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"Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung schaffen - für eine Partnerschaft in Verantwortung"

Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002 in Berlin

Im Folgenden dokumentieren wir die Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die er vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002 in Berlin abgab, im vollen Wortlaut*. In den Abschnitten IX bis XI kommt Schröder auf die uns vor allem interessierenden Themen der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik zu sprechen. Eine Kritik aus der Friedensbewegung lesen Sie hier: "Viel Worte um nichts!"

* Im Manuskript des Bundeskanzlers hat sich ein Fehler in der Nummerierung eingeschlichen. Der Abschnitt VIII kommt zweimal hintereinander vor. Die Außenpolitik beginnt mit dem zweiten Abschnitt VIII.



Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!

I. Der Wählerauftrag

Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen haben am 22. September von den Wählerinnen und Wählern den Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Erneuerung Deutschlands erhalten. Den Auftrag, Gemeinsinn und Verant­wortungsbereitschaft zu stärken, Solidität und Solidarität zu organisieren. Diesen Auftrag werden wir erfüllen. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen um die Gefahren durch internationalen Terrorismus und regionale Konflikte, die unsere Sicherheit und unseren Wohlstand bedrohen.

Sie wissen, dass der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und der Wandel im Erwerbsleben uns zu weit reichenden Veränderungen bei den Systemen der sozialen Sicherung zwingen: zu Sparsamkeit, höherer Effizienz und größerer Gerechtigkeit. Aber sie haben sich ausdrücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzuschaffen, wahllos Leistungen zu kürzen und die Rechte der Arbeit­nehmerinnen und Arbeitnehmer zurück­zudrehen. Sie haben der neuen Regierung keinen Auftrag erteilt, blindlings weitere Schulden zu machen oder die Interessen von Gruppen und Verbänden über das Gemeinwohl zu stellen. Wir wissen um den Wählerauftrag: Wir übernehmen Verantwortung für das Ganze. Was die Menschen wollen und zu Recht erwarten, ist eine Politik, die den Mut zur politischen Gestaltung der Zukunft hat. Die die Kraft zur Veränderung hat. Diese Politik werden wir in den nächsten vier Jahren weiter entwickeln und umsetzen.

II. In angespannter wirtschaftlicher Lage die Prioritäten bei Zukunftsaufgaben setzen

Die Entwicklung der internationalen Finanz- und Aktienmärkte, Zurückhaltung von Konsumenten und Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhaltende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten durch die explosive Lage im Nahen und Mittleren Osten geben wenig Anlass zur Hoffnung auf eine kurzfristige Besserung der Weltkonjunktur. Deshalb kommt es um so mehr darauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneuerung zu stärken. Dabei stehen die klassischen Instrumente, den Konsum und die Investitionstätigkeit durch Subventionen und Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zur Verfügung. Denn diese Instrumente können in einer Zeit der fortschreitenden weltwirtschaftlichen Verflechtung keine Wirkung entfalten.

Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuerreform, die wir zur Beseitigung der unvorhersehbaren Flutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mit ihren bedeutenden Entlastungseffekten Anfang 2004 in Kraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für 2005 bereits beschlossen. Das ist Teil unserer Politik, die Wachstumskräfte zu stärken. Gerade weil wir diese Politik der abgestuften Steuersenkungen weiter verfolgen, ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbestände im Steuerrecht auf Zweckmäßigkeit und Zielgenauigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbarten Einsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen. Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeiten für Zukunfts­investitionen, für Wachstum und Beschäftigung zu gewinnen.

Obenan stehen die Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen. Wir werden die Qualität von Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und dadurch die Lebenschancen junger Menschen erhöhen. Wir fördern die Familien und reformieren die Sozialsysteme, ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben. Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitionen bei der Wieder­herstellung und weiteren Modernisierung der Infrastruktur in den östlichen Bundesländern. Wir stärken die innovativen Kräfte in der Wirtschaft - und zwar ganz gleich, ob in kleinen, mittleren oder großen Unternehmen. Denn es geht darum, unsere Spitzen­positionen in Forschung und Anwendung neuer Technologien und bei der ökologischen Modernisierung zu halten und auszubauen.

