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Radau im Hinterhof

Hintergrund. Auf der heutigen Westbalkankonferenz sucht die Bundesregierung ihre Hegemonie über Südosteuropa zu sichern. Die dortigen Staaten haben nämlich begonnen, sich anderweitig zu orientieren

Von Jörg Kronauer *

Ein diplomatisches Großereignis steht der Bundesregierung am heutigen Donnerstag ins Haus – die Westbalkankonferenz. Und könnte man Schlüsse aus dem Aufwand ziehen, der da betrieben wird, dann müßte man sagen: Auf der Konferenz wird wohl nicht gekleckert, sondern mächtig geklotzt. Die Bundeskanzlerin und ihre Minister für Äußeres und für Wirtschaft empfangen die Regierungschefs sowie die Außen- und die Wirtschaftsminister aus gleich acht Ländern Südosteuropas: die der EU-Mitglieder Slowenien und Kroatien sowie die der EU-Aspiranten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien sowie die von dessen abgespaltener Südprovinz Kosovo. Erwartet werden auch der scheidende EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann. Zu der in diesem Rahmen anberaumten »Wirtschaftskonferenz«, die das Bundeswirtschaftsministerium im Konferenzzentrum in der Berliner Invalidenstraße abhalten wird, haben sich EU-Energiekommissar Günther Oettinger und der österreichische Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner angekündigt. Viel Prominenz wird also erwartet. Und wie so oft ist das ein klarer Hinweis: Es gibt ein Problem.

Von dem Problem war noch nichts zu spüren, als vom 19. bis zum 21. Juni 2003 die Staats- und Regierungschefs der EU, der damaligen zwölf Beitrittsstaaten und der damaligen Beitrittsaspiranten (Mazedonien, Albanien, Kosovo, Serbien, Montenegro und Bosnien und Herzegowina) im griechischen Porto Carras, 120 Kilometer entfernt von Thessaloniki, zusammenkamen, um dort einen »EU-Westbalkan-Gipfel« abzuhalten. Südosteuropa hatte ein schlimmes Jahrzehnt hinter sich. Zunächst war Jugoslawien in den Kriegen versunken, in die es diverse maßgeblich von der Bundesrepublik Deutschland unterstützte Sezessionsbewegungen gestürzt hatten. Offiziell war es bereits in fünf Teile zerschlagen, die förmliche Abtrennung Montenegros und des Kosovo stand noch bevor. Nach dem Ende der Kämpfe war eines bereits klar: Der einzige Staat, dessen politische und ökonomische Stärke geeignet gewesen wäre, ein Gegengewicht gegen die deutsche Hegemonie in Südosteuropa zu bilden, existierte nicht mehr. Bosnien und Herzegowina und das Kosovo waren zu Protektoraten der EU bzw. des Westens geworden, Mazedonien hatte soeben erst eine NATO-Truppe, die 2001 nach heftigen Unruhen ins Land entsandt worden war, verabschieden können. Auch in Albanien funktionierte, obwohl es nicht direkt von Krieg oder Besatzung erschüttert worden war, seit dem Zusammenbruch von 1997 nicht mehr viel.

Hoffnungslosigkeit

So stellte sich die Situation dar, als die Staats- und Regierungschefs auf dem »EU-Westbalkan-Gipfel« zusammenkamen und am 21. Juni 2003 ihr »Versprechen von Thessaloniki« abgaben. Die Lage der jugoslawischen Nachfolgestaaten und Albaniens war desaströs, ihre einzige Perspektive schien die EU zu sein. Rußland, das historisch immer wieder eine Rolle in Südosteuropa gespielt hatte, war mit sich selbst beschäftigt und kämpfte noch hart mit dem Erbe der Jelzinschen Zerfallsjahre. Ansonsten war außer der Hoffnung auf eine NATO-Mitgliedschaft und daraus resultierende Geschäfte mit den USA kaum etwas Greifbares in Sicht. Zeit also, so sahen es »Europa«-Propagandisten, die EU in den leuchtendsten Farben zu schildern und den daniederliegenden Ländern der südosteuropäischen Peripherie den Weg zum EU-Beitritt als alternativlos vor Augen zu führen. »Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union«, versprachen denn auch die Gipfelteilnehmer in Porto Carras: Die 2004 bzw. 2007 bevorstehende EU-Erweiterung müsse »für die westlichen Balkanstaaten Ansporn und Ermutigung« sein, »denselben erfolgreichen Weg zu beschreiten«. Sie sollten nun »die europäischen Normen übernehmen« und hätten es dabei selbst »in der Hand, wie schnell sie (…) voranschreiten«. Letztlich dürften sie hoffen, »einer EU beitreten zu können, die in der Verfolgung ihrer wesentlichen Ziele schlagkräftiger und in der Welt stärker präsent« sei denn je.

