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Nach der Vertrauensfrage im Bundestag: Noch nie so viele persönliche Erklärungen

Wie eine Entlastung des Gewissens nach der erzwungenen Abstimmung

Nach einer Umfrage bei den Fraktionen gaben mindestens 65 SPD-Abgeordnete, 24 Grüne, drei Unionspolitiker und die fraktionslose Christa Lörcher ihre Erwägungen zu Protokoll. Wie viele es genau waren, lässt sich erst ermitteln, wenn die Bundestagsverwaltung das Protokoll veröffentlicht. Persönliche Erklärungen häufen sich bei wichtigen Abstimmungen. Doch an eine so hohe Zahl wie an diesem 16. November 2001 konnte sich niemand erinnern. Bei der Asyldebatte 1993 zum Beispiel wurden 44 persönliche Erklärungen abgegeben.


Erklärung der sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Rüdiger Veit, Konrad Gilges u.a.

Erklärung nach § 31 GOBT zum Antrag des Bundeskanzlers gem. Art. 68 GG in Verbindung mit der Abstimmung zum Antrag der Bundesregierung "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen" der Abg. Rüdiger Veit, Konrad Gilges, Harald Friese, Reinhold Hemker, Horst Kubatschka, Konrad Kunik, Götz-Peter Lohmann, Christine Lucyga, Adi Ostertag, Renate Rennebach, Gudrun Roos, René Röspel, Horst Schmidbauer, Ottmar Schreiner, Sigrid Skarpelis-Sperk, Waltraud Wolff.

Wir erklären, daß wir dem Antrag des Bundeskanzlers gem. Art. 68 GG, den er in Verbindung mit dem Antrag der Bundesregierung "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen" gestellt hat, zustimmen.

Wir stimmen zu in Anbetracht der Konsequenzen einer Ablehnung für die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung, die weiter dazu führen müssten, dass die von uns uneingeschränkt getragene sozialdemokratisch-bündnisgrüne Bundesregierung an ihr Ende kommen könnte.

Eine andere Regierungskoalition aber würde die politische, soziale und wirtschaftliche Lage für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die gesellschaftlich Benachteiligten sicher verschlechtern und sie zu den Leidtragenden einer nach rechts rückenden politischen Konstellation machen. Das können und wollen wir nicht verantworten!

Uns ist der Konflikt zwischen der Regierungsfähigkeit der rot-grünen Koaltion und unserer entschiedenen Ablehnung des Antrages auf "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte ..." aufgezwungen worden.

Bei unserer Bejahung der Fortsetzung der sozialdemokratisch-bündnisgrünen Regierung wird sich nichts an unserem grundsätzlichen Nein gegen den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes ändern.

1.Krieg ist nach unserer Überzeugung kein geeignetes Mittel im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Wir zweifeln im Bewußtsein der Folgen des Krieges, die für die Beteiligten und Unbeteiligten immer eine große Katastrophe bis zum Tode bedeuten, an dem Sinn der kriegerischen Maßnahmen.

2.Aus prinzipiellen Gründen lehnt die Mehrheit der Unterzeichner ab, dass die Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes zu Kampfhandlungen bereitgestellt und eingesetzt wird.

3.Wir weisen die Bevollmächtigung der Bundesregierung (Exekutive) über eine Bereitstellung von Kampfverbänden durch den Deutschen Bundestag zurück. Damit wird die Verantwortung des Parlaments (Legislative) über den Einsatz von Soldaten auf die Bundesregierung übertragen und damit seine verfassungsrechtlich gesicherte Verantwortung für ein verfassungsgemäßes Gebot abgetreten.

4.Wir stehen in der Tradition der SPD, die stolz darauf ist, dass in der fast 140jährigen Geschichte "die SPD das deutsche Volk nie in einen Krieg geführt hat". Wir unterstellen damit nicht, dass die Entscheidung für die Bereitstellung der 3.900 Soldaten an die Regierung das Ende dieser Tradition bedeutet. Wir sehen vielmehr die große Gefahr der Eskalation in der genannten Region.