III. Haushaltskonsolidierung langfristig fortsetzen

Zur weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftige Alternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zins­zahlungen. Wir dürfen heute nicht die Zukunft konsumieren, die wir unseren Kindern und Enkeln eröffnen wollen. Und wir brauchen Spielräume im Etat, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zu können, um bei Bedarf gezielt gegensteuern zu können. Die Bundesregierung hält an ihrem Ziel fest, bis zum Jahr 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zu erreichen. Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst steht nicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seine konjunktur­gerechte Ausgestaltung. Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglich sein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. Erforderlich ist mehr Flexibilität, um in konjunkturell schwierigen Situationen gegensteuern zu können.

Meine Damen und Herren, angesichts der schwierigen weltwirt­schaftlichen Lage, die unmittelbar Auswirkungen auf Konjunktur und Wachstum in Deutschland hat, müssen wir erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, immer nur neue Forderungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat noch nicht verstanden. Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür aufbringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen auch einmal langsamer treten muss, dass auf das erreichte Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann.

Zu Reform und Erneuerung gehört auch, manche Ansprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen Wohl­fahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches, was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit zurückgeht, und noch vor 30, 40 oder 50 Jahren berechtigt gewesen sein mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit auch seine Begründung verloren.

Was diese Bundesregierung vereinbart hat, ist die gelungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Investitionen des Staates, aus intelligentem Sparen und aus mehr Steuerehrlichkeit und Steuer­gerechtigkeit. Zu dieser Politik gibt es keine vernünftige und verantwortbare Alternative. Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger Schaden nehmen.

Wir standen durchaus vor dieser Alternative: Wir hätten, über die beschlossenen Einsparungen bei den konsumtiven Ausgaben und Subventionen hinaus, in sämtlichen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatz der Leistungen ersatzlos streichen können. Aber das wäre das Gegenteil von Gerechtigkeit gewesen. Denn wir brauchen vor allem anderen Investitionen in Zukunftschancen. Wir wollen keinen Staat, der verarmt und handlungsunfähig wird. Einen solchen Staat kann sich nur eine kleine Minderheit der Mächtigen und Privilegierten leisten. Die Allgemeinheit aber hat Anspruch auf einen Staat, der das Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet und Gerechtigkeit organisiert. Denn Gerechtigkeit ist viel mehr als die Forderung, dass alle Opfer bringen müssen.

Mehr als auf die Verteilung knapper werdender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Verteilung der Chancen an. Unsere politische Generation steht vor der historischen Aufgabe, Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definieren und zu erreichen. Deshalb ruft die Bundesregierung zu einer echten Verantwortungspartner­schaft auf. Gemeinsam können wir die aktuellen Schwierigkeiten überwinden und weit über diese Legislaturperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Landes für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigen und künftiger Generationen mobilisieren.

IV. Die Reform auf dem Arbeitsmarkt als Beispiel für eine neue Verantwortungspartnerschaft

Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislaturperiode ist die große Reform der Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nur eine zu hohe Arbeitslosigkeit. Wir haben auch zu viele Überstunden, zu viel Schwarz­arbeit und zu viele offene, nicht besetzte Stellen. Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es gelungen, nach mehr als dreißig Jahren fortwährender Diskussion um Reformen für den Arbeitsmarkt endlich ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, werden die größte Arbeits­markt-Reform seit Bestehen der Bundes­republik bewirken.

Ich denke, wir sollten die Gelegenheit nutzen, Peter Hartz und allen Mitgliedern der Kommission für ihre großartige Arbeit und ihre ausgezeichneten Ergebnisse zu danken. Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist eben nicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung von Arbeitslosen in offene Stellen. Sondern wir eröffnen darüber hinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen neue Chancen auf Selbständigkeit und Existenzgründung auch bei geringem Eigenkapital. Wir sorgen für neue Flexibilität durch die Einrichtung von Personal Service Agenturen und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeit beruflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose erhalten endlich wieder Gelegenheit, in Beschäftigung zu kommen.

