"Wir brauchen modernisierte und gestärkte militärische Fähigkeiten in Europa"
Rede von Bundesaußenminister Fischer an der Princeton University
Am 19. November 2003 hielt Außenminister Fischer eine programmatische Rede ("Europa und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen") an der Princeton University in den USA. Ein aufmerksamer Kritiker der deutschen Außenpolitik hat in der Rede folgendes gefunden:
In der Ansprache, die mehreren Treffen mit der US-Administration folgte, verwendete der deutsche Außenminister vier mal den Begriff "Menschenrechte", acht mal den Begriff "Sicherheit" und zwölf mal den Begriff "Militär" oder "militärisch". Zentrale Redepassagen kreisen um militärische Inhalte. So heißt es u.a., Europa leide unter "militärischer Schwäche", sei mit "Schwächen bei den militärischen Fähigkeiten behaftet" und bräuchte "gewiss modernisierte und gestärkte militärische Fähigkeiten". Bereits jetzt leiste die EU "weltweit einen wesentlichen militärischen Beitrag" und verpflichte sich zu "politischer Entschlossenheit und militärischer Fähigkeit". Zukünftig würden die "militärischen Fähigkeiten" durch "Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur" noch ausgebaut werden, kündigte der Außenminister an. Die Aufrüstung müsse zentralisiert erfolgen, da es "nicht effizient" sei, "wenn jeder der 15, bald 25 (EU-)Mitgliedstaaten über alle Waffengattungen verfügt.
Wir dokumentieren die Rede in der vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Fassung (www.auswaertiges-amt.de). Zwischenüberschriften haben wir selbst vorgenommen.
Außenminister Fischer:
Gestatten Sie mir, die heutige Gelegenheit zu einem Vortrag an dieser bedeutenden Universität für einige grundsätzliche Überlegungen zu den transatlantischen Beziehungen und der Entwicklung Europas zu nutzen.
Die Gegenwart lehrt uns, dass Sicherheit im 21. Jahrhundert für uns alle, besonders aber für die USA und Europa, nicht mehr in den traditionellen Kategorien des 20. Jahrhunderts definiert werden kann. Ein neuer Totalitarismus, der islamistische Terrorismus und seine menschenverachtende Dschihad-Ideologie, bedroht Frieden und Stabilität regional wie global.
Sein Ziel ist der Umsturz der Machtverhältnisse in der islamisch-arabischen Welt, vor allem auf der arabischen Halbinsel und am Golf und die langfristige Zerstörung Israels. Seine Mittel sind Selbstmordattentate und der Schrecken brutaler, menschenverachtender Gewalt. Seine Taktik zielt auf ein blutiges Chaos, seine Strategie auf den Rückzug der USA und des Westens aus der gesamten Region.
Bedrohung durch totalitäre Bewegung
Diese zentrale Bedrohung unserer Sicherheit geht gegenwärtig nicht von einem Staat aus, sondern vielmehr von einer neuen totalitären Bewegung, die nach dem Verlust Afghanistans keinen weiteren Staat mehr als Machtbasis kontrolliert. Diese Bedrohung zielt, anders als das Deutsche Reich unter den Nazis und das japanische Kaiserreich im II. Weltkrieg und die Sowjetunion während des Kalten Krieges, auch nicht auf die strategischen Potentiale der USA und des Westens. Sie will vielmehr deren Moral erschüttern und Reaktionen auslösen, die die Unterstützung für den islamistischen Totalitarismus verstärken und nicht schwächen.
Diese neue Bedrohung ist eine umfassende. Sie wirft nicht mehr die Systemfrage auf, wie dies im Kampf mit den alten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts der Fall war, sondern schlimmer noch: Sie versucht, ein religiös und kulturell begründeten "Clash of Civilizations" zwischen islamisch-arabischer Welt und dem Westen, angeführt von den USA, herbeizuführen.