5.Wir haben berücksichtigt, dass die Legitimation für die kriegerischen Handlungen auf Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gegeben ist, aber die Mehrheit der Unterzeichner zweifelt wegen des Verstoßes gegen den völkerrechtlich anerkannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel die völkerrechtliche Legitimität des Bombardements auf afghanischem Gebiet an.

Wir fordern im Rahmen dieser Erklärung nochmals nachdrücklich die Bundesregierung auf, alle ihre Möglichkeiten wahrzunehmen, um das menschliche Elend, was durch das Taliban-Regime sowie durch andere autoritäre und menschenverachtende Systeme in dieser Region entstanden ist, zu lindern. Aus unserer eigenen europäischen Tradition der Aufklärung haben wir erfahren, dass die Emanzipation der Völker sowie ihrer Bürgerinnen und Bürger einer demokratischen und insbesondere einer sozialen Grundlage sowie der Herstellung von Menschenrechten und sozialen Rechten bedarf.


Erklärung nach § 31 GO des Deutschen Bundestages der Abgeordneten Andrea Nahles, Detlev von Larcher u.a.

Zum Antrag des Bundeskanzlers nach Art. 68 Abs.1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Antrag der Bundesregierung "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolution 1368 (2001) und 1373 (20019 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (Drucksache 14/7296)

Bundeskanzler Gerhard Schröder verbindet die heutige Abstimmung über den Einsatz der deutschen Streitkräfte im Kampf gegen den internationalen Terrorismus mit der Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die Unterzeichner erklären, dass sie der SPD-geführten Bundesregierung und Bundeskanzler Gerhard Schröder ihr volles Vertrauen aussprechen.

Gleichwohl machen wir uns die Entscheidung in der Sachfrage um den Einsatz der deutschen Bundeswehrsoldaten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht leicht.

Nach mehr als 20 Jahren Krieg in Afghanistan wünscht sich der größte Teil der afghanischen Bevölkerung nichts mehr als Frieden und die Überwindung von Unterdrückung. Darum wird die Bundesregierung aufgefordert auf das schnellst mögliche Ende des Bombardements und der Kampfhandlungen hinzuarbeiten und verstärkt humanitäre Hilfe zu leisten.

Das amerikanische Volk hat nach dem 11.September 2001 ein Anrecht auf unsere volle Solidarität. Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit. Eine uneingeschränkte Solidarität setzt daher partnerschaftliche Mitbestimmung und umfassende Information voraus. Uneingeschränkte Solidarität kann kein bedingungsloses Nachvollziehen der amerikanischen Militärstrategie bedeuten. Für uns ist das humanitäre Kriegsvölkerrecht (Haager und Genfer Konventionen) der entscheidende Maßstab. Der terroristische Angriff vom 11.September 2001 hat die gesamte Völkergemeinschaft getroffen. Unsere Antwort muß den Prinzipien des Völkerrechtes folgen. Artikel 57 des Zusatzprotokolls der Genfer Konvention von 1949 besagt: "Wer einen Angriff plant oder beschließt, hat alles praktisch mögliche zu tun, um sicherzugehen, daß die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind. Er hat von jedem Angriff Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, daß es auch Verluste unter der Zivilbevölkerung oder zur Beschädigung ziviler Objekte kommt, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten oder unmittelbaren militärischen Vorteil stehen." Wir haben Vertrauen darauf, daß die Bundesregierung ihren Einfluß geltend macht, den Einsatz von Streubomben zu verhindern. Wir erwarten von Bundeskanzler Schröder, dass er für die Dauer des militärischen Einsatzes seinen Einfluß dahin gehend nutzt, die Amerikaner zum zielgenauen Einsatz der Bomben nur auf militärische Ziele und Einrichtungen terroristischer Netzwerke ausschließlich in Afghanistan zu bewegen.

