge erhofft sich die griechische Seite nach ihren EU-Beitritt eine stärkere Verhandlungsposition. Dabei kann sie sich der Unterstützung Griechenlands sicher sein, wie der Athener Regierungssprecher Theodoros Roussopoulos andeutete.

UN-Generalsekretär Kofi Annan hat das "Nein" der griechischen Zyprer zum UN-Wiedervereinigungsplan bedauert. Zypern habe eine "einzigartige und historische Chance verpasst", seine Probleme zu lösen, erklärte der UN-Sonderbeauftragte, Alvaro de Soto, im Namen Annans in Nikosia. Der UN-Generalsekretär bedauere, dass die türkischen Zyprer nun nicht "auf dieselbe Weise die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft" genießen könnten wie der griechische Südteil der Insel. Gleichzeitig hoffe Annan, dass der Weg gefunden sei, um die "kritische Lage zu erleichtern, in der sich die Bevölkerung ohne eigene Verantwortung" befinde. Annan äußerte die Hoffnung, dass die griechischen Zyprer nach einer nüchternen Analyse zu einem Gesinnungswandel gelangen könnten. Sein Zypern-Beauftragter Alvaro de Soto kündigte unterdessen die Schließung seines Büros auf der Mittelmeerinsel an.

Quelle: AP, dpa, AFP, 25.04.2004

Ergebnis ist völlig offen

Die Zyprioten entscheiden am Sonnabend über eine Wiedervereinigung ihres geteilten Landes
Von Christiane Sternberg, Nikosia

Tassos hatte heftige Worte gefunden: Die Türkei wird uns kolonisieren! Wir dürfen unser Land nicht verkaufen! Zum Schluß hat er auch noch geweint. Und nun halten ihm die Leute vor, er wolle Stimmung machen. Nun gut – seine Ansprache hielt Tassos nicht im Kafeneion an der Ecke, sondern im Fernsehen. Aber schließlich ist er der Präsident der Republik Zypern. »Ich kann meine Meinung sagen wie jeder andere Bürger auch«, meinte Tassos Papadopoulos trotzig zu den Presseleuten.

Die Ansprache des Präsidenten vor zwei Wochen gab im Süden Zyperns den Startschuß zu einer beispiellosen Nein-Kampagne gegen die geplante Wiedervereinigung mit der international nicht anerkannten türkischen Republik Nordzypern. Am Sonnabend sollen die Zyprioten in Nord und Süd beim Referendum darüber entscheiden, ob sie nach 30 Jahren Teilung als »United Cyprus Republic« in die Europäische Union aufgenommen werden wollen. Doch die rund 770 000 Einwohner der kleinen Mittelmeerinsel sind verwirrter als je zuvor.

Abgestimmt wird über den Lösungsplan von UN-Generalsekretär Kofi Annan. Sein 9 000 Seiten umfassendes Werk regelt detailliert das Zusammenleben von Zyperntürken und Zyperngriechen in einem föderativen Staat – bis hin zur prozentualen Farbverteilung auf der neuen Flagge eines vereinten Zyperns.

Unter den Zyperntürken im Norden des Landes überwiegt die Zustimmung zum Plan. Auch wenn den Alten die Erinnerung an den Terror der 60er Jahre noch immer Angst macht. Premier Mehmet Ali Talat hat eine »EVET« (Ja)-Kampagne ins Leben gerufen. Vergeben bedeutet Vereinigung, und Vereinigung bedeutet Europa, und Europa bedeutet wirtschaftlichen Aufschwung für den international nicht anerkannten Norden der Insel.

Für den Süden des Landes ist der Verbleib von 6 000 türkischen Soldaten auf der Insel eine nachträgliche Legalisierung der türkischen Militärinvasion von 1974. Die kommunistische AKEL, einflußreichste Partei des Landes und über Jahrzehnte Verfechter einer Wiedervereinigung, macht ihr »Ja« von Garantien des UN-Sicherheitsrates abhängig. Die ambivalente Haltung der Parteien – auch die rechte DISY favorisiert überraschend ein »Ja« – stürzte die führungsfixierten Zyprioten vollends in Verwirrung.