Aus dem ach so strahlenden Aufbruch, den die Propagandisten damals priesen, ist nicht viel geworden. Das liegt zum einen an der inneren Entwicklung der südosteuropäischen EU-Aspiranten selbst. »Nach zwei Jahren sehr verhaltenen Wachstums ist Südosteuropa in eine weitere Rezession gerutscht«, berichtete die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung letztes Jahr. »Die Doppelrezession hat besonders den Westbalkan schwer getroffen.« Erwerbsarbeit werde in einigen Staaten der Region fast zum Luxus. »Im Rahmen der Weltstatistik gibt es nur wenige Länder, in denen die Arbeitslosigkeit 25 Prozent überschreitet«, heißt es im Schreiben der Ebert-Stiftung: »Davon liegen in Europa gleich vier im Westbalkan« – Serbien (28 Prozent), Bosnien und Herzegowina (28 Prozent), Mazedonien (31 Prozent) und Kosovo (44 Prozent). Die Jugendarbeitslosigkeit sei in Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien inzwischen auf mehr als 50 Prozent gestiegen, im Kosovo auf über 70 Prozent. Tatsächlich ist besonders die Lage in den EU-Protektoraten Bosnien und Herzegowina und Kosovo katastophal. Als im Februar 2014 in Bosnien und Herzegowina wegen der desperaten Verhältnisse Massenproteste losbrachen, da kommentierte Dušan Reljic, ein Südosteuropa-Experte der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): »Die EU und ihre Schlüsselstaaten stehen vor einem Scherbenhaufen. Zwei Jahrzehnte Staatsaufbau in Bosnien-Herzegowina haben offenbar nicht das gewünschte Ergebnis gebracht.« Und das Kosovo? Dort wolle »ein früherer Freischärler einen anderen als Regierungschef ablösen«, schrieb die FAZ im Juli mit Blick auf den Machtkampf zwischen den ehemaligen UÇK-Größen Hashim Thaçi und Ramush Haradinaj, die heute bestimmende Figuren in der politischen Landschaft des EU-Protektorats sind. Ende Juli hat ein offiziell im Auftrag der EU tätiger Ermittler erste Ergebnisse seiner Recherchen zu mutmaßlichen Verbrechen der früheren paramilitärischen Organisation UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) vorgelegt. Sie bestätigen, was ohnehin schon lange bekannt ist: Die UÇK und ihre Führer haben zahlreiche Morde, Entführungen, sexuelle Gewalt, Vertreibung und wohl auch Organhandel zu verantworten.