Wir teilen die Besorgnis vieler Bürgerinnen und Bürger vor einer Ausweitung des Konfliktes durch Maßnahmen, die nicht mit der deutschen Seite abgestimmt sind. Ein Übergreifen des Konfliktes auf andere (arabische) Länder ist unbedingt zu verhindern, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Wir begrüßen daher die im Regierungsantrag manifestierte Einschränkung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan: "Deutsche Kräfte werden sich an etwaigen Einsätzen gegen den internationalen Terrorismus in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung beteiligen." Es wird festgestellt, daß diese Haltung in der Europäischen Gemeinschaft breite Unterstützung findet. Die europäische Staatengemeinschaft sollte ihren Einfluß in diesem Sinne innerhalb der Koalition gegen den internationalen Terrorismus geschlossen vertreten und ihm auf diesem Wege zur Geltung verhelfen.

Zu den mittel- und langfristigen Handlungsnotwendigkeiten zählen eine Stärkung der Vereinten Nationen, eine Weltordnungspolitik (Global governance) und tiefgreifende Reformen der Weltwirtschaftspolitik. Institutionen wie Weltbank, IWF und UN-Sicherheitsrat müssen endlich für einen fairen Nord-Süd-Ausgleich sorgen. Angesichts der dramatischen Armut in der Welt hat sich die internationale Gemeinschaft auf folgende gemeinsame Ziel zu verpflichten:
  1. Armutsbekämpfung
  2. Politik für die Chancengleichheit aller Menschen und Völker in einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung
  3. Weitere Erhöhung der Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit
Wir begrüßen das Bemühen von Außenminister Joschka Fischer und der Bundesregierung im Nahostkonflikt zu vermitteln und der Gewalt Einhalt zu gebieten und zu einer politischen Lösung zu kommen. Wir erwarten jedoch, dass die USA eine deutlich stärkere Rolle in diesem Konflikt einnehmen. Israel und Palästina haben jeweils das Recht auf einen eigenständigen Staat und ein Leben in gesicherten Grenzen.

Wir begrüßen die Zusicherung der Bundesregierung, daß die deutschen Streitkräfte einem deutschen Kommando unterstellt werden. Darüber hinaus verweisen wir auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994 zum Auslandseinsatz der deutschen Bundeswehr, wonach der Deutsche Bundestag zu jeder Zeit die im Einsatz befindlichen Streitkräfte zurückholen kann, wenn er dies für geboten hält. Wir behalten uns eine derartige Initiative ausdrücklich vor.

Wir unterstützen, dass der Bundeskanzler die Notwendigkeit von politischen, diplomatischen und humanitären Anstrengungen öffentlich betont. Wir unterstützen die Bemühungen der Bundesregierung, im Verbund mit der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinten Nationen einen demokratisch legitimierten Post-Taliban-Prozeß in Afghanistan voranzutreiben. Im Rahmen eines Marschallplanes muss der zivile und wirtschaftliche Wiederaufbau in der Region politisch und ökonomisch gewährleistet werden. Ein Neuanfang muß alle ethnischen und politischen Gruppen in Afghanistan einbeziehen. Wir erwarten zusätzliche und konkrete Initiativen um die Situation der Flüchtlinge in den Wintermonaten zu verbessern, damit es zu keiner humanitären Katastrophe kommt. Die Flüchtlingshilfe muß dabei klar von militärischen Aktionen getrennt werden. Wir begrüßen die Aufstockung der Hilfsprogramme der Bundesregierung auf 85 Mio DM und die Bereitstellung von EU-Mitteln in Hohe von 700 Mio DM. Wir unterstützen die Bemühungen der Bundesregierung im Rahmen des Post-Taliban-Prozesses die Rechte der afghanischen Frauen und von Minderheiten im Demokratisierungsprozess sicherzustellen

Der 11.September 2001 war eine reale Kriegserklärung an potentiell jedes zivilisierte und friedensliebende Land. Es ist notwendig, Osama bin Laden und seinen Unterstützern das Handwerk zu legen und sie vor ein internationales Strafgericht zu stellen. Der UN-Sicherheitsrat hat in zwei einstimmig beschlossenen Resolutionen die Terroranschläge vom 11. September als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit eingestuft und dazu aufgerufen, die Terroristen und ihre Hintermänner, aber auch die Länder, die ihnen Schutz gewähren, zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Resolutionen legitimieren auch militärische Maßnahmen. Auf dieser Basis hat die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall festgestellt. Wir sind nach intensiver Abwägung der angeführten Argumente bereit, einer Beteiligung deutscher Streitkräfte zuzustimmen.