Unsere Antwort darauf muss ebenfalls eine umfassende sein. Und so wissen wir spätestens seit dem 11. September: Unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert hängt nicht nur von der erfolgreichen Globalisierung des freien Waren- und Güterverkehrs ab. Vielmehr noch hängt sie ab von der Globalisierung der Grundwerte der Menschenrechte, der Achtung vor dem Leben, der religiösen und kulturellen Toleranz, der Gleichheit aller Menschen, von Mann und Frau, von Rechtsstaat und Demokratie und der Teilhabe an den Segnungen der Bildung, des Fortschritts und der sozialen Sicherheit.
Neue Weltordnung durch positive Globalisierung
Die positive Globalisierung ist die eigentliche strategische Antwort auf die tödliche Herausforderung durch einen neuen Totalitarismus.
Diese positive Globalisierung muss politisch zu einer Neugestaltung des internationalen Staatensystems führen, zu einer "neuen Weltordnung", in der das Zusammenleben von mehr als sechs Mrd. Menschen, von über 190 Staaten und all den vielen Religionen, und Kulturen mehr friedlich als schiedlich geregelt ist.
Dazu gehören auch die Gestaltung eines fairen Welthandelssystems, die Antworten auf den Klimawandel und den Erhalt der globalen Umwelt, der Kampf gegen die Armut und gegen AIDS und das Eintreten für Menschenrechte und die Fortentwicklung des Völkerrechts und seiner Institutionen.
Wir brauchen dafür nicht nur starke Demokratien, die auf einem festen Wertefundament gründen. Es bedarf auch starker multilateraler Institutionen - an erster Stelle einer erneuerten UN -, die dazu in der Lage sind, diese Ordnung entlang der völkerrechtlichen Normen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Eine solche Weltordnung muss auf einem effektiven Multilateralismus gründen, der in der Lage ist, Frieden und Sicherheit durchzusetzen. Für diesen effektiven Multilateralismus ist beides notwendig: Die Weltmacht USA und die von ihren 190 Mitgliedstaaten anerkannte und daher unverzichtbaren UN als Rahmeninstitution. Denn die VN verfügen trotz all ihrer Defizite als einzige internationale Organisation über die Ressource weltweiter Legitimität.
Sicherheit durch Kooperation und Integration, Sicherheit durch Teilhabe und Fortschritt wird im 21. Jahrhundert mindestens so wichtig werden, wie Sicherheit durch Abschreckung und Eindämmung.
Den Kalten Krieg hat der Westen durch die Verbindung von strategischer Macht und positiver Systemalternative, durch den Einsatz von "Hard Power" und "Soft Power" gewonnen, wobei die Systemalternative den Ausschlag gegeben hat.
Dieselbe Herausforderung werden wir jetzt ein weiteres Mal gemeinsam zu bestehen haben, wenn auch unter völlig anderen Bedingungen. Dabei kommt heute der positiven Beantwortung der Globalisierung durch die reichen Nationen des Westens eine überragende, ja strategische Bedeutung zu.
Der Westen ist nicht am Ende
Eine der beliebten Gruselfragen der politischen Publizistik lautet gegenwärtig: Ist der Westen am Ende? Ich meine dazu klar und eindeutig: Nein! Der Westen wäre nur dann am Ende, wenn die transatlantische Gemeinschaft mangels gemeinsamer Interessen keine Zukunft mehr hätte, und Europa und Amerika getrennte Wege gingen.
Unsere Interessen gebieten sie uns aber exakt das Gegenteil. Lassen wir uns dabei nicht vom gegenwärtigen Streit in der transatlantischen Familie irre machen. In einem Bündnis freier Demokratien wird es dann und wann immer wieder Streit geben, und dieser kann durchaus auch um Grundsätzliches gehen.
Nur wenn die USA, Kanada und die EU, gründend auf den gemeinsamen Werten, Interessen und der erfolgreichen transatlantischen Tradition der vergangenen Jahrzehnte, diese strategische Aufgabe gemeinsam und langfristig planend anpacken, werden wir diesen neuen Bedrohungen erfolgreich entgegen treten können.