Nichts von Aufbruch zu sehen ist auch bei der EU. 2004, ein knappes Jahr nach dem hehren »Versprechen von Thessaloniki«, nahm der Staatenbund wie geplant zehn neue Mitglieder auf, 2007 noch zwei weitere – dann kam es innerhalb der Europäischen Union zu ersten Reibereien. Die Gründe waren vielfältig. Sie reichten von außenpolitischen Differenzen – etwa zwischen Deutschland und dem besonders stark transatlantisch orientierten Polen – bis zu Vorwürfen, manche Mitgliedsstaaten – gemeint waren meist Bulgarien und Rumänien – seien nicht bereit, ihr Rechtswesen »europäischen« Normen anzupassen. Hinzu kamen ab 2008 zunächst die Wirtschafts-, dann die Euro-Krise, die viel Zeit und Kraft absorbierten und kaum Platz und Geld für Aktivitäten zur Aufnahme neuer Mitglieder ließen. Von den Kandidaten erhofften sich die Hauptmächte der EU ohnehin kaum einen Gewinn: Welchen Machtzuwachs sollte etwa Berlin aus einer EU-Mitgliedschaft Mazedoniens oder Bosnien und Herzegowinas erzielen, ganz abgesehen davon, daß beide Stimmrechte hätten, daher berücksichtigt werden müßten und Geld aus EU-Töpfen bekämen? Als symptomatisch für die Stimmung in der EU und vor allem in ihrem deutschen Machtzentrum kann die Regierungserklärung gelten, die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. Dezember 2012 zur bevorstehenden Tagung des Europäischen Rats abgab. »Wir werden zum jetzigen Zeitpunkt (…) keine Entscheidung zum Beginn von Beitrittsverhandlungen mit weiteren Ländern treffen«, kündigte Merkel an. »Dafür ist die Zeit nach unserer Auffassung nicht reif.« Man prüfe »bei den Erweiterungskandidaten sorgfältiger als früher, ob diese wirklich den Anforderungen genügen, die die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Fernziel einer EU-Mitgliedschaft mit sich bringt«. Und damit die Propagandisten etwas zu erzählen hatten, fügte sie hinzu: »Das ist unverzichtbar, damit wir unsere Werte und Standards in Europa wirklich leben können.«

Abwendung von der EU

»Erweiterungsmüdigkeit« nennt man im Brüsseler PR-Slang die Auffassung, neue Mitglieder brächten der EU keinen Gewinn und seien verzichtbar. Diese »Erweiterungsmüdigkeit« drückt sich darin aus, daß nach Merkels Rede neue Anstrengungen hin zu einer größeren EU zunächst kaum noch wahrnehmbar waren. Mazedonien ist offiziell seit Dezember 2005 Beitrittskandidat, kann aber keine entsprechenden Verhandlungen beginnen, weil Athen dessen Staatsnamen als revanchistischen Anspruch auf die nordgriechische Region Makedonien begreift. Montenegro hat den Kandidatenstatus seit Dezember 2010 und führt seit Juni 2012 Beitrittsverhandlungen mit – höflich ausgedrückt – mäßigem Erfolg. Serbien erhielt seinen Kandidatenstatus im März 2012. Dann kam Merkels Regierungserklärung mit der klaren Ansage, die Zeit sei »nicht reif« für die Aufnahme weiterer Verhandlungen – und wenn die deutsche Kanzlerin sich so ausdrückt, dann geht in der EU nichts mehr. Lediglich Kroatien wurde im Juli 2013 noch aufgenommen; die Verhandlungen waren zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen, der Beitrittsvertrag bereits unterzeichnet und von der kroatischen Bevölkerung per Referendum akzeptiert.

Apropos Bevölkerung: Die EU hat durch Merkels Ansage in Südosteuropa nicht unbedingt an Beliebtheit gewonnen. Blerim Reka, Prorektor für Forschung und internationale Beziehungen an der Südosteuropa-Universität im mazedonischen Tetovo, hat das kürzlich bilanziert. Im Jahr 2013 habe es nur noch in Albanien sowie unter der albanischsprachigen Bevölkerung des Kosovo und Mazedoniens eine hohe Zustimmung zur Einbindung in die EU gegeben – mehr als 85 Prozent. Angesichts der Parteinahme der deutsch geführten EU für die albanischsprachige Bevölkerung im Kosovo verwundert das nicht. Reka wies darauf hin, daß die Unterstützung für einen Beitritt zur EU in allen anderen Nichtmitgliedsstaaten Südosteuropas gesunken sei – auf rund 50 Prozent in Mazedonien, auf 44 Prozent in Montenegro und nur noch 36 Prozent in Serbien. Nun könnte man aus machtpolitischer Perspektive Berlins diese Stimmungslagen getrost den PR-Apparaten überlassen, wenn es da nicht noch ein anderes Problem gäbe: Die Alternativlosigkeit, der sich die südosteuropäischen EU-Aspiranten 2003 gegenübersahen und die ihnen keine andere Möglichkeit zu bieten schien, als die EU sowie ihre deutsche Führungsmacht zu umwerben, existiert so nicht mehr.