Wir machen mit dieser Reform legale Arbeit, gerade bei den Dienstleistungen, attraktiver und verringern so die Versuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Missbrauch unserer Sozialsysteme, den wir weiter mit aller Konsequenz bekämpfen wollen und müssen. Uns geht es mit dieser Reform nicht um eine falsch verstandene "Öffnung" der Arbeitsmärkte durch bedenkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Uns geht es um die Eröffnung neuer Chancen.

Meine Damen und Herren, die Vorschläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse der Bundes­regierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unverwässert umzusetzen, demonstrieren aber auch etwas, das weit über die dringlichen Reformen auf den Arbeitsmärkten hinausweist. Denn hier ist gezeigt worden, dass auch in vermachteten, in teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Veränderungen möglich und machbar sind - wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamen Verantwortung in die Waagschale werfen. Aus diesem großen Reformprojekt können wir eine zentrale Botschaft herauslesen, die auch Maxime der vor uns liegenden Regierungsjahre sein muss und wird: Hören wir auf, immer nur zu fragen, was nicht geht. Fragen wir uns, was jede und jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, dass es geht!

V. Ein Deutschland des neuen Zusammenhalts, neuer Chancen und neuer Gerechtigkeit schaffen

Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit dem festen Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innovationen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen Geduld und einen langen Atem. Auch wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist: Wir werden ihn beschreiten. In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereiche wichtige Schritte benannt. Manchmal sind es, zugegebenermaßen, bescheidene Schritte. Aber die Richtung stimmt. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die Voraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, der Erneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In den nächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhin konsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen. Denn das ist der Maßstab für unsere Politik: Sie hat sich im Alltag der Menschen zu bewähren.

Vieles von dem, was wir begonnen haben oder jetzt beginnen, weist über die nächsten vier Jahre hinaus. Manches, bei den Veränderungen in den Sozialsystemen, bei der Finanzstruktur, bei der Entfaltung neuer Wirtschaftskraft, wird erst nach einiger Zeit vollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance ist es, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zu nehmen. Die Frage zu beantworten, wie im Zeitalter der Globalisierung und struktureller Veränderungen des Wirtschaftens und Arbeitens Gerechtigkeit hergestellt und gesichert werden kann. Deshalb ist es unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu einem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen. Ein Land, in dem Kinder so gut betreut werden, dass sie beim Spielen lernen können und beim Lernen das Spielen nicht vergessen.

Wir werden erreichen, dass Frauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf haben. Das Großziehen von Kindern darf nicht als Last oder gar als Risiko empfunden werden. Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kindererziehung als selbstverständlicher und glücklicher Abschnitt eines erfüllten Lebens erfahren wird. Wir wollen ein Land sein, das seinen Kindern alle Möglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt, mit gesunden, bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen. Und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildung garantiert. Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren vier Milliarden Euro für die Einrichtung von 10.000 neuen Ganztags­schulen zur Verfügung. Wir wollen erreichen, dass Deutschland in zehn Jahren zu den führenden Bildungsnationen zählt.

Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bildungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängen darf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmt werden. Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kern von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbeiten. Den Schulen schließlich müssen wir größere Autonomie geben und sie zu mehr Wettbewerb und Eigen­verantwortlichkeit herausfordern. Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wir eine gesetzliche Betreuungs­quote von 20 Prozent erreichen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kommunen durch die Reform am Arbeitsmarkt - ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit und Zukunfts­investitionen erreicht werden können, wenn wir unsere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausrichten.

VI. Den Rechtsstaat stärken - Zuwanderung steuern, Integration fördern und fordern

Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stärken und ausbauen; die demokratische Teilhabe werden wir weiter entwickeln und fördern. Deshalb halten wir an unserem Ziel fest, Volks­initiative, Volksbegehren und Volks­entscheid auf Bundesebene einzuführen. Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integration gegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöser oder kultureller Gruppen und Minderheiten. Dabei verstehen wir unter Integration weder zwanghafte Angleichung noch Akzeptanz von Parallelgesellschaften. Integration heißt für uns die vollkommene Teilhabe an den Chancen und Pflichten unseres Gemeinwesens.

