"Wir brauchen Mut zur Zivilität."
Gemeinsam handeln - Deutschlands Verantwortung in der Welt. "Berliner Rede" von Johannes Rau am 19. Mai 2003 im Maxim Gorki Theater Berlin
Am 19. Mai 2003 hielt Bundespräsident Johannes Rau zum vierten Mal seine "Berliner Rede". Begründet hatte die Tradition der "Berliner Reden" sein Amtsvorgänger Roman Herzog 1997. Dessen damalige Rede (wonach ein "Ruck" durch Deutschland gehen müsse) fand ein außergewöhnliches Echo. Die Rede von Rau 2003 ist vorwiegend der Außenpolitik gewidmet.
Wir dokumentieren die Rede mit geringfügigen Kürzungen. Zwischenüberschriften stammen von uns.
I. 
(...) Hunderttausende Menschen sind in Deutschland vor
              wenigen Wochen auf die Straße gegangen, Millionen
              waren es weltweit. (...) 
              Vor fast zwei Jahren habe ich selber auf einer
              Demonstration gesprochen, am 14. September 2001 vor
              dem Brandenburger Tor. Zweihunderttausend Menschen
              waren zusammengekommen, um ihr Mitgefühl, ihre
              Sympathie und ihre Verbundenheit mit den Vereinigten
              Staaten von Amerika zu bekunden. 
              Der Anlass war damals ein ganz anderer, aber das
              Entsetzen und die Hilflosigkeit, die viele Menschen in
              Deutschland bewegten, waren ganz ähnlich. Der
              Terrorangriff auf das World Trade Center hat die Welt
              erschüttert wie kaum ein Ereignis in den vergangenen
              Jahrzehnten. 
                   Was ist das für eine Welt, haben wir uns gefragt,
                   in der Tausende von unschuldigen Menschen Opfer
                   eines brutalen Anschlages werden? Woher kommen
                   der Hass und diese Brutalität, die zu einem solchen
                   Massenmord führen? 
                   Wie können wir unseren Freunden helfen? Wer wird
                   das nächste Ziel dieses Hasses sein? Wie können
                   wir uns gegen diese schreckliche Bedrohung
                   schützen?
              Die Menschen suchen nach Antworten, sie suchen nach
              Sicherheit, und sie erwarten Orientierung. Die Menschen
              stellen ganz grundlegende Fragen: 
- 
                   Wie soll die neue Weltordnung aussehen, nachdem
                   die alte, von der Logik des kalten Krieges diktierte
                   Ordnung vor 14 Jahren doch glücklich überwunden
                   worden ist? 
- 
                   Welchen Regeln folgt die Völkergemeinschaft? Wie
                   sollen wir umgehen mit Kriegen und Konflikten, in
                   denen oft nicht mehr klar zu erkennen ist, wer
                   Soldat, Kämpfer, Terrorist oder ziviles Opfer ist?
- 
                   Wie geht es weiter auf unserem Kontinent Europa -
                   wie ernsthaft und wie realistisch sind die
                   Bekenntnisse zu einer einigen, handlungsfähigen
                   Europäischen Union? 
- 
                   Welche Rolle soll Deutschland in unserer einen Welt
                   künftig spielen?
              Auf diese fundamentalen Fragen gibt es keine einfachen,
              keine leichten Antworten. Wir brauchen jetzt eine breite
              Debatte über die Grundlagen und die Perspektive unserer
              Politik. Ich möchte heute zu dieser Debatte einen Beitrag
              leisten. 
              
II. 
              Die zurückliegenden Wochen und Monate haben deutlich
              gemacht, dass wir uns in einem tiefgreifenden Umbruch
              der internationalen Politik befinden. Das verbindet sich
              mit der Jahreszahl 1989 und geht doch weit über alles
              hinaus, was wir im zurückliegenden Jahrzehnt für möglich
              oder wahrscheinlich gehalten haben. 
              Das Ende des Kalten Krieges hat einen befreienden
              Aufbruch möglich gemacht. Völker sind frei geworden.
              Staaten haben ihre Souveränität wiedergewonnen. 
              Viele hatten gehofft, dass gewissermaßen automatisch
              eine neue, gerechtere Weltordnung entstehen würde und
              dass möglichst viele Menschen die Chance haben, in
              Würde zu leben, frei von materieller Not, von Verfolgung
              und kriegerischer Gefahr. 
              Diese Hoffnung hat nicht getrogen: Es hat Erfolge
              gegeben, so dass man heute dankbar sagen kann: Viele
              Chancen wurden genutzt, die Welt ist ein Stück besser
              geworden: In den baltischen Ländern, in Russland und im
              südlichen Afrika, durch die Erweiterung der Europäischen
              Union und der Nato. Durch mehr Demokratie. 
              Es gab aber auch schreckliche und tragische
              Entwicklungen: Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und
              der Zerfall Somalias, die Kriege im Kaukasus und der
              Völkermord in Ruanda. 
              In vielen Fällen haben wir bestehende Konflikte nicht
              lösen und neue nicht verhindern können. Die
              internationale Gemeinschaft war sich zu oft nicht einig. 
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              III. 
              Uneinig war sie auch in der Frage, wie durchgesetzt
              werden soll, dass der Irak seiner Verpflichtung zur
              Abrüstung nachkommt, die die Vereinten Nationen
              beschlossen hatten. 