Die tatsächlichen Kritikpunkte des Annan-Plans, wie die komplizierte Regelung von Rückgabe und Entschädigung des 1974 zurückgelassenen Eigentums, werden im Volk mit Stammtischparolen aufgebauscht: Der Plan sei eine Machenschaft des Pentagon, um Zypern der Türkei auszuliefern. Außerdem fürchten die Zyperngriechen, die Kosten der Einheit – geschätzt werden 13,5 Milliarden Euro – allein tragen zu müssen. Besonders die orthodoxe Kirche macht ihren Einfluß geltend. Bischof Paul von Kyrenia verkündete den Gläubigen, sie kämen in die Hölle, würden sie mit »Ja« stimmen.

Auf den Straßen, in den Autos, selbst an der Schulkleidung der Kinder sind die »Oxi«-(Nein-) Aufkleber allgegenwärtig. In den letzten Stunden vor dem Referendum brodelt die Stimmung. Zwei griechisch-zypriotische Fernsehsender lehnten es ab, Interviews mit EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bzw. den UN-Sonderbeauftragten Alvaro de Soto auszustrahlen. Begründung: Keine ausländische Meinungsmache in der Woche vor dem Referendum. Im Norden demolierte eine 100köpfige Gruppe der rechtsextremen Grauen Wölfe die Autos von Zyprioten, die mit »Evet« (türkisch Ja) oder »Nai« (griechisch Ja) ihre Zustimmung zum Plan an der Windschutzscheibe dokumentierten. Selbst zwei Tage vor dem Referendum war zwar ein Trend, aber kein Ergebnis abzusehen.

Aus: junge Welt vom 23.04.2004

Vor dem Zypern-Referendum

Interview mit Hubert Faustmann, Professor für internationale Beziehungen am Intercollege Zypern

(Moderator: Tillmann Spengler)

Tillmann Spengler: Am Telefon begrüße ich nun Hubert Faustmann, er ist Deutscher, lebt aber seit Jahren im griechischen Teil Zyperns und ist dort am Intercollege Professor für internationale Beziehungen. Guten Morgen Professor Faustmann.

Hubert Faustmann: Guten Morgen, Herr Spengler.

Spengler: Herr Faustmann, die UNO, die EU, die USA, alle wünschen sich, dass beide Bevölkerungsgruppen "Ja" sagen zum Annan-Plan. Werden sie das?

Faustmann: Es sieht nicht sonderlich gut aus. Es ist so, im türkischen Norden ist der Ausgang klar. Es sind nach den letzten Umfragen weit über sechzig Prozent der Türken und türkischen Zyprioten, die im Norden leben für ein "Ja" zum Annan-Plan, der die Lösung vorsieht. Im griechisch-zypriotischen Süden sieht es genau umgekehrt aus, da gibt es eine überwältigende Mehrheit, die wohl mit "Nein" stimmen wird. Es gab noch mal eine Unsicherheit die letzten Tage, weil eine der beiden großen Regierungsparteien, AKEL, ihr "Nein" noch mal in Zweifel gezogen hat und auf weiteren Sicherheitsgarantien des Sicherheitsrats bestand. Die sind wohl in der Form nicht gekommen, wie AKEL sich das gewünscht hat. Wenn AKEL - und danach sieht es aus - bei dem "Nein" bleiben sollte, dann gibt es wohl keine realistische Chance, dass das im Süden hier mit einem "Ja" ausgeht.

Spengler: Die Bevölkerung folgt also den Empfehlungen der Parteien?

Faustmann: Es gibt eine große Unsicherheit gerade hier im Süden. Es ist sicher so, dass die überwältigende Mehrheit gegen den Plan ist und überzeugt werden müsste, dafür zu stimmen. Wenn die große Partei AKEL da nicht die Führung übernimmt, gibt es keine realistische Chance dafür, dass hier die Stimmung umschwingt. Es gibt viele Gründe, warum die Menschen hier im Süden eher dazu neigen, mit "Nein" zu stimmen.

Spengler: Sie sagten, sie müssten überzeugt werden. Wer ja nun überzeugen könnte, das wäre einer wie EU-Kommissar Günther Verheugen. Aber wenn ich richtig informiert bin, kommt er gar nicht zu Wort. Die Zeitung "Sunday Mail" spricht sogar von Zensur, von einem Polizeistaat, der Lügen verbreite und Informationen unterdrücke. Wie gesagt, wir sprechen über den griechischen Süden.