Eine gesteuerte Zuwanderung wird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschland erhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, eine sichere Lebensperspektive bieten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtung zur Integration. Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nachholende Integration der Ausländer, die bereits in Deutschland leben. Zugleich werden wir die Ausreise­pflicht von Nicht-Bleibeberechtigten konsequent durchsetzen. Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitik die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korrigieren.

VII. Eine Politik für Lebensqualität, Freiheit und Gemeinsinn

Wir werden ein Land schaffen, in dem der Mensch im Mittelpunkt aller gesell­schaftlichen und politischen Entscheidungen steht. Deshalb stärken wir den Verbraucher­schutz über die Lebensmittelsicherheit hinaus und setzen unsere moderne Familienpolitik fort - damit die Menschen leben können, wie sie wollen, anstatt dass Ideologen ihnen vorschreiben, wie sie leben sollen. Aber wir vergessen auch nicht: Mehr Wachstum und mehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Freiheit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehr als Lebensstandard, mehr als Konsum- oder Einkommensniveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Lebens der Menschen in unserem Land. Lebens­qualität hat mit Freiheit zu tun. Freiheit, das heißt: Freiheit von Angst und Not. Aber das heißt auch: Freiheit zur Verwirklichung ganz persönlicher Lebensentwürfe. Wir reduzieren Freiheit nicht auf Gewerbefreiheit. Freiheit, das heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne die Chance auf ein selbst­bestimmtes und eigenverantwortliches Leben haben sollen.

Meine Damen und Herren, wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung im Umwelt- und Klimaschutz, in Forschung und Technologie behauptet und ausbaut. Wir schaffen neuen Zusammenhalt, der auf Freiheit, Selbstbestimmung und Nachbarschaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn und einen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicherheit und Mobilität bereitstellt, ohne in das Leben der Menschen hinein­zuregieren. Deshalb brauchen wir nicht einfach "weniger" oder "mehr" Staat - sondern vor allem einen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen der Bürger orientierten Staat, der in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die richtigen Impulse gibt.

VIII*. Neue Wirtschaftskraft durch soziale und ökologische Erneuerung

Um das Vertrauen von Bürgern und Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zu stärken, um die Binnen­nachfrage und Investitionen anzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss.

Diese Politik steht auf fünf Säulen:
  • Strategische Investitionen in Bildung und Forschung, Infrastruktur, für Familien und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für die ökologische Erneuerung.
  • Fortsetzung der Haushalts­konsolidierung und Einsparungen bei konsumtiven Staatsausgaben und Subventionen.
  • Nachhaltige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben.
  • Strukturreformen am Arbeits­markt, bei Rente und Gesundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und die Lohnnebenkosten nachhaltig zu senken.
  • Abbau unnötiger Bürokratie. Allein im Bereich des Bundes­finanzministeriums werden wir bis zu 20.000 Vorschriften abschaffen, die das Leben und Wirtschaften in unserem Land komplizieren.
Deutschland ist ein Land mit großartigem wirtschaftlichen Potential und enormen eigenen Wachstums­kräften. Unsere Position auf den Weltmärkten als Export-Vizeweltmeister, das Qualifi­ka­tionsniveau unserer Arbeit­nehmerinnen und Arbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Verfahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken, die wir weiter entwickeln müssen, um auch in Zeiten ungünstiger Welt­konjunktur bestehen zu können. Wir wollen eine neue Kultur der Selbständigkeit und einen neuen Aufschwung bei Existenz- und Unternehmensgründungen. Dazu bündeln wir die Mittelstands­förderung. Wer sich aus der Arbeitslosigkeit heraus selbständig machen will, wird darin unterstützt.

In den ostdeutschen Bundesländern werden wir den InnoRegio-Prozess durch weiter entwickelte Fördermaßnahmen zur Gründung neuer Unternehmen ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuen Mittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und die Existenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebe systematisch verbessern. Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir Aufbau Ost und Ausbau West voranbringen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben vereinfachen und Investitionen beschleunigen.

Auf Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019 Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschafts­entwicklung in den ostdeutschen Ländern vorantreiben. Ostdeutschland muss besser in die über­regionale und internationale Arbeits­teilung eingebunden werden; besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die Förderung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Ländern und Regionen.