Streit um Irakkrieg
              Dieser Streit ist auch zwischen Regierungen befreundeter
              Staaten ungewohnt heftig geführt worden. Dabei waren
              sich alle in der Ablehnung dieses Diktators und seines
              Regimes völlig einig. Einigkeit herrschte auch darüber,
              dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen haben
              darf. 
              Der Streit ging darum, ob alle zivilen Mittel ausgereizt
              waren, dieses Ziel zu erreichen, ob der Einsatz
              militärischer Gewalt gerechtfertigt war, und er ging vor
              allem um die Frage: Wer darf diese Entscheidung treffen?
              Die Vereinigten Staaten haben, unterstützt von einer
              Reihe anderer Staaten, ihre Antwort gegeben und
              Tatsachen geschaffen. Damit müssen wir uns
              auseinandersetzen. 
              IV. 
              In den vergangenen Monaten ist viel darüber gesagt und
              geschrieben worden, wie die Vereinigten Staaten von
              Amerika und Europa zueinander stehen, was Europa mit
              Amerika verbindet oder trennt und was das in besonderer
              Weise für uns Deutsche bedeutet. Mich hat an vielen
              Stellungnahmen und an vielen öffentlichen Äußerungen
              die Wortwahl, die Tonlage und eine falsche, überzogene
              Personalisierung gestört. 
              Das scheint mir ein Zeichen mangelnder Ernsthaftigkeit,
              die der Bedeutung nicht gerecht wird, die das Verhältnis
              zwischen Amerika und Europa auch in Zukunft haben wird
              und haben muss. 
              Gewiss, die Reibungsflächen zwischen den USA und
              Europa haben in den letzten Jahren zugenommen. Nicht
              nur im Blick auf den Irak hat es unterschiedliche
              Auffassungen gegeben. Das muss man miteinander
              besprechen, ohne dem anderen von vornherein Moral
              abzusprechen oder das Recht, Probleme anders zu sehen
              und anders zu bewerten. 
              Unter Freunden und Partnern kann niemand vom anderen
              erwarten, dass er etwas tut oder unterstützt, was seiner
              Erkenntnis und seiner inneren Überzeugung widerspricht. 
              Wir sollten unterschiedliche Auffassungen offen
              ansprechen. Oft werden wir am Ende zu einer
              Verständigung kommen, manchmal aber auch nicht. (...)
              Der italienische Publizist Luigi Barzini, der in Amerika
              studiert hat, hat vor zwanzig Jahren die Unterschiede im
              politischen Denken und Handeln so beschrieben: 
              "Die Vereinigten Staaten können beunruhigend
              optimistisch, mitfühlend und unglaublich generös sein.
              Gelegentlich sind sie apathisch, impulsiv oder reizbar...
              Probleme sehen sie gerne schwarz/weiß.... 
              Europa hat die entgegen gesetzten Fehler: es ist
              pessimistisch, klug, praktisch und sparsam wie ein
              altmodischer Bankier. Es hat gelernt, nichts zu übereilen,
              selbst wenn das, was es zu tun gilt, das offensichtlich
              Notwendige oder Vorteilhafte ist." Soweit Barzini. 
Das europäisch-amerikanische Verhältnis nach dem 11.9.
              Auch heute sollten wir uns stärker darum bemühen, die
              Dinge auch einmal aus der Sicht des anderen zu sehen.
              Wir Deutsche und Europäer machen uns vielleicht zu
              wenig klar, wie sehr der 11. September 2001 ein großes
              Land bis ins Mark getroffen haben muss, das sich
              unverwundbar glaubte. 
              Die großen Herausforderungen unserer Zeit können weder
              Amerikaner noch Europäer allein und schon gar nicht in
              Konfrontation lösen. Das kann uns nur gemeinsam
              gelingen. Die transatlantische Partnerschaft wird für uns
              auch in Zukunft mehr sein als ein bloßes Zweckbündnis.
              Sie ist eine Gemeinschaft, die auf Werten und
              Überzeugungen gründet und deren Stärke von der
              gemeinsamen Bindung an diese Werte und
              Überzeugungen bestimmt ist. 
              Meinungsunterschiede, auch in wichtigen weltpolitischen
              Fragen, zerstören die Freundschaft zwischen Deutschen
              und Amerikanern nicht. 
              So unterschiedlich die Meinungen sind, die über den
              Atlantik hinweg ausgetauscht werden, so wissen wir
              doch: Nach wie vor besteht eine tiefe Verbundenheit von
              europäischem und amerikanischem Denken, eine
              Verbundenheit, die gewachsen ist durch Herkunft und
              Geschichte, durch Kultur und Begegnung in Jahrzehnten
              und Jahrhunderten. 
              Darum habe ich mich auch darüber gefreut, dass
              führende amerikanische Politiker, darunter viele frühere
              Außen- und Verteidigungsminister mehrerer Regierungen
              aus beiden großen Parteien, am vergangenen Donnerstag
              dazu aufgerufen haben, die transatlantische
              Partnerschaft in gegenseitigem Respekt zu erneuern. 