Faustmann: Ja, es ist leider wahr. Es ist sicher so, dass der griechische Süden ein funktionierendender und sehr demokratischer Staat ist. Ihn als Polizeistaat zu bezeichnen ist sehr hart. Aber in dem speziellen Fall ist es leider wahr, dass die leitenden Organe des Staatsfernsehens und einer Privatstation beschlossen haben, keine Ausländer mehr in der Woche vor dem Referendum im Fernsehen zu interviewen, um - das ist das offizielle Argument - die Zyprioten selbst die Entscheidung treffen zu lassen. Das ist natürlich völliger Quatsch. Es ist klar, dass Ausländer wie Günther Verheugen stark für eine Lösung sind und für ein "Ja" , und wenn man denen keine Stimme im Fernsehen einräumt, dann ist das eine Form von Zensur. Das ist eine Form von Zensur, die in einer funktionierenden Demokratie, wie der im Süden, keinen Platz haben sollte, aber leider derzeit stattfindet.

Spengler: Woran liegt denn diese geballte Ablehnung? Was sind die Argumente der Nein-Sager?

Faustmann: Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten. Das sicher stärkste Argument ist, dass die griechisch-zypriotische Seite ihre größte Trumpfkarte, nämlich ihre alleinige Anerkennung als Vertreter ganz Zyperns, bei einem "Ja" aufgibt, weil es dann eine Wiedervereinigung und eine Neugründung eines Staates gibt. Außerdem gibt es keine Garantie, dass die türkische Seite sich unbedingt an ihren Deal, ihre Gegenleistung halten muss, die hauptsächlich darin besteht, dass das Territorium zurückgeht, dass diese Gegenleistung über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren erbracht wird. Gerade, wenn die Türkei, die hinten dran steht, keine Zustimmung zu ihrem EU-Kurs finden sollte, ist es leider denkbar, dass es hier zu Schwierigkeiten kommt und die griechisch-zypriotische Seite sagt, es gibt dann keine Garantie zu Gegenleistungen zu kommen.

Spengler: Aber, wird denn nicht die Gefahr gesehen, wenn man die Vereinigung ausschlägt, dass der Norden dann möglicherweise doch international anerkannt werden könnte und dass die Teilung so zementiert wird?

Faustmann: Die Gefahr ist real. Es ist sicher so, dass es von den europäischen Staaten keine Anerkennung geben wird. Es wird sicher - wenn das Referendum so ausgeht, wie es zu erwarten ist - eine Aufhebung der Wirtschaftsblockade des Nordens geben, es wird vielleicht einige Staaten in der islamischen Welt geben, die den Norden anerkennen. Eine Anerkennung ist derzeit nicht auf der Agenda, aber mittel- bis langfristig besteht die Gefahr. Die große Gefahr ist wirklich, dass die Teilung zementiert wird, wenn es zu einem "Nein" kommt.

Spengler: Haben es eigentlich die griechisch-zypriotischen Eliten versäumt den Bürgern klarzumachen, dass es keine einseitigen Kompromisse geben kann, dass ja nicht nur die Türken Schuld sind, an der Teilung der Insel.

Faustmann: Das gilt für beide Seiten. Hier herrscht auf beiden Seiten ein sehr einseitiges Geschichtsbild vor, bei dem man sich einseitig als Opfer der anderen Seite sieht. Die Wahrheit ist leider ein bisschen komplizierter. Es haben sich beide Seiten einiges an Gewalt angetan und einigen Dreck am Stecken. Aber es ist sicher so, wenn sie jetzt auf die griechisch-zypriotische Seite abheben, dass die ganze Zeit sehr unrealistische Erwartungshaltungen geschürt worden sind, wie denn eine Lösung aussehen könnte, dass alle Flüchtlinge zurückkehren können, dass alle Häuser zurückgegeben werden. Mit der Erwartungshaltung wurden dann die griechischen Zyprioten mit dem Annan-Plan konfrontiert, der das eben nicht in vollem Umfang vorsieht. Dann kann man sicher davon sprechen, dass es ein Versäumnis gibt, sich auf die Art von Lösung vorzubereiten, die es wahrscheinlich geben wird, wenn es denn je eine geben wird.
(...)
Quelle: Deutschlandfunk, 21. April 2004

Pressestimmen zum Ausgang des Referendums

Im Berliner Tagesspiegel heißt es am 25. April (Sonntagsausgabe) u.a.:

Die Hoffnung, die Insel könnte am 1. Mai geeint der EU beitreten, hat sich zerschlagen. Sie ist gescheitert an der Engstirnigkeit der politischen Führer im griechischen Süden, aber auch an den Ängsten vieler Zyperngriechen. Das Misstrauen gegenüber den Türken sitzt offenbar noch tiefer, als man ahnte. Für ihr Nein werden die griechischen Zyprer und ihre Politiker einen hohen Preis bezahlen. Bisher gehörte ihnen die Solidarität der internationalen Gemeinschaft, den türkischen Teilstaat im Norden erkannte niemand an. Dieses Kapital haben die Griechen nun verspielt. Niemand wird mehr hinhören, wenn sie das Unrecht der türkischen Besatzung und die Teilung ihrer Insel beklagen. Die Sympathien wandern zu den türkischen Zyprern. Die EU muss jetzt deren politische und wirtschaftliche Isolation rasch beenden. Die Zyperntürken dürfen nicht Geiseln des griechischen Nein bleiben.