Winfried Nachtwei:
Offener Brief an die KollegInnen der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Vor der Entscheidung: Schwarzer Freitag für Rot-Grün?


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

(1) Wir Bündnisgrünen stehen mit der Bundestagsabstimmung über Bundeswehreinsatz und Vertrauensfrage vor den schwierigsten und schwerwiegendsten Entscheidungen seit Gründung der Partei.

Die Entwicklungen der letzten Wochen sind so rasant, vielschichtig und riskant, dass kaum noch mitzukommen ist. Politik muss sich in diesen rasenden Realitäten orientieren, verhalten - und überzeugen. Die rot-grüne Bundesregierung hat seit dem 11. September in hervorragender Weise zum internationalen Krisenmanagement und zu einer umfassenden politischen Bekämpfung des Terrorismus beigetragen. Zugleich war sie nur zum Teil überzeugend: "Uneingeschränkte Solidarität" wirkte wie ein Schulterschluss mit Streubomben und zivilen Opfern und schürte - historisch vollauf begründete - Ängste vor einem afghanisch-amerikanischen Kriegsabenteuer und einer unabsehbaren Eskalation in der islamischen Welt.

Über und nach dem Kosovo-Krieg verlorenes Vertrauen behinderten gerade bei den Anhängern von Rot-Grün einen Vertrauensvorschuss. Verdrängte Diskussionen über die gewachsene Verantwortung der Bundesrepublik in der Welt und die Rolle des Militärischen dabei fallen Rot-Grün jetzt auf die Füße und Köpfe. Das alles schürt zusammen mit den Kriegsbildern der letzten Wochen den beispiellos breiten Widerstand in der Partei gegen eine Bundeswehrentsendung.

(2) Noch Anfang der Woche sprachen für mich erhebliche Argumente gegen die Entscheidung:

Undurchsichtig war die US-Militäroperation "Enduring Freedom", ihre vor allem über Afghanistan hinausgehende Strategie, politische Einbindung und bisheriger Stand. Die Luftangriffe schienen durch Solidarisierungsffekte in Afghanistan und der islamischen Welt die Taliban und Al Qaeda eher gestärkt als geschwächt zu haben.

Die Bundeswehr sollte ohne genaueren Auftrag in diesen "strategischen Nebel" entsandt werden - und das mit verminderter parlamentarischer Kontrolle. Damit waren die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen nicht gegeben. (vgl. taz 8.11., FR 9.11.)

(3) Am Morgen des 9.11. galt im Verteidigungsausschuss die militärische Lage in Afghanistan noch als statisch mit wenig Anzeichen von Veränderungen. Stunden später begann die Flucht der Taliban, das Vorrücken der Nordallianz, das Überlaufen vieler Kommandeure. Städte fielen nach dem Dominoeffekt. Allen vorherigen Behauptungen von wirkungsloser US-Militärstrategie zum Trotz war die Kombination von Luftangriffen, Beratungs- und Ausbildungshilfe für die Nordallianz und psychologischen Operationen offenbar wirksam. Unsere Kritik an Streubomben und unverhältnismäßigem Vorgehen bleibt dennoch richtig.

Millionen Menschen werden gerade frei vom Taliban-Terror. Auch wenn Gegenwart und Zukunft unsicher sind: Nach Jahrzehnten Krieg ist das eine phantastische Hoffnung. Die Bilder davon werden nun auch ihre Wirkung in der islamischen Welt haben.

Wo bisher Taliban-Willkür und Luftangriffe humanitäre Hilfe von außen erschwerten oder verhinderten, sind nun die Zugangsmöglichkeiten schlagartig verbessert. Humanitäre Hilfe kommt jetzt auf vollen Touren auch über Flughäfen ins Land.