              Wir sollten diese Einladung annehmen. Gerade mit
              Amerika war und ist das Gespräch besonders intensiv,
              und es beschränkt sich nicht auf die Regierungen und auf
              die Parlamente. Viele aus unseren beiden Ländern sind
              daran beteiligt - Wissenschaftler und Manager,
              Publizisten und Künstler, Austauschschüler und
              Studenten, kirchliche Gruppen und Soldaten. Diese
              besondere Vertrautheit miteinander sollten wir nutzen.
              Lassen Sie uns den Dialog verstärken, um über
              Gemeinsamkeiten und über Unterschiede in unseren
              Auffassungen zu sprechen - und nicht nur übereinander. 
              V. 
              Dem Irak-Krieg ging eine monatelange politische
              Auseinandersetzung voraus. Der Krieg selber ist seit
              einem Monat zu Ende. Wir sollten die zeitliche Distanz
              nutzen, um über die neue Situation nachzudenken, über
              die Folgen, die sich daraus für unser politisches Handeln
              und für die internationale Politik ergeben - ohne laute
              Worte und ohne jede Polemik. 
Neue Herausforderungen
              Wir brauchen klare Vorstellungen davon, wie wir künftig
              handeln wollen. Darum müssen wir dreierlei miteinander in
              Verbindung setzen: Eine Analyse der gegenwärtigen
              Situation, unser Verständnis deutscher und europäischer
              Interessen und die Ziele und die grundsätzlichen Werte,
              die unsere Politik leiten. 
              Die Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen,
              sind ungemein vielfältig. Ich nenne einige besonders
              wichtige: 
- 
                   die Chancen und Gefahren des globalisierten
                   Wirtschaftens,
- 
                   die Bevölkerungsentwicklung,
- 
                   die weltweiten Migrationsbewegungen,
- 
                   die Gefährdung unserer natürlichen
                   Lebensgrundlagen und die Rivalität um Rohstoffe -
                   dazu gehört das Öl, aber auf Dauer noch mehr das
                   Wasser,
- 
                   die weltweit organisierte Kriminalität wie zum
                   Beispiel der Drogenhandel,
- 
                   der internationale Terrorismus, vor allem in
                   Verbindung mit religiösem Fanatismus,
- 
                   die großen weltweiten Epidemien wie Malaria, Aids,
                   Tuberkulose oder jetzt vielleicht auch SARS.
- 
                   die Angst vieler Menschen überall auf der Welt,
                   ihre religiösen und kulturellen Wurzeln zu verlieren,
                   weil andere kulturelle Einflüsse sich als übermächtig
                   erweisen und weil sie das Eigene überlagern und
                   verdrängen.
VI.
              All diese Herausforderungen haben eines gemein: Sie
              lassen sich nicht mit militärischen Mitteln lösen. 
              Die Debatte über internationale Politik hat sich in den
              zurückliegenden Monaten dagegen vorrangig und viel zu
              sehr um militärische Optionen gedreht. Aus dem Ende der
              Blockkonfrontation hat sich eben auch die schreckliche
              Logik ergeben, dass Kriege wieder "führbarer" geworden
              sind, wie man sagt. 
Probleme mit zivilen Mitteln lösen
              Nun muss jeder, der kein absoluter Pazifist ist,
              eingestehen, dass es Situationen geben kann und
              gegeben hat, in denen militärische Gewalt tatsächlich
              "ultima ratio" ist. Ich bekenne mich zu dieser Haltung. 
              Ich sehe allerdings die Gefahr, dass wir von "ultima ratio"
              reden, dass in Wirklichkeit aber ein Gewöhnungsprozess
              einsetzen könnte, an dessen Ende militärische
              Intervention und Krieg ein Instrument unter vielen ist. 
              Darum müssen wir viel früher mehr Energie und auch
              mehr finanzielle Mittel darauf verwenden, um Konflikte
              mit zivilen Mitteln zu lösen oder wenigstens
              einzudämmen. Wir brauchen Mut zur Zivilität. 
              Gerade wenn der Einsatz militärischer Mittel als "ultima
              ratio" allgemein akzeptiert ist, müssen zunächst alle
              denkbaren Anstrengungen unternommen werden, den
              Einsatz militärischer Mittel überflüssig zu machen. 
              Vorbeugende Politik kann uns auch davor bewahren, vor
              die falsche Alternative zu geraten, dass wir Schuld auf
              uns laden durch Wegschauen oder Schuld auf uns laden
              durch den Einsatz militärischer Mittel, die dann auch
              völlig Unschuldige treffen. 
              Gewiss: Konfliktpotential zu erkennen und Konflikten
              erfolgreich vorzubeugen, das ist eines der schwierigsten
              Kapitel nicht nur der Außenpolitik. 
- 
                   Wie kann man Konflikten vorbeugen, wenn es an
                   der Bereitschaft zur Zusammenarbeit fehlt?
- 
                   Wie kann man Konflikten vorbeugen, wenn es an
                   finanziellen Mitteln fehlt?
- 
                   Warum scheint es oft schwieriger, hundert
                   Polizisten in eine Krisenregion zu schicken als Geld
                   für militärische Einsätze zu bewilligen?
- 
                   Wie kann man vorbeugen, wenn es in der
                   internationalen Gemeinschaft kein gemeinsames
                   Verständnis von den Ursachen eines Konfliktes und
                   von den Lösungsmöglichkeiten gibt?
              Von all diesen Schwierigkeiten dürfen wir uns nicht
              beirren lassen: Wenn nicht der Versuch gemacht wird,
              Konflikten schon im Entstehen mit zivilen Mitteln zu
              begegnen, dann sind die Probleme später noch größer. 