Ursache Nummer eins: Rußland ist auf der Bühne der internationalen Politik zurück und auch in Südosteuropa wieder stärker aktiv. Sein Schwerpunkt, ganz traditionsgetreu: Serbien. Rußland gehört zu den drei bedeutendsten Handelspartnern des Landes und ist dort ein wichtiger Investor. Zudem spielt es eine zentrale Rolle in Schlüsselsektoren. »Die serbische Ölindustrie liegt in den Händen von Gasprom«, heißt es in einem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2012. Serbien könne außerdem »ein Schlüsselland für das Pipelineprojekt ›South Stream‹ werden«. Am 24. Mai 2013 unterzeichneten der russische Präsident Wladimir Putin und sein serbischer Amtskollege Tomislav Nikolic die Deklaration über eine »Strategische Partnerschaft«, an die sich am 13. November 2013 ein bilaterales Militärabkommen anschloß. Es sieht unter anderem gemeinsame Manöver, eine Kooperation auf Generalstabsebene und eine Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie vor. In Bezug auf Waffen könne Rußland »zu einem wichtigen Lieferanten« Serbiens aufsteigen, urteilte kürzlich das Friedensforschungsinstitut Bonn International Center for Conversion (BICC). Nicht zuletzt haben Moskau und Belgrad schon im Jahr 2000 ein Freihandelsabkommen geschlossen. Und last not least warnte die Friedrich-Ebert-Stiftung schon 2012: »Für konservative serbische Politiker ist eine Anbindung ihres Landes an Rußland eine Alternative zur Mitgliedschaft in der EU.«

Ist die Kooperation mit Moskau nicht eine Belgrader Marotte, die man einfach ignorieren kann? Keinesfalls. Schon das serbische Militärabkommen mit Rußland stieß in Südosteuropa nicht nur auf Ablehnung – in Kroatien war gar von einem neuen »Warschauer Pakt« die Rede –, sondern auch auf Zustimmung. So erklärten etwa Außenpolitiker in Mazedonien, Belgrad eröffne sich sinnvolle Optionen jenseits der EU, die den Ländern der Region andauernd Vorschriften mache. Darüber hinaus setzt Serbien die Kooperation mit Moskau auch in angespannten Situationen fort, etwa im Falle der aktuellen EU-Sanktionen gegen Rußland und der russischen Gegenmaßnahmen. Moskau stoppt die Lebensmitteleinfuhr aus der EU? »Diese Chance müssen wir nutzen«, wird Belgrads Agrarministerin Snežana Bogosavljevic-Boškovic zitiert. Sie hat bereits in Moskau mit ihrem russischen Amtskollegen verhandelt und die ersten Kooperationsmaßnahmen eingeleitet. »Wir ersticken an russischen Anfragen«, äußerte der serbische Handelsminister Rasim Ljajic und kündigte eine massive Steigerung der Lebensmittelausfuhren an. Was man in Berlin und Brüssel davon hält, liegt auf der Hand.

Zweite Ursache dafür, daß sich für die südosteuropäischen EU-Aspiranten Alternativen auftun: Die Türkei hat unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen und unter diesen Vorzeichen damit begonnen, ihre Einflußarbeit in in diesem Gebiet auszuweiten. Grundlage dafür ist das Konzept der »strategischen Tiefe«, das der bisherige Außenminister und künftige Erdogan-Nachfolger Ahmet Davutoglu entwickelt hat. Es sieht vor, daß die Türkei in den Ländern, die einst zum Osmanischen Reich gehörten, ihre Positionen stärkt, also eben auch in Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo. Der Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts Riinvest in der kosovarischen Hauptstadt Priština etwa berichtete im Oktober 2013 im Deutschlandfunk über die starke Position Ankaras im Kosovo: »Der Ausbau des Flughafens wurde an eine türkische Firma vergeben, Straßenbauprojekte wurden an türkische Firmen vergeben, der Energiesektor und höchstwahrscheinlich sehr bald auch das Telefonnetz im Kosovo werden von türkischen Firmen dominiert. Nimmt man noch den Nahrungsmittelbereich dazu, der von türkischen Firmen dominiert wird, hat man ein Bild davon, wie stark dieses Land unter dem Einfluß der türkischen Wirtschaft steht.«