Die Kämpfe sind nicht zu Ende, sie können auf dem Land noch länger dauern. Aber ein "Krieg gegen Afghanistan", wie unsere acht KollegInnen in ihrer Erklärung vom 10.11. die Luftangriffe auf das Taliban-Regime nannten, findet ersichtlich nicht statt. Jetzt rückt ausgehend von Stützpunkten im Land die eigentliche Verfolgung der Terroristen mit Kommando-truppen in den Vordergrund. Auch wenn noch niemand von Al Qaida verhaftet wurde: Das Netz wird - zusammen mit dem internationalen Fahndungsdruck - enger.

Dabei kommt es auch darauf an, den internationalen islamistischen Söldnern und Al-Qaida-Kämpfern die Fluchtwege z.B. nach Somalia abzuschneiden.

(4) Viel schneller als erwartet beginnt der Post-Taliban-Prozess, für den erste Anstöße vor sechs Wochen aus Berlin kamen. Der VN-Afghanistan-Beauftragte Brahimi hat einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt. Die "Internationale Gemeinschaft" übernimmt mit aller Kraft Mitver-antwortung für den komplizierten Friedensprozess, der in erster Linie von innen getragen werden muss, bei dem aber die VN eine zentrale Rolle spielt.

Dieser ganze Prozess würde gefährdet und zerstört, wenn die USA der Linie der Hardliner folgen würden und nun mit Somalia und dem Irak "weitermachen" würden.

(5) In diesem erheblich günstigeren Kontext fällt nun die Bundestagsentscheidung über die Bereitstellung von 3.900 Bundeswehrsoldaten. Es sind in der Masse Unterstützungs-, Rettungs- und maritime Überwachungskräfte. Der ABC-Fuchs ist vor allem vorgesehen zum Schutz gegen befürchtete nukleare Terroranschläge - ausdrücklich nicht für einen Bodeneinsatz z.B. im Irak. Die kleine Kampfkomponente von 100 Spezialsoldaten dient dem gezielten Zugriff auf Terroristen. Mit Festnahmen von mutmaßlichen Kriegsverbrechern in Bosnien hat das KSK hierin besondere Einsatzerfahrung. Kampfflugzeuge und Bodentruppen - dafür gab es ursprünglich Vorschläge - sind ausgeschlossen.

Von der Soldatenzahl her ist der deutsche Beitrag vergleichbar mit denen von Großbritannien, Frankreich, Italien und anderen Verbündeten. Von der Zusammensetzung her ist er ausgesprochen "zurückhaltend". Angesichts der Lageentwicklung ist es möglich, dass der deutsche Beitrag nur noch zum Teil gebraucht wird.

(6) Da der Antrag der Bundesregierung den Auftrag der Bundeswehrkräfte nur allgemein mit "militärischer Bekämpfung des internationalen Terrorismus" beschrieb und der Mix an Fähigkeiten in der Öffentlichkeit oft nicht zur Kenntnis genommen wurde, erschien das wie ein Blankoscheck für einen entgrenzten Antiterrorkrieg und war Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Der Verdacht entstand, als würden nun deutsche Soldaten in den Afghanistankrieg ge-schickt, der "unverhältnismäßig" ist, da "ein ganzes Land zum Ziel eines Krieges macht" und ein "nach zwanzig Kriegsjahren weitgehend zerstörtes Land weiter verwüstet" und die "verzweifelte humanitäre Katastrophe verschärft". (Positionspapier der acht grünen MdB's vom 10.11.)

Auf Forderung des Grünen Parteirats hin erreichte die Fraktionsspitze, dass dem Kabinettsbeschluss eine Protokollnotiz zugefügt wird, die den Auftrag der Bundeswehrunterstützung er-heblich eingrenzt und einer deutlicheren parlamentarischen Kontrolle unterzieht.