              VII. 
              Wir dürfen nicht vergessen, dass jedes Land durch seine
              Lage und Geschichte geprägt ist. 
              Aufgrund einer langen wechselvollen Geschichte haben
              und brauchen wir besonders enge Beziehungen zu
              unseren beiden großen Nachbarn Frankreich und Polen. 
Deutschlands Verhältnis zu den Nachbarn und zu Israel
              Frankreich ist und bleibt unser entscheidender Partner,
              wenn wir die europäische Integration voranbringen
              wollen. Nur wenn Frankreich und Deutschland
              zusammenstehen, kann die europäische Einigung
              gelingen. Dann kann ein einiges Europa auch zu einem
              außenpolitischen Faktor in der Welt werden. Ich wünsche
              mir ein selbstbewusstes und starkes Europa als Partner
              der Vereinigten Staaten, damit wir internationale Politik
              gemeinsam erfolgreich gestalten können. Dabei ist die
              enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und
              Deutschland unerlässlich. 
              Wir wissen auch, dass Großbritannien und unsere
              anderen Partner einbezogen sein müssen, damit Europa
              sein außenpolitisches Gewicht in der Welt voll zur
              Geltung bringen kann. 
              Für ein Land in der Welt tragen wir Deutsche besondere
              Verantwortung. Das ist Israel. Im Februar 2000 habe ich
              vor der Knesset gesagt: "Die Mitverantwortung für Israel
              ist ein Grundgesetz deutscher Außenpolitik seit der
              Gründung unseres Staates." Das gilt auch für die
              Zukunft. 
              Israel muss in international anerkannten Grenzen und in
              Sicherheit leben können, endlich frei von Furcht und
              Terror, der das Land bis in diese Stunden begleitet.
              Friede und Sicherheit wird es aber nur geben, wenn die
              Besetzung palästinensischer Gebiete aufhört. Die
              Palästinenser müssen ihre Angelegenheiten selber in die
              Hand nehmen können und in einem eigenen
              demokratischen und lebensfähigen Staat in Würde leben.
              VIII. 
              Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist wie die jedes
              Landes entscheidend von den Erfahrungen der
              Geschichte geprägt. Das Grundgesetz verpflichtet uns, in
              einem vereinten Europa dem Frieden und der
              Gerechtigkeit in der Welt zu dienen. 
              Der Zweite Weltkrieg, das Wissen um Schuld, um
              Verantwortung für fremdes Leid und die Erfahrung
              eigenen Leides - das prägt die Deutschen bis heute
              zutiefst und das wird sie auch weiter begleiten. 
              Wenn wir nach den Interessen und den Werten fragen,
              die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik leiten, dann
              stehen die Wahrung des Friedens und unserer
              freiheitlichen Ordnung an erster Stelle. Deutsche Politik
              ist gleichermaßen den Menschenrechten verpflichtet und
              ihrer weltweiten Achtung. 
              Ein Volk, das einmal so tief gefallen ist wie wir, braucht
              sich nicht zu schämen, wenn die Wahrung des Rechts in
              der öffentlichen Debatte eine so große Rolle spielt. Aus
              Deutschland sind wahrlich schon schlechtere Nachrichten
              gekommen. 
              Wir arbeiten für eine internationale Ordnung, die
              Gerechtigkeit verwirklicht, die kulturelle Traditionen und
              religiöse Überzeugungen respektiert und die die
              natürlichen Lebensgrundlagen aller Menschen weltweit
              schützt. 
              Die Freiheitschancen des einzelnen Menschen sind dann
              am größten, wenn Menschenrechte und Bürgerrechte für
              alle gelten. Deshalb müssen wir wirtschaftliche und
              soziale Entwicklung, Demokratie und Menschenrechte
              weltweit fördern und die Ordnung der Weltwirtschaft an
              den Zielen von Solidarität und Gerechtigkeit ausrichten. 
              Demokratische Verhältnisse: Das muss ja keine Kopie der
              europäischen oder des amerikanischen Modells sein. Wir
              wollen unterschiedliche kulturelle Überlieferungen und
              Traditionen respektieren. Aus unserer eigenen
              Geschichte wissen wir aber, dass sich Toleranz und
              Pluralismus nur unter einer Bedingung entwickeln und
              wirksam werden können: Religion und Staat müssen
              getrennt sein. 
              Das wird auch in der islamischen Welt von vielen so
              gesehen. Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben
              Jelloun hat dazu dieser Tage gesagt: "Die einzige
              Entwicklungschance der islamischen und arabischen Welt
              liegt darin, diesen Ganzheitsanspruch aufzulösen." 
              Die Sicherung des Friedens, wirtschaftliches
              Wohlergehen und eine nachhaltige Entwicklung - das sind
              Ziele, die wir auch für unser eigenes Land verfolgen.
              Deutschland ist auf sichere und zuverlässige
              Rohstoffimporte angewiesen und darauf, dass wir die
              Waren und Dienstleistungen exportieren können, die wir
              so erfolgreich mit Hilfe jenes Rohstoffes erzeugen, der
              uns in großer Menge zur Verfügung steht: Den
              Begabungen und dem Können, dem Fleiß und dem
              Ideenreichtum der Menschen in unserem Lande. 