Darin liegt das verbindende transatlantische Interesse, begründet sich die Notwendigkeit für eine neue NATO im 21. Jahrhundert. Die NATO bleibt einer der ganz zentralen Eckpfeiler für Frieden und Stabilität. Umgekehrt gilt aber auch: Lassen wir uns auseinander dividieren, so werden die Folgen für uns alle auf beiden Seiten des Atlantiks äußerst negativ sein.
Die transatlantischen Beziehungen gründen zu Beginn des 21. Jahrhunderts allerdings auf zwei höchst ungleichen Partnern. Die USA sind die einzige globale Macht, die älteste und zugleich eine kontinentale Demokratie, weltweit präsent und dominierend in nahezu allen Bereichen von soft und hard power.
Europas militärische Schwäche
Die USA sind eine Weltmacht. Die EU dagegen ist immer noch eine Macht im Werden. Zwar gibt es bereits den gemeinsamen Markt mit demnächst 450 Millionen Menschen und die gemeinsame Währung, den EURO. Aber andererseits sind Europas Wachstumsschwäche, sein demographisches Problem, seine politische Zersplitterung und seine militärische Schwäche nicht zu leugnen.
Stabile transatlantische Beziehungen wird es nur geben, wenn beide Pfeiler dieser Brücke über den Nordatlantik annähernd gleichermaßen belastbar sind. Die Europäer wissen, dass sie ihre erkannten Defizite so schnell wie möglich beheben müssen und - lassen Sie mich dieses hier hinzufügen - beheben werden. Denn nicht ein starker europäischer Pfeiler würde die NATO gefährden, sondern allein europäische Schwäche. Und nur ein starker europäischer Pfeiler kann Europas Partnerschaft im transatlantischen Bündnis garantieren. Diese Stärkung des europäischen Pfeilers scheint mir deshalb auch angesichts der Weltlage im wohlverstandenen strategischen Interesse der USA zu liegen.
Vielleicht auch gerade wegen der offensichtlichen Schwächen Europas wird das Ausmaß des fast revolutionär zu nennenden Wandels auf dem alten Kontinent seit dem Ende des Kalten Krieges gerne übersehen und unterschätzt. Denn diese neue europäische Revolution kommt still und in einem sehr bürgerlich-konservativen Gewande einher, ganz ohne Pulverdampf und Barrikaden, fast ohne Kriege (mit Ausnahme des ehemaligen Jugoslawien) und ganz ohne Unterdrückung und Diktatur. Allein die Fakten machen aber klar, worum es in Europa gegenwärtig geht.
"Kann Europa zu einer Macht des 21. Jahrhunderts werden?"
Die Europäische Union steht an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer Geschichte: Am Vorabend ihrer Erweiterung um 10 neue Mitgliedsstaaten und einer tief greifenden Reform ihres Systems hin zu einer europäischen Verfassung stellt sich daher die Frage, ob es Europa als ein international gestaltendes politisches Subjekt überhaupt geben wird. Wird es Europa gelingen, den zentralen Widerspruch zwischen nationalstaatlicher Souveränität und voller politischer Integration der Union aufzulösen? Kann Europa zu einer Macht des 21. Jahrhunderts werden?
Von der Beantwortung dieser Fragen hängt für Europa vieles, ja vielleicht sogar alles ab. Warum? Das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts waren in Europa die Epoche der Nationalstaatsbildung gewesen. Im 21. Jahrhundert werden sich die europäischen Nationalstaaten, selbst die größten unter ihnen, als zu klein und politisch wie wirtschaftlich nur noch als suboptimal erweisen.
Das Thema der Vollendung der europäischen Integration ist kontrovers. Es beschäftigt gegenwärtig nicht nur den alten Kontinent, sondern wird auch auf der westlichen Seite des Atlantiks diskutiert. In den letzten Jahrzehnten wurde in den USA das Zusammenwachsen Europas mit großer Aufmerksamkeit, manchmal mit Erstaunen, zuweilen auch mit Skepsis verfolgt. Durch die neue und gefährliche weltpolitische Lage nach dem 11.9. und während der kontroversen Debatte um den Irakkrieg hat die Diskussion um den "Partner Europa" aber eine neue, nicht immer positiv zu bewertende Dimension bekommen.