Zusätzlich erarbeiteten wir zusammen mit der SPD einen Entschließungsantrag, der im Hinblick auf militärische Maßnahmen die Normen des Völkerrechts betont und wesentliche politische Aufgaben bestimmt, mit denen den Nähr- und Resonanzböden des Terrorismus entgegengewirkt werden muss. Der Antrag überwindet die sonst überwiegende Militärlastigkeit in der laufenden Auseinandersetzung.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Bekämpfung des entgrenzten transnationalen Terrorismus ist eine langwierige, hochkomplexe Aufgabe mit vielen Unwägbarkeiten, sie ist in vie-ler Hinsicht Neuland, vor allem für deutsche Sicherheitspolitik, erst Recht für die Öffentlichkeit und die Bündnisgrünen.

Der Fraktion ist es in den letzten Tagen gelungen, den deutschen militärischen Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus einzugrenzen und kontrollierbarer zu machen und vor allem politisch einzubetten. Ohne die Initiative der Grünen und die Verständigungsbereitschaft der SPD hätte es das so nicht gegeben.

(7) Die Angst vor einem afghanischen Kriegsabenteuer ist historisch und angesichts der Bilder letzten Wochen voll auf begründet, auch die Ablehnung einer "uneingeschränkten" Solidarität mit den USA, die meist als bedingungslose verstanden wird.

Wo der Krieg in Afghanistan schrumpft und sich Eskalationsgefahren erheblich reduzieren, wo die eigentliche Terroristenverfolgung in den Vordergrund tritt und sich politische Lösungen anbahnen, da geht es erst Recht nicht mehr um eine "Teilnahme am Afghanistan-Krieg", sondern noch deutlicher um gezielte Terroristenverfolgung - und immer mehr um Unterstützung des Post-Taliban-Prozesses.

Deshalb ist eine Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung, die vor einer Woche nur eine auf Treu und Glauben hätte sein können, nun viel eher verantwortbar.

Davon unabhängig bleiben erhebliche Zweifel vor allem gegenüber der politischen Gesamtstrategie der USA.

(8) Die Verknüpfung der Sachentscheidung mit der Vertrauensfrage mag aus Sicht des Kanzlers plausibel sein. Für freie Abgeordnete ist das eine enorme Belastung und Bevormundung. Statt die breite Opposition gerade in SPD und Grünen, aber auch in der Bevölkerung insgesamt zu überzeugen, Befürchtungen vor einem "rot-grünen Vietnam" zu entkräften, setzt er auf sein Machtwort. Eine solch Art Durchboxen behindert die gesellschaftliche Konsensbildung, die gerade in der Sicherheitspolitik unverzichtbar ist.

Das trifft mich und viele andere KollegInnen in unserer demokratischen und parlamentarischen Identität. Es legt einen "Aufstand des Gewissens" nahe.

Jede Gewissensentscheidung hat aber die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu berücksichtigen, andernfalls wäre sie bloß selbstbezogen und unverantwortlich:

Was bewirkt das eigene Abstimmungsverhalten in der Sache (Bundeswehrentsendung, Afghanistan-Krieg, Terrorismusbekämpfung, internationales Krisenmanagement), was für das grüne und das rot-grüne Projekt?

Ein NEIN würde Festigkeit und Glaubwürdigkeit signalisieren und auf die Anerkennung vieler verzweifelter Grünen-Anhänger stoßen. Es würde zugleich an der Bundeswehrentsendung nichts ändern, für die eine breite Mehrheit im Parlament zur Verfügung steht (wobei sich CDU/CSU voraussichtlich ihre Zustimmung mit einer Erhöhung des Wehretats erkaufen würden). Es würde Rot-Grün unwiderruflich beenden und bei Neuwahlen im Januar die Grünen absehbar in ein Desaster führen. Hoffnungen, sich unter den Bedingungen in der Opposition "erholen" zu können, sind illusorisch.

Wir sind in einer Situation, wo einzelne Abgeordnete so viel "bewirken" können wie nie sonst in einem normalen PolitikerInnenleben. Allerdings wären die Wirkungen überwiegendst ver-heerender Art. Die Briefe von Hermann Scheer und Erhard Eppler machen das überaus deutlich.

Für Konsequenzen dieser Tragweite kann und darf kein Abgeordneter allein die Verantwortung übernehmen. Darüber kann nur der Bundesparteitag befinden.

Ich bitte Euch eindringlich und herzlich, das alles zu bedenken und gewissenhaft-verantwortlich zu entscheiden.