              IX. 
              Welche Konsequenzen ergeben sich aus unserer Lage,
              aus unseren Werten und aus unseren Interessen für die
              Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes? 
              Ihr Ziel muss eine gerechte internationale Ordnung sein,
              in der alle Staaten zu gleichen Bedingungen und nach
              gleichen Maßstäben unser gemeinsames Geschick
              mitgestalten können. 
"Weltinnenpolitik", Völkerrecht und Vereinte Nationen
 
              Außenpolitik wird immer mehr zur Weltinnenpolitik, wie
              das Carl-Friedrich von Weizsäcker schon vor mehr als
              zwanzig Jahren gesagt hat. Weltinnenpolitik kann nur
              funktionieren in den Institutionen und mit den Mitteln
              multilateraler Politik. 
              Damit multilaterale Politik unter veränderten Bedingungen
              gelingen kann, ist allerdings zweierlei nötig: 
- 
                   Die Institutionen und Instrumente müssen den
                   neuen Herausforderungen entsprechen und da, wo
                   es nötig ist, modernisiert werden.
- 
                   Mulilaterale Politik braucht starke Partner.
              Der Irak-Krieg hat die Debatte neu belebt, ob und wie
              das Völkerrecht weiterentwickelt werden muss. 
              Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,
              Bedrohung durch Terroristen, schlimme Fälle der
              Verletzung von Menschenrechten wie ethnische
              Säuberungen - an was für ein schreckliches Wort haben
              wir uns da gewöhnt! - auf all diese Probleme muss das
              Völkerrecht Antworten geben. 
              Das Völkerrecht muss da weiterentwickelt werden, wo es
              wie ein Recht gegen die Völker wirkt, weil es
              diktatorische Regierungen schützt, die ihre Völker
              misshandeln, und dort, wo es bislang keine hinreichenden
              Antworten auf neue Herausforderungen der
              internationalen Politik gibt, wie bei der denkbaren
              Verbindung zwischen internationalem Terrorismus und
              Massenvernichtungswaffen. Bei allen Reformüberlegungen
              muss aber gelten, dass auch in Zukunft kein Staat für
              sich das Recht auf Intervention beanspruchen kann. 
              Der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Nye hat
              diese Fragen auf den Punkt gebracht, wenn er sagt:
 "Es
              wäre sicher ein Fortschritt, wenn wir uns darüber
              verständigen könnten, wo unsere Toleranzgrenze
              hinsichtlich dessen liegt, was wir an
              Menschenrechtsverletzungen zu dulden und an
              Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hinzunehmen
              bereit sind." 
              Diese Verständigung können wir nur innerhalb der
              Vereinten Nationen finden. 
              X. 
              Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, sind auf Initiative
              der Vereinigten Staaten von Amerika in San Francisco die
              Vereinten Nationen gegründet worden. Das war eine
              richtige und weitsichtige Entscheidung, denn niemand
              wollte zurück zum Völkerbund. 
              Die Vereinten Nationen und ihre Organisationen müssen
              in Zukunft das wichtigste globale Instrument
              multilateraler Politik sein - trotz aller Fehlschläge der
              Vergangenheit. Wer wollte bestreiten, dass die Vereinten
              Nationen in vielen Punkten reformiert werden müssen?
              Ihre Macht trägt auch nur so weit, wie der Wille ihrer
              Mitglieder zu gemeinschaftlichem Handeln, gerade im
              Sicherheitsrat. Und wir wissen auch, dass die
              Regierungen vieler Mitgliedsstaaten nicht nach
              demokratischen Regeln an die Macht gekommen sind. 
              Dennoch sind die Vereinten Nationen das beste
              Instrument, um ehrlich und im partnerschaftlichen
              Miteinander über die Grenzen von Kontinenten und
              Sprachen, von Religionen und Kulturen Lösungsansätze
              für die globalen Probleme zu entwickeln. Und es gibt
              auch unbestreitbare Erfolge: 
- 
                   Die Verabredungen, weltweit die Menschenrechte
                   zu achten und zu schützen. 
- 
                   Die Friedenstruppen der Vereinten Nationen, die in
                   der Vergangenheit, übrigens auch mit starker
                   deutscher Beteiligung, Gutes für Menschen in
                   vielen Ländern getan haben. 
- 
                   Die großen Vertragsprojekte der zurückliegenden
                   Jahre. Sie haben gezeigt, dass die
                   Weltgemeinschaft bereit und imstande ist,
                   zusammen zu arbeiten. Ich nenne nur: den Schutz
                   von Kindern in bewaffneten Konflikten, das
                   Kyoto-Protokoll, den Schutz der Artenvielfalt, den
                   Internationalen Strafgerichtshof oder das
                   Landminenverbot. 
              Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten von Amerika
              in manchen Fällen nicht oder noch nicht dabei sind, darf
              uns nicht darin beirren, den eingeschlagenen Weg
              weiterzugehen und für ihn zu werben. 
Den Kampf gegen Hunger und Armut führen
              Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus: Das
              heißt auch, dass wir die großen Aufgaben nicht aus dem
              Blick verlieren, die auf der Tagesordnung ganz nach oben
              gehören: Den Kampf gegen Armut und Hunger, gegen die
              Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, für
              bessere Bildungschancen und Gesundheitsvorsorge, für
              den Schutz der Kinder und gegen Rechtlosigkeit. 