In Europa stellt man sich deshalb folgende Fragen:
Hat Amerika überhaupt noch Interesse an einer politischen Einigung Europas? Passt ein politisch integriertes und damit international voll handlungsfähiges Europa in die Strategie der USA? Hat sich die amerikanische Sicht auf Europa nach 11.9. geändert? Und schließlich: welchen Wert, welche Bedeutung hat die transatlantische Partnerschaft für die USA heute?
Bevor ich meinerseits versuchen werde, auf diese Fragen Antworten zu finden und auf die Perspektiven der europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit eingehe, möchte ich an dieser Stelle kurz die historische Entwicklung der EU beleuchten:
Europas Integration mit Hilfe der USA
Die Integration Europas ist die Antwort auf den Zusammenbruch des klassischen europäischen Staatensystems in zwei Weltkriegen, wie es aus dem Westfälischen Frieden 1648 hervorgegangen war. Diese Weltkriege waren die katastrophalen Folgen eines zerstörerischen Nationalismus und Militarismus, der das alte europäische Staatensystem dauerhaft ruinierte.
Zweimal bedurfte es im 20. Jahrhundert der militärischen und politischen Intervention der USA, um einer hegemonialen Bedrohung Europas durch das Deutsche Reich erfolgreich entgegenzutreten und ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Und während der fünf Jahrzehnte des Kalten Krieges verteidigten die USA Westeuropa und Westberlin gegen die hegemoniale Bedrohung der Sowjetunion.
Zugleich sicherten diese militärischen Interventionen der USA in Europa, bei denen zahlreiche Amerikaner ihr Leben geopfert haben, Freiheit und Demokratie auf dem europäischen Kontinent. Auch das demokratische Deutschland verdankt den USA seine Freiheit und nicht zuletzt auch seine wiedergewonnene Einheit.
Das heutige Europa gründet auf zwei Grundentscheidungen von wahrhaft historischer Größe: Die erste Entscheidung wurde von amerikanischen Staatsmännern getroffen, nämlich nach 1945 in Europa politisch und militärisch präsent zu bleiben und die Freiheit des westlichen Teils Europas zu verteidigen. Diese Entscheidung führte zur NATO.
Und die zweite Grundentscheidung basierte auf der Idee zweier großer Franzosen, von Robert Schuman und Jean Monnet, nämlich eine neues Staatensystem in Europa zu entwickeln, das nicht mehr auf dem Gleichgewicht der Mächte gründete, sondern auf der Idee der Integration souveräner Staaten und ihrer Interessen. Dies führte 1957 zu den Römischen Verträgen und in der Folge zur Entstehung der EU.
Was im Schatten des Kalten Krieges als wirtschaftliche Integration begann, erstreckte sich zunächst langsam auf politische - und zwar vorwiegend innenpolitische Bereiche. Als 1989 die Mauer fiel, sah sich die EU - und vor allem Deutschland - von einer jahrzehntelangen Last befreit: Die Teilung Deutschlands, die Teilung des Kontinents in zwei feindliche Systeme war überwunden.
Das zu Beginn der neunziger Jahre fast euphorisch bejubelte Rückzug von Staat und Politik, ja gar das "Ende der Geschichte", erwies sich, das wissen wir heute, allerdings als eitler Trugschluss. Mehr und mehr wurde die Staatengemeinschaft in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges mit neuen, beunruhigenden Ordnungsverlusten konfrontiert. Zahlreiche Krisen und Konflikte in vielen Gegenden der Welt verstärkten die Instabilität und die Gefahr bewaffneter Konflikte.
Nach dem Kalten Krieg neue "diffuse" Bedrohungen
Der Kulminationspunkt dieser neuen Bedrohungen, die sich aus einem diffusen Ordnungsverlust im internationalen politischen System ergaben, war der 11.9.2001. Mit den verbrecherischen Terroranschlägen auf die Regierung und die Bürger der USA, ja auf alle freien Gesellschaften, wurde greifbar, welches Zerstörungspotential gerade im islamistischen Terrorismus und seiner totalitären Ideologie steckt. Aber auch, welche Bedrohung für den Weltfrieden aus den vergessenen Konflikten der Gegenwart entstehen konnte.
Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte sich die Ordnung der Welt grundlegend verändert. Die globale Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion hatte eine einfache, eindimensionale Weltordnung geschaffen, die nahezu alle Konflikte in ihren Bann zog. Mit dem Untergang der Sowjetunion verschwand dieser Zentralkonflikt und zurück blieb eine diffuse Struktur, die zu einer dreidimensionalen internationalen Realität führte.
Die oberste Etage bilden die großen Mächte und ihre Allianzen. Auf der zweiten Ebene agieren regionale Mächte und tragen ihre regionalen Konflikte aus. Und das Kellergeschoß dieses internationalen Systems bilden die zerfallenden Staaten, die Bürgerkriege und die Brutstätten privater Gewalt, des Terrorismus. Die Welt von heute kennt wohl noch eine Zentralmacht, die USA, sie kennt aber keinen ordnenden Zentralkonflikt mehr.
Von großer Bedeutung ist auch die Struktur dieser neuen Bedrohungen. Religiöser Hass, nationalistische Konfrontation, Massenvernichtungswaffen und Terrorismus - jedes dieser Elemente ist für sich genommen gefährlich genug und in der Gegenwart oft Ursache für gefährliche Krisen und Kriege. Wenn sich diese vier Elemente allerdings verbinden und gegenseitig aufladen, dann haben wir es tatsächlich mit einer neuen strategischen Bedrohung zu tun.
Der 11.9. hat die Diskussion um eine neue Weltordnung nach dem Kalten Krieg zur grundlegenden Frage der regionalen und globalen Sicherheit werden lassen. Wir können unsere Antwort auf sie nicht mehr aufschieben, wenn wir nicht ein unverantwortbar hohes Sicherheitsrisiko eingehen wollen. Deshalb muss diese Antwort auf die Frage nach der neuen Weltordnung auch im transatlantischen Verhältnis oberste Priorität haben.
Vielleicht war es ein wichtiges Versäumnis, dass wir diese transatlantische Diskussion nicht sofort nach dem September des Jahres 2001 begonnen haben. Und es mag sein, dass uns damit so manche Auseinandersetzung im Bündnis erspart geblieben wäre.
Vor diesem Hintergrund muss die Bedeutung des transatlantischen Bündnisses neu evaluiert werden. Zunehmend hört man skeptische Stimmen. Kann die enge Partnerschaft zwischen Europa und Amerika die richtige Antwort auf die neue internationale Lage liefern? Hat sie sich am Ende gar überholt?
Lassen sie mich die Gegenfrage stellen: Wird diese Welt sicherer, wenn sich die Partner links und rechts des Atlantik auseinander entwickeln? Bedeutet ein schwächeres Bündnis sowohl für Europa als auch für die USA mehr Sicherheit?
Europa und Amerika sind aufeinander angewiesen
Ich glaube, man muss all dies mit nein beantworten. Europa und Amerika sind in ihrem Kampf gegen die neue Bedrohung aufeinander angewiesen. Wir sitzen im gleichen Boot, denn wir wollen das Gleiche verteidigen: Die Bewahrung der Freiheit und der Sicherheit für unsere Bürger, Sicherung unserer offenen Demokratien und der Menschenrechte. Das sind die Ziele, die wir beide verfolgen, das sind die Werte, die wir teilen. Und deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass wir die bevorstehenden Herausforderungen nur gemeinsam bestehen können.
Das heißt aber auch: Wir müssen uns darüber verständigen, auf welche Weise wir auf diese Gefahr reagieren, und zwar als gleichberechtigte Partner.
Dies ist bei der Bildung der Anti-Terrorkoalition nach dem 11.9. noch gelungen. In der Frage eines Krieges gegen den Irak brach ein Widerspruch auf. Wir waren uns nicht einig darüber, ob die Gründe tatsächlich zureichend waren, welche Folgen dieser Krieg für den Kampf gegen internationalen Terrorismus und die regionale Stabilität haben würde und ob die Folgen des Krieges kontrollierbar wären.