Euer Winni Nachtwei


Michaele Hustedt:
Persönliche Erklärung zur Abstimmung, 6.11.2001


Zum TOP 3: Beteiligung der Bundeswehr an internationaler Terrorbekämpfung und Vertrauensfrage

Ich habe mit ja zum Einsatz deutscher Soldaten für die Terroristenbekämpfung gestimmt. Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Es ist wohl die schwerwiegendste Abstimmung an der ich als Bundestagsabgeordnete bisher teilnehmen mußte. Ich bin meinem Gewissen gefolgt und dem, was mir mein Herz und mein Verstand unter Abwägung möglichst vieler Aspekte gesagt haben.

Der 11. September hat mir auf erschreckende Weise vor Augen geführt, dass ich bisher in meinem Weltbild eine große Gefahr für den Frieden in der Welt ausgeblendet hatte: den internationalen Terrorismus, getrieben von religiösem oder anderem Fanatismus. Wer unter Aufgabe seines Lebens bereit ist, Flugzeuge zur Bombe zu machen, um tausende von unschuldigen Menschen zu töten, der ist zu jeder unmenschlichen Tat fähig: Auch zum Einsatz von biologischen, chemischen und atomaren Waffen genauso wie zum Angriff auf ein AKW oder eine Chemiefabrik. Ich haben die erschreckende Überzeugung, dass der Angriff auf New York und Washington erst der Anfang war - wenn wir nichts dagegen tun. Und ich befürchte zudem, dass auch Angriffsziele in Europa gesucht werden. Die Gefährlichkeit dieser Terroristen zu unterschätzen, kann viele weitere Menschenleben kosten. Wer hier nicht handelt macht sich schuldig.

Inzwischen müssen wohl auch Skeptiker (und auch ich war zwischendurch skeptisch) zugeben, dass der militärische Einsatz in Afghanistan erfolgreich war. Es ist ein Beitrag zur Terroristenbekämpfung, wenn das Taliban-Regime in Afghanistan abgelöst und durch eine andere Regierung unter Begleitung der UN ersetzt wird. Das Regime ist aufs Engste mit Bin Laden verknüpft. Die Taliban haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie das Land immer als Basisstation für ihn zur Verfügung stellen würden. Zudem sind die Taliban grausam gegen die eigene Bevölkerung. Das reicht von der Unterjochung der Frauen über eine Terror-Justiz bis dahin, dass unter ihrer Regierung (und nicht etwa erst durch den Krieg) Hundertausende zu Flüchtlingen geworden und des Hungers gestorben sind. Nun kann wahrscheinlich fast allen der ca. 3-5 Millionen Flüchtlingen geholfen werden. Dies ist eine entscheidene Wende. Aber weder sind die Taliban endgültig besiegt noch erst Recht der Frieden gewonnen. Jetzt müssen alle Kräfte mobilisiert werden für eine stabile Nach-Taliban-Ordnung. Dafür haben wir trotz schwieriger Haushaltslage 160 Mio. DM neu eingestellt. Zusätzlich unterstützen wir die humanitäre Hilfe in Afghanistan mit 96 Mio. DM.

Nicht alles fand und finde ich dabei akzeptabel: Den Einsatz von Streubomben lehne ich nach wie vor ab. Sie sind eine unnötige Grausamkeit. Ich erwarte zudem, dass alles menschenmögliche getan wird, um Fehlabwürfe auf zivile Ziele zu vermeiden. Für diese Art der Kriegsführung gibt es von mir keine "uneingeschränkte", sondern nur eine "kritische" Solidarität.