              Ich nenne nur wenige Punkte: 
- 
                   Die Malaria fordert an jedem Tag zehnmal so viele
                   Menschenleben wie SARS bisher insgesamt
                   gekostet hat.
- 
                   Noch immer haben zwei Milliarden Menschen keinen
                   Zugang zu sauberem Wasser.
- 
                   Jährlich verlieren wir durch Bodenerosion sechs
                   Millionen Hektar Ackerfläche.
- 
                   Noch immer kann die Existenz von Millionen
                   Menschen innerhalb kürzester Zeit zerstört
                   werden, weil die internationalen Finanzmärkte nicht
                   ausreichend und nicht richtig geordnet sind.
- 
                   Noch immer sind fast alle Industriestaaten - wir
                   auch! -  weit von dem Ziel entfernt, 0,7 Prozent
                   ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe
                   auszugeben, obwohl wir das vor mehr als dreißig
                   Jahren versprochen haben.
              Das sind Themen, um die wir uns viel intensiver kümmern
              müssen durch eigene Anstrengungen, gemeinsam mit
              anderen und im Rahmen der Vereinten Nationen. Der
              Kampf gegen die großen Bedrohungen unseres Planeten
              ist kein Luxus, sondern Überlebenshilfe für viele Millionen
              Menschen und Vorsorge für die ganze Menschheit. 
              Wir Europäer müssen bereit sein, uns entsprechend zu
              engagieren - mit Ideen und mit entschlossenem Handeln,
              mit Geld und mit Personal, das wir zur Verfügung stellen:
              Angehörige der zivilen Dienste, Polizisten und, wo nötig,
              auch Soldaten. 
              XI. 
Europäische Union - gemeinsam...
              Der Europäischen Union fehlen bisher in der
              internationalen Politik die Geschlossenheit und die
              Stärke, die nötig sind, damit sie ein starker Partner im
              System der Vereinten Nationen wird. Auch das gehört zu
              den Erfahrungen der vergangenen Monate. 
              Dabei haben wir doch weit mehr Mittel als uns das häufig
              bewusst ist, die Herausforderungen für unsere Sicherheit
              und unseren Wohlstand anzunehmen und Einfluss zu
              nehmen auf die internationale Politik: 
- 
                   Die Europäische Union ist die größte Handelsmacht
                   der Welt. 
- 
                   Ihre Mitgliedstaaten leisten mehr Entwicklungshilfe
                   als alle anderen Staaten der Welt zusammen. 
- 
                   Die Europäer haben mehr Stimmen im
                   Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als irgendein
                   anderer Kontinent, 
- 
                   und in den großen Finanzeinrichtungen wie
                   Weltbank und Währungsfond haben sie kaum
                   weniger Stimmanteile als die Vereinigten Staaten.
              Überall da, wo die Europäer sich darauf verständigt
              haben, gemeinschaftlich zu handeln - in
              Wettbewerbsfragen, bei der gemeinsamen Währung, im
              Handel - sind wir ein starker Faktor und eine Macht, mit
              der jeder auf der Welt gerne und gut zusammenarbeiten
              möchte. Auch in der sicherheitspolitischen
              Zusammenarbeit haben wir inzwischen Fortschritte
              gemacht. Die Europäische Union spielt heute auf dem
              Balkan eine herausragende Rolle bei der Sicherung des
              Friedens und bei der politischen Stabilisierung. 
              Überall da aber, wo es uns noch nicht gelingt, unsere
              Stärken zusammenzuführen, können wir unser politisches
              Gewicht nicht zur Geltung bringen. Der Irak-Krieg hat das
              überdeutlich gemacht. 
              Nun sagen manche, die Auseinandersetzungen über den
              Irak-Krieg hätten eben gezeigt, dass die Interessen und
              die Auffassungen der europäischen Partner zu
              unterschiedlich seien, um gemeinschaftlich zu handeln
              und dass gerade die Erweiterung der Europäischen Union
              die politischen Fliehkräfte erhöhe. 
              Ich meine aber, dass die Mitgliedsstaaten lieber
              gemeinsam gehandelt hätten, wenn die Europäische
              Union eine klare Vorstellung ihrer internationalen
              Verantwortung gehabt hätte, feste Ziele und
              Urteilskriterien und schließlich belastbare Instrumente
              und Abstimmungsmechanismen. An all dem hat es
              gemangelt. 
              Dabei sollten wir nicht vergessen: Die Menschen in
              Europa waren sich in ihrer Haltung gegen einen Krieg im
              Irak so einig wie vielleicht noch nie zuvor in einer
              zentralen weltpolitischen Frage. 
              Es waren die europäischen Regierungen, nicht die Völker,
              die unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen in
              dieser Frage hatten. 
              Der frühere französische Finanzminister Dominique
              Strauss-Kahn sieht in dieser gemeinsamen Haltung der
              Völker Europas den Grundstein einer europäischen
              Nation. Das ist ein großes Wort, aber ich glaube, dass er
              da ein richtiges Gespür hat. 
              XII. 
              Darum müssen wir die Europäische Union in Fragen der
              Außen- und Sicherheitspolitik wirklich handlungsfähig
              machen. Wir müssen wissen, welche Rolle wir in der Welt
              spielen wollen, welche Ziele wir verfolgen und das heißt
              auch: Welche Aufgaben wir zu übernehmen bereit sind. 