Aus: Tagesspiegel, 25. April 2004

Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte in der Online-Ausgabe am 25. April:

Die EU würde sich gerne über das Jahrhundertereignis der Ost-Erweiterung freuen, stattdessen hat sie sich ein schwelendes Problem im östlichen Mittelmeer einverleibt. Im türkischen Norden sind die Erwartungen gross, nun für die Zustimmung zum Annan-Plan belohnt zu werden. Es gibt sogar Hoffnung auf eine internationale Anerkennung des türkischen Ministaats. Doch das ist nicht im Sinne der EU. Sie wird die Tür für eine Wiedervereinigung offen lassen und wie üblich Geld über das Problem schütten. Man wird vermutlich die Sanktionen gegen die Inseltürken lockern und diese finanziell unterstützen. Nicht abzusehen sind die Auswirkungen des Neins auf das Verhältnis der EU zur Türkei. Theoretisch hat nun Griechisch-Zypern mit 700-tausend Einwohnern das Vetorecht gegen eine EU-Aufnahme der Türkei mit ihren 70 Millionen Einwohnern. Aber in der EU ist Stimmkraft nicht alles. Es kommt auch darauf an, durch Diplomatie zu überzeugen. Diese Fähigkeit hat Griechisch-Zypern vorerst gründlich verspielt.

Aus: NZZ-online, 25.04.2004

In der Frankfurter Rundschau heißt der Sieger des Referendums: Erdogan. Gerd Höhler berichtet in seinem Kommentar ("Alte Feindbilder, neue Gräben") außerdem von den nicht gerade feinen Methoden, mit denen im griechischen Teil der Insel gegen das Referendum Stimmung gemacht wurde. Die dahinter stehenden Sachfragen, die viele bewogen haben könnten, mit Nein zun stimmen, werden dagegen nicht erwähnt.

(...) Das Misstrauen gegenüber den Türken sitzt offenbar tiefer als geahnt. In einer Wählerbefragung nannten drei Viertel derer, die Nein sagten, "Sorge um unsere Sicherheit" als Motiv für ihre Stimmabgabe. Sie misstrauen offenbar auch den Zusagen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, für eine getreue Umsetzung des Einigungsplans zu sorgen.
(...) Die Methoden, mit denen die Nein-Kampagne geführt wurde, passen eher zu einem totalitären Regime als zu einem Staat, der in wenigen Tagen EU-Mitglied sein wird. Ganze Schulklassen wurden mobilisiert, um das Nein zum Annan-Plan auf den Straßen zu propagieren. Der Erziehungsminister gab in einem Rundschreiben Schülern und Lehrern Order, sich Papadopoulos anzuvertrauen und seinem Ratschluss für die "bestmögliche Zukunft Zyperns" zu folgen. Und ultranationalistische orthodoxe Bischöfe warnten, wer dem Annan-Plan zustimme, werde zur Hölle fahren. Von einem fairen Votum kann in diesem Klima der Angst und der Polarisierung kaum gesprochen werden.
(...) Der türkische Premier Erdogan ist strahlender Gewinner des Votums. Er hat sich, trotz des Widerstands der Generäle und der Einwände des kemalistischen Establishments, hinter Annans Zypernplan gestellt. Erdogan nahm damit eine weitere Hürde auf dem Weg seines Landes in die EU - ohne letztlich auf Zypern Zugeständnisse zu machen. Denn das Nein der Inselgriechen sorgt dafür, dass die türkischen Besatzungssoldaten auf Zypern bleiben können. Besser konnte es für Ankara gar nicht laufen.
Die griechischen Zyprer und ihre Politiker dagegen werden ihr Nein teuer bezahlen. (...) Die Sympathien vieler sind jetzt auf Seiten der türkischen Zyprer. Sie ließen sich weder von den Hasstiraden ihres Volksgruppenchefs Denktasch noch vom Terror der aus Anatolien angereisten Grauen Wölfe einschüchtern und stimmten mehrheitlich für die Vereinigung.
Nach dem Scheitern des Annan-Plans droht sich die Spaltung der Insel zu vertiefen. Der türkische Außenminister Gül spricht bereits von einer "permanenten Teilung". Auch Denktasch triumphiert. Er wird hoffen, Nordzypern nun noch enger an die Türkei binden zu können.
Das gilt es zu verhindern, wenn wenigstens die Option auf eine Zypernlösung gewahrt werden soll. Die EU muss die politische und wirtschaftliche Isolation Nordzyperns jetzt beenden. Zwar haben die Inselgriechen mit ihrem Nein der türkischen Volksgruppe die Tür zur EU zugeschlagen. Doch de jure sind auch die Zyperntürken vom 1. Mai an Bürger der Gemeinschaft. Sie dürfen deshalb nicht Geiseln des griechischen Nein bleiben.