VIII*. Neue Sicherheit durch Solidarität und Verantwortung

Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischen Bedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagen ständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicherheit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit nationalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit zu erreichen. Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Gesellschaft ist Sicherheit nicht allein Sache von Polizei, Justiz und Militär. Die Bundesregierung hat schon frühzeitig national und international für einen erweiterten Sicherheitsbegriff geworben. Dazu gehört die Sicherheit von Leib und Leben, vor Krieg und Kriminalität. Aber eben auch materielle, soziale und kulturelle Sicherheit zur Vergewisserung der eigenen Identität. Und nicht zuletzt die Sicherheit des Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und Lebensrisiken.

Erst eine Gesellschaft, die in dieser Weise umfassend Sicherheit bereit­stellen kann, ist fähig zu guter Nachbarschaft und friedlicher Zusammenarbeit nach außen, aber auch zu den notwendigen Veränderungen und Reformen im Innern. Die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung etwa kann nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur unserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medizinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität haben unsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenserwartung der Menschen verlängert und immer mehr Krankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassen aufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswesen und bei der Alters­versorgung von einem immer größeren Teil in Anspruch genommen werden, dann bedroht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidar­gemeinschaften. Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Niveau der medizinischen Versorgung in unserem Land zu sichern und für jedermann zugänglich zu halten. Aber wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesen nur dann auch weiterhin für das Wohlergehen der Menschen nutzen können, wenn wir Strukturen verändern, die Systeme öffnen und die in hohem Maße vorhandenen Effizienz­reserven mobilisieren.

Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin. Was wir brauchen, sind mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System. Eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Kranken­häusern und Gesundheitszentren. Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechte und verbesserte Schutz­vorkehrungen stärken. Denn wir wollen den mündigen Patienten, der aktiv an der Vorsorge und Pflege seiner Gesundheit teilnehmen kann.

In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen kapitalgedeckten Alters­vorsorge begonnen, das Sicherungs­system zukunftstauglich zu machen. Den Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Altersversorgung eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen, um so dauerhaft die Renten sicher und die Beiträge bezahlbar zu halten. Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversorgung werden wir nach dem Muster reformieren, mit dem wir bei der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und beachtliche Neuerungen erreicht haben. Im Gesundheitswesen erwarten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierung an den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medizinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittel und der Entlastung der Arbeitskosten. Dabei folgen wir unserem Grundsatz: Soziale Sicherheit durch Solidarität und Verantwortung heißt in allen Bereichen: Fördern und fordern.

Meine Damen und Herren, neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheit eine wesentliche Bedingung der Freiheit. Wir haben deshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwischen Sicherheit und Bürgerrechten geben darf. Wir verstehen Sicherheit als Bürgerrecht. Sicherheit als Bürgerrecht ist nur durch das Zusammenspiel dreier Schlüssel­elemente zu gewährleisten: einer effizienten, gut ausgerüsteten, bürger­nahen Polizei; entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcourage sowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechtsstaat. Diesem Konzept bleibt die Bundes­regierung verpflichtet. Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werden wir die europäische Zusammenarbeit verbessern.

Im Strafprozess stärken wir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Straf­vorschriften gegen sexuellen Missbrauch insbesondere von Kindern werden wir fortentwickeln. Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesellschaftspolitik fort. Die Gleichstellung und gleiche Berück­sichtigung von Frauen und Männern setzen wir für den Bereich der Bundes­regierung als durchgängiges Leitprinzip durch. Auf die neue Bedrohungssituation nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfassend und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiode werden wir die Anti-Terror-Gesetzgebung weiter den Erfordernissen anpassen. Moderne Methoden zur Identitätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten werden wir weiter entwickeln und nutzen.

IX. Internationale Verantwortung - neue Anstrengungen für globale Sicherheit und globale Gerechtigkeit

Der "erweiterte Sicherheitsbegriff" ist auch Leitmotiv der Bundesregierung in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik der guten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verantwortung nach, die sich aus Deutschlands politischer und geographischer Lage im Herzen Europas, als Partner im Atlantischen Bündnis und der Wertegemeinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit ergibt.

Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen: Durch den 9.11.1989 hat sich Deutschlands Rolle in der Welt langfristig gewandelt. Und der 11.9.2001 hat die Sicherheit der Welt insgesamt dramatisch verändert. Deutschland ist heute mit fast 10.000 Soldatinnen und Soldaten nach den USA der größte Truppensteller in internationalen Einsätzen.

Und der Kampf gegen den inter­nationalen Terrorismus, der längst nicht gewonnen ist, wird uns auch weiterhin ebenso substantielles Engagement abfordern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheits- und Aufbauverpflichtungen auf dem Balkan. Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größten Reformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komplexen Aufgaben von heute und morgen tauglich machen soll.

Die Bundesregierung dankt den Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr professionelles Engagement unter diesen großen Belastungen. Völlig zu Recht genießen sie das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob in Kabul, Bosnien-Herzegowina oder Mazedonien, im Kosovo oder in Georgien die Hoffnung auf Frieden und Sicherheit verkörpern.

Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setzt voraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben der Bundeswehr unter den heutigen sicher­heitspolitischen Bedingungen analysieren und bereit sind, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert dann auch eine umfassende Prüfung dessen, was wir wirklich an materieller Ausrüstung und Personal benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode werden wir überprüfen, ob weitere Struktur­anpassungen oder eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind.

Meine Damen und Herren, auch wenn wir, infolge unserer wieder­erlangten staatlichen Einheit und Souveränität, wiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereitschaft unter Beweis gestellt haben, gegebenenfalls auch unseren militärischen Beitrag für Frieden und Sicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung doch bewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militärischen Mitteln - geschweige denn, mit militärischen Mitteln allein - herzustellen. Wer Sicherheit schaffen und aufrecht erhalten will, der muss einerseits Gewalt entschieden bekämpfen. Aber er muss andererseits auch das Umfeld befrieden, in dem Gewalt entsteht: durch präventive Konflikt­regelung, durch Schaffung sozialer und ökologischer Sicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit und durch das Eintreten für Menschen- und Minderheitenrechte. Einer solchen, präventiven und umfassend ansetzenden Außen- und Sicherheitspolitik bleibt die Bundes­regierung verpflichtet.

Wir haben, nicht erst durch die Attentate von New York, Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerzlich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Verflechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangsläufig friedlich verlaufen, noch automatisch zu mehr Freiheit und Demokratie führen. Um so größer ist unsere Verpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nur anzunehmen, sondern ihn aktiv politisch zu gestalten. Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber ungleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständig um Interessenausgleich und eine gerechtere Verteilung der Globali­sierungsgewinne bemühen. Wir werden unter den Bedingungen einer enger zusammengerückten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht, Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen.

Gegen die neue Gefahr einer "privatisierten Gewalt" von Kriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir internationale Allianzen gegen Terrorismus und Unfreiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewalt­monopolen durch starke, legitimierte internationale Institutionen, allen voran die Vereinten Nationen. Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Welt­sicherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort turnusgemäß übernehmen wird, bekräftigen.

Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Verantwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung der Märkte eine Globalisierung der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit einher gehen muss. In diesem Sinne haben wir uns, zuletzt auf dem Welt-Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg, für konsequente Armuts­bekämpfung, Öffnung der Weltmärkte, eine weltweite Anstrengung für Klimaschutz und ökologische Energie­nutzung engagiert.

Die Finanzierungsbasis für Entwicklung haben wir festgeschrieben und werden bis zum Jahr 2006 das Ziel einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungs­zusammenarbeit umsetzen. Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universeller Werte und der Wahr­nehmung unserer internationalen Verantwortung bleibt durch die feste Verankerung in unseren Bündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union und unsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt.

Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der Solidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tief empfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Vereinigten Staaten beim Sieg über die Nazi-Barbarei und der Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie in Deutschland beruhen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipiellem Rang. Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften. Dies schließt unterschiedliche Bewertungen in ökonomischen und politischen Fragen nicht aus. Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freundschaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat immer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortgesetzten Engagement bei "Enduring Freedom" und in der Fortsetzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen den Terror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mittlere Osten dringend Hoffnung und greifbare Fortschritte in Richtung eines dauerhaften, gerechten Friedens braucht. In diesem Sinne hat sich die Bundes­regierung intensiv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewalt in Israel und Palästina eingesetzt. Mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dass Frieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt und das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staaten mit sicheren Grenzen erreicht werden kann. Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg gefunden werden.