Nach dem Irakkrieg: Den Frieden gemeinsam gewinnen
Trotz dieser Unterschiede gilt jedoch heute: Wir müssen den Frieden gemeinsam gewinnen. Wir sind der Überzeugung, dass dafür die Übertragung der Souveränität auf die Iraker selbst und die zentrale Rolle der VN dabei entscheidend sein wird.
Um bei der langfristigen Herausbildung eines neuen Nahen Osten erfolgreich zu sein, ist allerdings ein Weiteres unverzichtbar: Der Konflikt zwischen Israel und Palästinensern muss gelöst werden - und zwar durch eine Zwei-Staaten-Lösung, in etwa auf der Grundlage der Grenzen von 1967. Der Weg dorthin führt über die Umsetzung der Road Map.
Nach dem 11.9. haben wir es auch innerhalb der EU versäumt, uns über unsere eigene außenpolitische Strategie klar zu werden. Wir hatten keine europäisch koordinierte und eindeutige Haltung, mit der wir in den strategischen Dialog mit unseren amerikanischen Freunden hätten eintreten können. Um dieses Defizit zu beheben, arbeitet die EU gegenwärtig - übrigens zum ersten Mal - an einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie, die voraussichtlich noch dieses Jahr beschlossen wird. Dieser Strategie ein erweiterter Sicherheitsbegriff zugrunde - ein Sicherheitsbegriff, der von der Krisenprävention auf diplomatischem Wege bis hin zum allerletzten Instrument, nämlich militärischen Mitteln reicht.
Zwar gewinnen auch innerhalb der EU strategische Überlegungen zunehmend an Bedeutung. So sind wir mehr denn je überzeugt, dass die EU-Erweiterung nach Osten richtig und notwendig ist, um die Zone der Stabilität und Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent auszuweiten. Und die Erweiterungsrunde im kommenden Mai wird nicht die letzte sein: Schon 2007 könnten Rumänien und Bulgarien folgen. In diesem Zusammenhang sehen wir auch die Frage nach einer eventuellen Aufnahme der Türkei in die EU. Es sind nicht zuletzt auch neue global-strategische Gründe, die uns in Deutschland bewogen haben, die Heranführung der Türkei an die EU zu unterstützen.
Schwächen bei den militärischen Fähigkeiten der EU
Gleichzeitig aber gibt es grundlegende strukturelle Defizite in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU, die behoben werden müssen. Dabei sehe ich besonders drei Schwächen:
-
bei der politische Willensbildung
- bei der institutionellen Umsetzung
- und bei den militärischen Fähigkeiten.
Die politische Abstimmung und Entscheidungsfindung ist in einer Gruppe von 15, bald 25 Nationen mit verschiedenen historischen Hintergründen und Interessenlagen nach wie vor schwierig. Aus der Entwicklung Europas heraus ist das verständlich - ich fürchte nur, wir können uns den mühseligen Koordinierungsprozess so, wie er bisher verläuft, in Zukunft nicht mehr leisten.
Auch die institutionelle Umsetzung bedarf dringend der Verbesserung. Wir brauchen in Europa auch die richtigen Werkzeuge, um die gemeinsame Außenpolitik umzusetzen.
Und wir brauchen gewiss modernisierte und gestärkte militärische Fähigkeiten in Europa, wenn wir unseren Beitrag zur kollektiven Sicherheit im Kontext der NATO und anderer Partnerschaften leisten wollen.
Dabei hat der richtige Einsatz der knappen Mittel Priorität. Dazu dient auch die Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur. Es ist zudem nicht effizient, wenn jeder der 15, bald 25 Mitgliedstaaten über alle Waffengattungen verfügt und dasselbe leisten will.
Es herrscht in der EU auch Einigkeit darüber, dass die europäische Außenpolitik kohärenter und effizienter werden muss. Denn die Einsicht der Mitgliedsstaaten, dass Europa den Gefahren, die es bedrohen, nur geschlossen begegnen kann, wächst.