… erweitert und bewaffnet
              Gerade wenn die Union sich nun erweitert, müssen wir
              alle - die alten und die neuen Mitglieder - uns noch
              einmal vor Augen führen, dass die Europäische Union
              keine Freihandelszone ist, sondern ein politisches Projekt,
              zu dem sich Staaten zusammengeschlossen haben, die
              auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität verzichten,
              weil sie erkannt haben, dass sie gemeinsam ihre
              Interessen und ihre Wertvorstellungen besser vertreten
              können als jeder einzelne Staat das könnte. 
              Der Historiker Heinrich August Winkler hat dazu vor
              wenigen Tagen auf einer Tagung in Warschau gesagt:
              "Die Europäische Union kommt nicht darum herum, eine
              umfassende Friedensstrategie zu erarbeiten, die
              politische, soziale und interkulturelle Anstrengungen zur
              Entschärfung und Lösung von Konflikten einschließt". 
              Er warnt vor schwerwiegenden negativen Folgen für ganz
              Europa, wenn dies Vorhaben nicht gelingt. Daraus
              könnte, so Winkler, 
"leicht eine neue Spaltung Europas
              erwachsen, und das just zu der Zeit, in der es möglich
              geworden ist, die Folgen der Spaltung von Jalta endgültig
              zu überwinden." 
              Wir wissen aus den Erfahrungen der vergangenen
              Jahrzehnte, dass eine verstärkte Zusammenarbeit
              einzelner Staaten Europa voran bringen kann. Sie muss
              aufbauen auf den Grundlagen der Europäischen Union
              und auf dem Vertrauen aller, ohne das auch die besten
              Initiativen ihren Nutzen nur schwer entfalten können. 
              Dabei muss klar sein: Das Zusammenwachsen und das
              politische Gewicht Europas werden in Zukunft noch mehr
              davon abhängen, dass kein Land in Europa die Nummer 1
              sein wird oder werden will. 
              Da setze ich große Hoffnungen in die Arbeit des
              Europäischen Konvents. Auch in der außenpolitischen
              Zusammenarbeit brauchen wir mutige und weitreichende
              Reformen. 
              Wenn das gelingt, dann wird die Europäische Union auch
              in der Außen- und Sicherheitspolitik ein akzeptierter und
              ein gesuchter Partner sein, so wie wir das schon auf
              vielen anderen Feldern sind. Dann können wir auch
              unsere eigenen Vorstellungen davon zur Geltung bringen,
              wie eine gerechte Weltordnung entstehen kann und wie
              sie aussehen soll. Dann kann es uns gelingen, weltweit
              einen Dialog zwischen Partnern zu führen und andere für
              eine multilaterale Politik gewinnen. 
              Wir sollten auch in Zukunft auf zivile Mittel setzen. Die
              Europäische Union hat allerdings leidvoll erfahren müssen,
              dass sich ein zur Gewalt bereiter Aggressor wie Milosevic
              in Jugoslawien nicht in jedem Fall durch zivile Mittel allein
              davon abhalten lässt, Gewalt anzuwenden. 
              Deshalb müssen wir bereit sein, Gewalt auch mit
              militärischen Mitteln zu begegnen - und diese
              Bereitschaft muss glaubwürdig sein. Eine handlungsfähige
              europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss
              deshalb auch eine militärische Komponente haben - wie
              schwer der Weg dorthin auch sein mag. Es ist gut, dass
              die Europäische Union auf die Kapazitäten und
              Fähigkeiten der NATO zurückgreifen kann. 
NATO hat sich bewährt
              Die NATO hat sich bewährt und sie kann sich rasch
              geänderten Verhältnissen anpassen und sie gestalten.
              Mit der Aufnahme neuer Mitglieder bei gleichzeitiger
              Partnerschaft mit Russland hat sie wesentlich zu mehr
              Sicherheit und Stabilität in Europa und darüber hinaus
              beigetragen. Sie hat sich in Washington und in Prag auf
              ein ehrgeiziges und umfassendes Arbeitsprogramm
              verständigt, das den Mitgliedsstaaten viel abverlangt. 
              Über die neuen Aufgaben der NATO muss viel stärker als
              bisher offen und öffentlich diskutiert und dann
              entschieden werden. 
              XIII. 
              Wir müssen schließlich darüber nachdenken, was es für
              Deutschland bedeutet, wenn Europa größere
              Verantwortung in der Welt übernehmen soll. Welche
              Folgen hat das für unsere eigenen sicherheitspolitischen
              Anstrengungen? Noch vor wenigen Jahren wäre ja völlig
              unvorstellbar gewesen, dass deutsche Soldaten nicht nur
              das eigene Land verteidigen, sondern sich an einer
              Intervention aus humanitären Gründen beteiligen - um
              Mord, Totschlag und Vertreibung zu beenden. 
Öffentliche Diskussion über Bundeswehr notwendig
              Die neue Sicherheitspolitik und die völlig veränderte Rolle
              der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren im
              Bewusstsein unseres Volkes nicht annähernd so
              verarbeitet worden, wie das notwendig wäre. 