Was die Gefahr durch Massen­vernichtungswaffen angeht, haben wir unsere technischen, personellen und sachlichen Mittel angeboten, um die Mission der UNO-Waffeninspektoren im Irak nach Kräften zu unterstützen. Die Region und die gesamte Welt brauchen genaue Kenntnis über die Waffenpotentiale des Regimes im Irak; und wir brauchen die Gewissheit, dass diese Massenvernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden. Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierung frühzeitig Besorgnisse zum Ausdruck gebracht. Durch die zwischenzeitliche Entwicklung und die internationale Diskussion vor allem im Weltsicherheitsrat gibt es die Chance, dass eine militärische Konfrontation am Golf doch noch vermieden werden kann. Ich bekräftige in diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir auf unbeschränkten Zugang der Waffen­inspektoren zu den Arsenalen Saddam Husseins beharren.

Angesichts der bedrohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf möglichst noch breiterer Grundlage zu führen und zu gewinnen, setzt die Bundesregierung darauf, die Möglichkeiten internationaler Inspektionen voll auszuschöpfen. Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherden muss eine konsequente Politik der Abrüstung unter inter­nationaler Kontrolle vorrangiges Ziel bleiben. An einem etwaigen Militärschlag gegen den Irak werden wir uns nicht beteiligen.

Meine Damen und Herren, unsere Politik für Frieden, Menschen­rechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politik in Europa, für Europa und von Europa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichen Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwortung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit der russischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroranschläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig drängen wir auf eine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenien und der Kaukasus-Region. Dies ist auch eine zentrale Forderung der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärken und auszubauen unser Ziel ist.

X. Ein Europa der Menschen und der Teilhabe

Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen Rat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für die Erweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Damit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang dieses Jahrhunderts - die endgültige Überwindung der schmerzlichen Teilung Europas - erfolgreich abgeschlossen werden. Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nur nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im "Europa der 15" vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen auf ein belastbares finanzielles Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen.

Mit dem Brüsseler Kompromiss ist, vor allem durch die Zusammen­arbeit mit unseren französischen Freunden, ein Ergebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Begrenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europäischen Union Rechnung trägt, aber nie die historische Tragweite der Entscheidung aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit unseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwortung vor der Geschichte gerecht geworden und haben die Grundlagen dafür gelegt, dass auch in Europa zusammen wachsen kann, was zusammen gehört. Wir werden nunmehr beim Europäischen Gipfel im Dezember in Kopenhagen die Beitritts­verhandlungen mit zehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen können. Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mit der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union großartige Möglichkeiten.

Meine Damen und Herren, die Geschichte der Einigung Europas ist eine einmalige Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen Integration mit der Herstellung des größten Binnenmarktes der Welt und der Einführung der gemeinsamen Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalismen in Europa zu überwinden. Aber Europa zeichnet weit mehr aus als wirtschaftliche Stärke, Leistungs­fähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert war, steht für eine ganz spezifische Kultur und Lebensform. In Europa hat sich ein eigenes und einzigartiges Zivilisations- und Gesell­schaftsmodell durchgesetzt, das auf den Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teilhabe als Triebkraft der Entwicklung setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus einer blutigen Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Wertegemeinschaft geworden. Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität hat sich bewährt. Es ist ein Modell, das auch in Zeiten der Globalisierung beste Entwicklungschancen bietet.

Die Europäische Union ist die Antwort der Völker Europas auf Krieg und Zerstörung. Sie ist unsere Antwort auf die Globalisierung und auf die Heraus­forderung durch Instabilität und Terrorismus. Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigentliche Problem in der europäischen Konstruktion zunehmend bemerkbar gemacht: ich meine die Zuordnung von Verantwortlichkeiten. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Europäische Union auch mit 25 oder mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt.