Besonders im europäischen Konvent hat das Thema einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik eine wesentliche Rolle gespielt. In seinem Entwurf für eine europäische Verfassung sind wegweisende Vorschläge zur Verbesserung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EU enthalten. Vorgesehen ist die Einrichtung eines europäischen Außenministers und eines europäischen Auswärtigen Dienstes. Dies wird die Handlungsfähigkeit der EU auf internationaler Ebene entscheidend verbessern.
Diese intensive innereuropäische Diskussion gerade über die Sicherheitsfragen wird von Amerika mit Argusaugen, ja mit Mißtrauen beobachtet. Manche Stimmen befürchten mit zunehmender Institutionalisierung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine Duplizierung, ja sogar eine Schwächung der NATO.
ESVP als "europäischer Pfeiler der NATO"
Ich kann nur immer wiederholen: Das Gegenteil ist der Fall. Die NATO ist die zentrale Institution des transatlantischen Bündnisses. Niemand will und kann ihre grundlegende Bedeutung als Garant unserer Sicherheit in Frage stellen. Vielmehr wird eine gestaltungs- und handlungsfähige ESVP das - übrigens von den USA entwickelte - Konzept des "europäischen Pfeilers der NATO" mit Leben erfüllen. Dazu müssen auch die Planungs- und Führungsfähigkeiten der EU verbessert werden. Was wir wollen ist Komplementarität, keine Konkurrenz.
Das Beispiel Mazedonien führt uns ja diese wichtige Komplementarität der europäischen und transatlantischen Verteidigungsstrukturen vor Augen: Unter Rückgriff auf NATO-Mittel und -Fähigkeiten hat die EU die Militärmission in diesem Land übernommen.
Seit fast fünf Jahrzehnten bündeln die Europäer ihre Ressourcen und Fähigkeiten immer effektiver, auch in der Sicherheitspolitik. Zur Bewältigung der immer wichtiger werdenden Herausforderungen des Nation Building verfügen die Mitgliedstaaten und die EU wohl über den reichsten Erfahrungsschatz und den besten Instrumentenkasten. Heute steht der EU ein breites Spektrum an politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Instrumenten zur Verfügung - ihre Anwendung wird von bald 25 Mitgliedsstaaten getragen.
Die militärischen Leistungen der EU
Schon jetzt leistet die EU weltweit einen wesentlichen militärischen Beitrag zur Krisenbewältigung und langfristi-gen Stabilisierung. Beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus sind 5.400 europäische Soldaten im Ein-satz. In Afghanistan stellt die EU im Rahmen von ISAF und der Operation "Enduring Freedom" ca. 5000 Soldaten. Mit 21.100 Soldaten - knapp viermal so viel wie die USA - übernimmt Europa bei der Friedenssicherung auf dem Balkan einen Löwenanteil. Und für die Peacekeeping Missionen der VN stellen die Europäer mit 3.500 Soldaten siebenmal so viel wie Amerika.
Ein weiteres Beispiel für unser großes Engagement bei internationaler Krisenprävention und Stabilisierung ist die internationale Entwicklungspolitik, wo die EU und ihre Mitgliedsstaaten mit 51,1% der Weltleistung mit Abstand der größte staatliche Geber sind - eine wichtige, ja grundlegende Investition in Frieden und Sicherheit auf der Welt.
Auch die europäische Handels- und Finanzpolitik leistet einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung, Demokratisierung und zu "good governance", so beispielsweise durch Anreize und Partnerschaftsverträge im Rahmen des Cotonou-Abkommens.
Und auch in Fragen der Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen engagiert sich Europa energisch.
Das Beispiel Iran zeigt, wie gleichermaßen ernst Europäer und Amerikaner die Gefahr durch Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nehmen. Über das Ausmaß dieser Bedrohung machen wir uns dies- und jenseits des Atlantik keinerlei Illusionen. Deshalb bedarf es einer Verhinderung zukünftiger globaler und regionaler Rüstungs-wettläufe und eines internationalen Rüstungskontrollregimes, das über beides verfügt - internationale Legitimität und wirksame Kontroll- und Santkionsmechanismen.