              Ich vermisse eine breit geführte gesellschaftliche
              Debatte über die Frage, wie die Bundeswehr der Zukunft
              aussehen soll. Nirgendwo ist eine Regierung so sehr auf
              Unterstützung und Einverständnis der Menschen
              angewiesen wie dann, wenn die Bundeswehr als
              Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt
              wird. Wie immer auch  die Antwort lauten mag, zu der wir
              kommen werden, sie muss am Ende einer
              gesellschaftlichen Debatte stehen. Wir brauchen einen
              breiten Konsens. 
              Wir sind einen weiten Weg gegangen, seitdem wir zum
              ersten Mal deutsche Soldaten zu Friedenseinsätzen der
              UNO und der OSZE in das Ausland geschickt haben.
              Deutschland engagiert sich heute wie nie zuvor in der
              Nachkriegsgeschichte für Friedensoperationen.
              Neuntausend deutsche Soldaten sind weltweit an
              Friedenseinsätzen beteiligt. Deutschland steht dabei
              nach den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle. 
              Neben solchen Friedensmissionen bleiben die Bereitschaft
              und die Fähigkeit zur Landesverteidigung unverzichtbar:
              Niemand kennt die Zukunft. Unser Land muss in der Lage
              sein, auf eine Bedrohung auch militärisch zu antworten. 
              Deutsche Außenpolitik, die sich an Interessen und
              Überzeugungen orientiert und die bereit ist,
              Verantwortung zu übernehmen, muss im Alltag manche
              Kompromisse eingehen - auch zwischen der unbedingten
              Förderung von Demokratie und Menschenrechten und
              politischer Stabilität. Unsere Grundwerte und
              Überzeugungen darf sie aber nie verleugnen. 
              Wir müssen uns darüber klar sein und das auch
              aussprechen, dass Außenpolitik sich nicht ausschließlich
              nach eindeutigen und unfehlbaren moralischen
              Maßstäben gestalten lässt. Es geht immer um Abwägung
              - manchmal auch um die Abwägung zwischen zwei Übeln.
              Politik bedeutet nicht nur zu sagen, was nicht geht und
              wie es nicht geht. Sie muss realistische
              Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. 
              XIV. 
              Für viele Menschen ist Außenpolitik noch immer abstrakte
              Politik. Die Wege der Diplomatie und die Sprache der
              Kommuniqués bleiben ihnen oft fremd. Sie misstrauen den
              Ritualen der Politik. Selbst in den Parteien gelten
              Außenpolitiker zuweilen als Exoten. Im Alltag ist die
              Umgehungsstraße eben meistens wichtiger als das, was
              draußen in der Welt geschieht. 
Außenpolitik in einer sich globalisierenden Welt
              Diese Welt aber hat sich in den vergangenen Jahren
              verändert, und wir in Deutschland spüren, dass diese
              Veränderungen uns unmittelbar betreffen. Es kann uns
              nicht mehr gleichgültig sein, wie sich die Wirtschaft in
              Südamerika entwickelt. Wir können nicht mehr ignorieren,
              wie es um die Gesundheit der Menschen in Afrika bestellt
              ist oder um die Menschenrechte in Asien. 
              Wir leben in einer Welt. Deshalb ist Außenpolitik in einem
              umfassenden Sinn konkrete Politik für die Menschen in
              Deutschland. Wenn wir uns für den Frieden einsetzen,
              dann dient das auch unserer Sicherheit. Wenn wir für die
              Menschenrechte und für soziale Gerechtigkeit eintreten,
              dann arbeiten wir am Frieden für künftige Generationen in
              unserem Land. Wir sind angewiesen auf Freiheit in der
              Welt. Deshalb müssen wir Verantwortung übernehmen in
              dieser Welt. Das ist in unserem eigenen deutschen
              Interesse. 
              Wir Deutsche sind einen langen Weg gegangen. Wir
              haben aus unserer Geschichte gelernt. Wir sind dem
              Recht verpflichtet, das die freiheitlichen Demokratien in
              dieser Welt verbindet. Wir müssen bereit sein, dieses
              Recht zu verteidigen und durchzusetzen. 
              Aus der Katastrophe des Weltkrieges haben wir eine
              weitere Konsequenz gezogen. In den Trümmern Europas
              ist die Erkenntnis gewachsen, dass wir gemeinsam
              handeln müssen. Die Integration Europas war und ist
              deshalb das überragende Ziel deutscher Politik. 
              Europa ist wahrlich mehr als Bürokratie und
              Kommissionen. Europa ist ein historischer Auftrag, den
              uns die Menschen gegeben haben, die unter Verfolgung,
              Krieg und Vertreibung unendlich leiden mussten. Die
              Vision von einem friedlich vereinten Europa hat uns die
              Kraft gegeben, die schrecklichste Phase europäischer
              Geschichte hinter uns zu lassen. Die Kraft dieser Vision
              brauchen wir heute mehr denn je. 
              Lassen Sie uns also gemeinsam handeln. Wenn wir in
              Europa gemeinsam handeln, wenn wir uns auf unsere
              gemeinsame Tradition besinnen, wenn wir aus dem
              Reichtum an Erfahrung und Gemeinsamkeit auf diesem
              alten Kontinent schöpfen, dann sind wir auch der Welt
              ein Partner: ein starker und verlässlicher Partner - einer,
              der seiner Verantwortung in dieser Welt gerecht wird.
Quelle: Homepage des Bundespräsidenten (www.bundespraesidialamt.de)
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