Unser Ziel ist eine starke und handlungs­fähige, eine verständlich organisierte und demokratisch legitimierte Europäische Union, die sich durch Bürgernähe und Transparenz auszeichnet. Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz im Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element für eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir darüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Verfassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing beraten. Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Konvents nach Kräften. Wir werden daran mitwirken, einen umfassenden Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss beinhalten:
  • eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union,
  • die Schaffung einer starken und zugleich auch politisch verantwort­lichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen Parlament zu wählen ist,
  • ein in seinen Rechten deutlich gestärktes Europäisches Parlament,
  • die Reform des Rates, der grund­sätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden soll,
  • und eine verbesserte Zusammen­arbeit der Gemeinschaft in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit.
Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen wie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassung werden wir in enger Abstimmung mit Frankreich betreiben. Denn ohne ein gemeinsames deutsch-französisches Vorgehen werden wir ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus der Vertiefung und Erweiterung allen Europäern zugute kommt, nicht erreichen können.

XI. Die Zivilgesellschaft stärken, das kulturelle Selbstbewusstsein fördern und fordern

Wir wollen eine neue Kultur der Selbständigkeit und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürgergesellschaft. Ich lege allerdings Wert auf eine Klarstellung: Wir wollen die Zivil­gesellschaft nicht deshalb stärken, damit der Staat sich aus seinen originären Aufgaben zurückzieht. Es ist richtig, dass der Staat nicht die Bereiche organisieren soll, in denen die Gesellschaft das selbst besser kann. Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger Obrigkeits­denken - aber nicht weniger Staat. Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtstaat, der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwingen will, ist nicht nur unbezahlbar. Er ist am Ende auch ineffizient und inhuman.

Deshalb fördern wir die Eigen­verantwortung und die Kräfte zur Selbst­organisation in der Gesellschaft. Vor allem die vielen tausend ehrenamtlich und freiwillig Tätigen in kulturellen, sozialen und sportlichen Projekten Tätigen brauchen größere Gestaltungs­spielräume. Aber wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohl nicht nur - wir fordern sie auch. Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes werden wesentlich bestimmt durch großartige kulturelle Leistungen und Angebote.

Die Bundesregierung hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, den Dialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffenden wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten für Kultur und Medien hat sich als segensreich nicht nur für die Kultur erwiesen - sondern für unser ganzes Land. Für die Bundesregierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Nebensache im Leben der Gesellschaft. Wir wissen, dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichen Nachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungenschaften sind. Dass Kunst und Kultur wesentliche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaft und der Gerechtigkeit sind.

An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus: im Inneren, aber auch in unseren auswärtigen Beziehungen.

XII. Neues Vertrauen durch eine starke politische Führung

Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlands voranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zu meistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Gerechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirken von allen auf allen Ebenen. Wir brauchen neue Selbst­verantwortung und neue unter­nehmerische Verantwortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Arbeitsmärkten, bei Bildung und Ausbildung und in unseren Sozial­systemen. Dabei setzen wir auf die vielen tausend Frauen und Männer, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Sie sind die Spielmacher des Wandels.

Wir werden, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirtschaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesell­schaftlichen Gruppen suchen. Aber wir lassen nicht rütteln am Primat der Politik. Bei aller Bereitschaft zum Dialog muss am Ende die Politik, das heißt: die Bundesregierung und ihre parla­mentarische Mehrheit, die Entscheidungen treffen. Die Frage, ob unser Land politisch geführt - oder den mächtigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend für unsere Zukunft. Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung aller Chancen - und für den gleichen Zugang zu diesen Chancen - sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung von innen zusammenbrechen.

Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft in Zeiten äußerer Risiken und Unsicherheiten sowie tiefgreifender innerer Veränderungen zu sorgen, ist deshalb zentrale Aufgabe der Regierung. Das Ziel unseres Weges ist klar: Ein Leben, reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen, Kultur und Sicherheit; schließlich auch reicher an Einkommen und Vermögen. Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen. Gemeinsam werden wir für uns und unsere Kinder eine lebenswerte Zukunft schaffen.

Ich danke Ihnen.

Kritik aus der Friedensbewegung: "Viel Worte um nichts!"


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