Aus: Frankfurter Rundschau, 26.04.2004

Sonja Fercher relativiert im Wiener "Standard" die Wählerschelte, wie sie in zahlreichen deutschen Zeitungen zum Ausdruck kommt. Sie plädiert auch dafür, Zypern eine zweite Chance zu geben. Auszüge:

(...) Eine Manifestierung der Teilung wäre die schlechteste aller Lösungen. Es kann nicht im Interesse der EU sein (die nicht zuletzt zur Überwindung der Teilung Europas gegründet wurde), einen geteilten Staat oder gar zwei zypriotische Staaten in ihrer Mitte zu haben. Ebensowenig kann die EU ein Interesse daran haben, dass auf ihrem Gebiet dauerhaft türkische Truppen stationiert bleiben oder dass die Türkei ihre illegale Siedlungspolitik im Norden fortsetzt. Deshalb sind weitere Verhandlungen, um eine Überwindung der Inselteilung zu erreichen, notwendig. (...) Die Berichte über versuchte Beeinflussung der WählerInnen oder Zensur sind übertrieben, denn Zypern ist eine Demokratie und hat es nicht zuletzt deshalb geschafft, dass es nun in die EU aufgenommen wird. Die Ablehnung hat viel mit Sorgen und Ängsten von Menschen zu tun, die eine türkische Invasion, Vertreibung und Enteignung miterlebt haben. Diese Ereignisse jähren sich dieses Jahr zum 30. Mal und es ist nur allzu verständlich, dass grosse Teile der Bevölkerung davon nach wie vor traumatisiert sind. Ihre Forderungen nach Garantien für den vorgesehenen Abzug der türkischen Truppen aus Zypern etwa sind legtitim. Die türkischen Truppen werden aber noch auf lange Sicht auf der Insel bleiben, da die Türkei sonst niemals einer Friedenslösung zustimmen würde. Für die türkischen Zyprioten war das gestrige Votum ein sehr wichtiger Schritt. Allen Bemühungen der dortigen Nationalisten zum trotz haben sich die WählerInnen gegen die Teilung und für eine Zukunft in der EU entschieden. Der türkische Teil erfüllt aber noch lange nicht alle Forderungen, um den EU-Beitrittskriterien zu entsprechen. Demokratie ist in diesem Inselteil schon allein deshalb beschränkt, weil dort nach wie vor das (türkische) Militär dominiert. Der knappe Sieg der Opposition unter der Führung von Mehmet Talat im Dezember letzten Jahres war ein erster und wichtiger Schritt in Richtung Demokratie. Doch in der Realität ist man davon noch weit entfernt, zu stark ist der Einfluss der Türkei und hier vor allem des Militärs auf Nordzypern. Die BürgerInnen sollten weiterhin dafür kämpfen, dass der eingeschlagene demokratischere Weg weiter verfolgt wird. Die von der EU angekündigte wirtschaftliche Unterstützung des verarmten Nordens kann viel dazu beitragen, dass die Diskrepanzen geringer werden und Ängste abgebaut werden. Für die EU bleibt Zypern aber weiterhin ein wichtiger Gratmesser, um die Ernsthaftigkeit der Türkei bei ihren Bemühungen zu beurteilen, der EU beizutreten.