Für meine Zustimmung war nicht zuletzt entscheidend, dass wir Grüne in wesentlichen Punkten das Mandat zum Einsatz konkretisiert haben. Dazu gehört:
  • Dass das Operationsziel sich allein gegen die terroristischen Netzwerke Bin Ladens und Al Quaida und die Unterstützer richtet (analog zur UN-Resolution).
  • Dass die 100 Spezialkräfte polizeilich-militärische Aufgaben wahrnehmen, z.B. Geiselbefreiung und Verhaftungen und nicht am Bodenkrieg teilnehmen.
  • Dass weder ein Einsatz im Irak noch in Somalia geplant ist.
  • Dass es keine Unterordnung deutscher Streitkräfte unter amerikanisches Kommando gibt, sondern die Bundesregierung die Entscheidungshoheit hat.
  • Dass es eine regelmäßige Information und Diskussion im Parlament gibt, insbesondere wenn sich etwas wesentliches am Mandat ändern sollte.
Zudem werden wir in einem parallelen Bundestagsbeschluß deutlich machen, dass die Entmilitarisierung des Konfliktes (unter Regie der Vereinten Nationen), der Aufbau eines zivilen und freien Afghanistans und vor allem die humanitäre Versorgung der Menschen absoluten Vorrang haben müssen. Für die Zukunft ist klar: Eine langfristige Strategie der Konfliktprävention, fairer Welthandel, Armutsbekämpfung, Entschuldung, Einsatz für Menschenrechte weltweit und der Dialog der Kulturen wird dazu beitragen, dass fanatische Terroristen sich nicht mehr auf bestehende Ungerechtigkeiten beziehen können zur vermeintlichen Rechtfertigung ihrer Untaten.

Ich stimme auch aus großer Überzeugung mit ja, dass wir dem Bundeskanzler Schröder unser Vertrauen aussprechen. Ganz entscheidend für meine Zustimmung ist mein Vertrauen in Joschka Fischer. Noch nie hatten wir Grüne so einen großen Einfluß auf die internationale Politik. Dies ist vor allem dem Außenminister selbst zu verdanken. Mit ihm ist deutsche Außenpolitik stärker als bislang erkennbar auf Integration, Konfliktvermeidung und Entwicklung ziviler Perspektiven gerichtet - in Asien wie in Amerika, in Europa und im Nahen Osten - sie ist nicht nur zivile Außenpolitik, sie ist darüber hinaus zu guten Teilen auch grüne Außenpolitik. Der grüne Außenminister betreibt diese Politik mit großer Glaubwürdigkeit und mit einem hohen persönlichen Einsatz.

Man kann nicht gegen diese Politik stimmen und gleichzeitig Joschka Fischer unterstützen! Wer mit nein stimmt, hat auch die gesamte Verantwortung für die Konsequenzen für die rot-grüne Koalition und die grüne Partei zu tragen. Als erstes die Konsequenz, dass die rot-grüne Koalition beendet sein kann.

Eine andere Außen- und Weltinnenpolitik, die allen Völkern der Erde eine Perspektive gibt, ist eine langfristige Aufgabe. Das grüne Leitbild ist die nachhaltige Entwicklung. Wir haben in den drei Jahren Regierungsbeteiligung einiges erreicht. Aber es wäre vermessen zu glauben, dass man in drei Jahren in Deutschland, erst recht einen völlig neuen Kurs durchsetzen könnte. Das braucht Zeit. Und die möchten wir dieser Koalition geben. Nicht nur bis zur Wahl im Herbst 2002, sondern auch in der nächsten Legislaturperiode.

Dies gilt auch für andere Politikfelder. Viele unserer Projekte sind noch auf der Zielgeraden: Atomausstiegsgesetz, KWK-Gesetz, Einwanderungsgesetz, Naturschutzgesetz (muß noch durch den Bundesrat) und vieles mehr. Auch sind andere angestoßene Entwicklungen, z.B. die Förderung der erneuerbaren Energien, die Ökosteuer, die Förderung der Bahn, die Renten- und Steuerreform, die aktive moderne Arbeitsmarktförderung noch lange nicht selbsttragend und können von einer anderen Regierung jederzeit wieder rückgängig gemacht werden. Es wäre ein massives Roll-Back zu befürchten. Rot-grün ist ein Projekt, auf das wir jahrzehntelang hingearbeitet haben. Es ist eine große Chance für diese Land, den Reformstau zu überwinden. Deswegen werden wir gestärkt aus dieser Abstimmung hervorgehen.


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