Wenn wir die Welt gemeinsam sicherer machen wollen, so wird an einem solchen System kein Weg daran vorbei führen. Ich meine, die Vereinten Nationen bieten den richtigen Rahmen für ein solches Regime.
Entwicklungszusammenarbeit, Finanz- und Handelspolitik, Menschenrechtspolitik, Polizei und Militär - über eine so breit angelegte Kombination von Mitteln zur Krisenbewältigung verfügt kaum ein anderer sicherheitspolitischer Akteur. Dieses mehrdimensionale Spektrum von Instrumenten ist gerade deshalb wichtig, weil wir wissen, dass die neuen Bedrohungen nicht allein mit militärischen Mitteln bewältigt werden können.
Europa ist eine "Macht im Werden"
Schließlich dürfen wir nicht vergessen: Die EU an sich ist das größte europäische Friedensprojekt in unserer Geschichte. Sie hat auf dem europäischen Kontinent erstmals zu einem dauerhaften Frieden geführt.
Ich habe es bereits erwähnt: Europa ist eine "Macht im Werden". Gerade jetzt, wo die EU an der Schwelle zu einer wirklichen, außenpolitisch handlungsfähigen Union steht, sind die politischen und ökonomischen Anforderungen an ihre Mitgliedsstaaten sehr hoch. Und es lässt sich kaum verlässlich abschätzen, wie lange sie für den doppelten Prozess der europäischen Integration - die Erweiterung und die Vollendung der politischen Union - noch brauchen werden.
So wird die EU in den kommenden Wochen und Monaten vor allem im Rahmen der Regierungskonferenz weiterhin viel darüber zu reden haben, ob und wie die eine Union mit 25 oder mehr Mitgliedern funktionieren wird, wie ihre Außenpolitik handlungsfähiger gemacht werden kann. Diese Verhandlungen sind nicht einfach. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen werden. Ob es für den europäischen Integrationsprozess davor noch der einen oder anderen Krise bedarf, wird die nähere Zukunft erweisen.
Zusammenfassung
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen:
Amerika und Europa können die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern, aber sie werden sie nur gemeinsam meistern können.
Dabei müssen wir diesseits und jenseits des Atlantik drei grundlegende Elemente berücksichtigen. Sie sind entscheidend, um den Gefahren des 21. Jahrhunderts entschlossen und erfolgreich zu begegnen.
Das erste ist die unbedingte Selbstbindung der westlichen Demokratien an die eigenen Grundwerte - Freiheit, Menschenrechte, Toleranz, Demokratie, Herrschaft des Rechts und soziale Marktwirtschaft.
Das zweite ist das Bekenntnis zu und der Respekt vor einer internationalen Ordnung, die auf gemeinsamen Werten, auf dem Recht, auf Zustimmung, auf Kooperation und Mitgestaltung beruht. Keine Ordnung des Zwanges und der Unfreiheit, sondern eine Ordnung, die möglichst vielen Staaten und ihren Bürgern eine politische, ökonomische, soziale und kulturelle Teilhabe an der Gestaltung der globalisierten Welt ermöglicht.
Und das dritte Element ist die politische Entschlossenheit und militärische Fähigkeit, neue Gefahren abzuwenden. Es bedarf beider Komponenten, um totalitäre Netzwerke und hasserfüllte Ideologien dauerhaft zu zerstören.
In der Verbindung dieser drei Elemente, die einen effektiven Multilateralismus bestimmen, sollte das Erfolgsrezept für uns, die westlichen Demokratien liegen. Das sind meines Erachtens die Leitlinien, unter denen wir gemeinsam unseren Beitrag zu einer friedlichen, gerechten, demokratischen Weltordnung leisten. Für sie stehen wir beide, Amerika wie Europa.
Ich danke Ihnen.
Erschienen: Mittwoch 19.11.03
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