Aus: Der Standard, 26.04.2004

Auch Detlef D. Pries warnt im "Neuen Deutschland" vor voreiligen Schuldzuweisungen an die Wähler im griechischen Teil der Insel:

Enttäuschung allerorts: in Washington, London, Berlin, bei der UNO und der EU. In der Tat mutet es paradox an: Zyperns Griechen, die seit 30 Jahren für die Wiedervereinigung ihrer Insel kämpfen, haben einen Einigungsplan abgelehnt. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen schilt sie wegen »vorgeschobener Bedenken«. Kein Mensch könne doch glauben, dass ein EU-Mitgliedsland von türkischen Truppen bedroht werden könnte, meint Verheugen. Die Antwort der so Gescholtenen liegt auf der Hand: Warum denn glaubt der EU-Kandidat Türkei, die türkische Minderheit in einem EU-Staat durch tausende Soldaten schützen zu müssen? Es waren zunächst die Türken, die eine Einigung auf der Insel durch die Verweigerung des Truppenabzugs verhinderten. Und der unter Zeitdruck konstruierte Kompromiss verlangte den Griechen mehr Opfer ab, als sie für erträglich hielten. Für CDU-Pfarrer Peter Hintze ist das Ergebnis des Referendums übrigens ein Beleg dafür, »dass Volksabstimmungen zur Herrschaft der Gefühle über die Vernunft führen«. Gefühlsduseliges Volk! In Wirklichkeit belegt der Fall Zypern das Versagen der Politik und die Tatsache, dass sich mit der Erweiterung der EU die nationalen Interessen zwangsläufig zahlreicher und deutlicher artikulieren.

Aus: Neues Deutschland, 26.04.2004

Knut Mellenthin ist in der "jungen Welt" der Auffassung, dass die "Enttäuschung" auf Seiten der EU reine "Heuchelei" sei. Denn am Ende bekäme sie doch, was sie sich vorgenommen habe:

(...) Die Regierungen der EU-Staaten und der USA haben in ersten Stellungnahmen das griechische Nein scharf kritisiert und von einer »verpaßten Gelegenheit« gesprochen. Geradezu persönlich tief beleidigt gab sich der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD), der den griechisch-zypriotischen Politikern schon vor der Abstimmung vorwarf, sie hätten ihn »angeschissen« und »verladen«. Nur aufgrund ihrer Zusagen habe sich die EU 1999 darauf eingelassen, ihre alte Bedingung fallenzulassen, daß die Republik Zypern erst nach einer Einigung mit dem türkischen Bevölkerungsteil in die Union aufgenommen werden kann. Die Griechen hätten ihre Seite des politischen Geschäfts nicht eingehalten, wirft Verheugen ihnen vor.
Sachlich betrachtet ist Verheugens Darstellung unglaubwürdig. 1999, bevor der UN-Generalsekretär die Verhandlungsführung übernahm und seinen ersten konkreten Plan vorlegte, konnten die griechisch-zypriotischen Politiker selbstverständlich nur sehr allgemeine Aussagen über ihre Bereitschaft zur Wiedervereinigung der Insel machen. Die Europäische Union hatte sich damals mit der Aufhebung ihres jahrelang vertretenen Junktims zwischen Einigung und EU-Beitritt bewußt dafür entschieden, jeden Druck zu Kompromissen von der griechisch-zypriotischen Seite zu nehmen. Das bedeutete grünes Licht für das Nein vom Wochenende. Und das war nicht vorauszusehen? Oder anders: Hat denn die EU überhaupt etwas anderes gewollt als genau dieses Ergebnis? Wollte sie den rückständigen, durch außenpolitische Isolierung und harte Embargomaßnahmen zusätzlich verelendeten türkischen Norden der Insel denn wirklich am 1. Mai 2004 in die Union aufnehmen? Ein Gebiet, das ärmer und problembeladener ist als die Türkei oder auch Bulgarien und Rumänien, die von der EU alle auf die Wartebank verwiesen wurden? Ein Gebiet, das zur Zeit noch am Investitionstropf der Türkei hängt, mit geschätzten jährlichen Zuschüssen von insgesamt etwa einer Milliarde Euro, die die EU belasten würden, wenn die Volksabstimmung anders ausgegangen wäre?
Die EU wird als Reaktion auf das griechische Nein in absehbarer Zukunft vermutlich die seit der türkischen Invasion 1974 verhängte Isolierung und Ächtung Nordzyperns lockern. Wirtschaftshilfe und Investitionen sind schon in Aussicht gestellt. Der türkische Teil der Insel wird schrittweise, im Verlauf eines mehrjährigen Zeitraums, an die Union herangeführt werden. Also vermutlich genau das, was von der EU beabsichtigt war. Die »Enttäuschung« ist nur Heuchelei.

Aus: junge Welt, 26.04.2004


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