Eine besondere Rolle spielt für Ankara das von Brüssel völlig vernachlässigte EU-Protektorat Bosnien und Herzegowina. Die Türkei ist dort, wie man bei dem Thinktank »Populari« aus Sarajevo nachlesen kann, zwar nicht so sehr wirtschaftlich, dafür aber umso mehr kulturell präsent. Sie habe unter der islamistischen AKP-Regierung »massiv in die Renovierung des osmanischen Kulturerbes und in Erziehung« investiert, über die Religionsbehörde Diyanet Moscheen gebaut, Universitäten gegründet und Kulturzentren errichtet. Gegenwärtig erlernten 4500 Kinder in mehr als 90 bosnischen Grundschulen die türkische Sprache. »Die Türkei hat es geschafft, einer der einflußreichsten internationalen Akteure in Bosnien und Herzegowina zu werden«, berichtet »Populari«. Dabei konzentriert sich Ankara freilich auf die bosnischen Muslime, die dieses Bemühen goutieren. Bakir Izetbegovic, deren Vertreter im Staatspräsidium, nannte Erdogan öffentlich »unseren Führer«. Bei den bosnischen Serben ruft diese Einflußnahme gelegentlich Unmut hervor. Die Ziele der türkischen Südosteuropapolitik hat Ahmet Davutoglu in seinem Buch »Strategische Tiefe« ausdrücklich benannt: Es gehe darum, erläuterte er, »einen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorposten der Türkei« aufzubauen, dessen Einfluß »bis nach Zentraleuropa hineinreicht«.

Ursache Nummer drei für Alternativen zur EU in Südosteuropa ist natürlich China. Am 26. November 2013 waren beim dritten Gipfeltreffen zwischen der Volksrepublik und 16 Staaten Zentral- und Osteuropas auch fünf südosteuropäische EU-Aspiranten zugegen: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien. Es ging um den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen. Neue Investitionen wurden geplant, das Handelsvolumen soll binnen fünf Jahren verdoppelt werden. Die chinesischen Aktivitäten entfalten für die südosteuropäischen Länder erheblichen Nutzen. Peking gewährt ihnen Kredite, die bei der EU schlecht zu bekommen sind – oft für Infrastrukturprojekte wie etwa die Modernisierung der Eisenbahnstrecke von Belgrad nach Budapest. China bietet häufig günstigere Produkte als die europäische Konkurrenz, so etwa die sechs Hochgeschwindigkeitszüge, deren Lieferung Mazedonien im Juni zusagt wurde. Der größte chinesische Zughersteller CSR sicherte sich damit den ersten Auftrag in Europa. Als Chinas Ministerpräsident Li Keqiang im vergangenen November auf dem Budapester Gipfeltreffen betonte, es müßten im zwischenstaatlichen Geschäft »die jeweils selbst gewählten Entwicklungswege respektiert werden«, ist das auch in Südosteuropa sorgsam registriert worden. Im Vergleich dazu nimmt sich die EU, die Geschäfte oft genug mit strengen politischen Auflagen verknüpft, nicht sonderlich vorteilhaft aus.

Berliner Werben

Die Zeiten sind vorbei, in denen sich Berlin und Brüssel bequem zurücklehnen und nach Lust und Laune über Südosteuropa herrschen konnten, weil die dortigen Länder keinerlei Alternative zur Kooperation mit der EU besaßen. Spätestens seit Serbien und Rußland ihre »Strategische Partnerschaft« schlossen und die südosteuropäischen EU-Aspiranten ihre Geschäfte mit China kräftig ausbauten, muß der Bundesregierung klargeworden sein, daß man nicht ganz so weitermachen kann wie bisher. Und siehe da: Anfang 2014, gerade einmal ein halbes Jahr nach dem kroatischen EU-Beitritt, durfte Serbien seine Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Im Juni 2014, wieder nur ein halbes Jahr später, erhielt Albanien den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Und am 15. Juli ließ sich die deutsche Kanzlerin sogar die PR-trächtige WM-Feier der Fußball-Nationalmannschaft in Berlin entgehen, nur um an einem Westbalkangipfel in Dubrovnik teilnehmen zu können, zu dem sich die Staats- und Regierungs­chefs der acht südosteuropäischen Länder versammelten, die heute nach Berlin kommen. Der Gipfel war der zweite im Rahmen des sogenannten Brdo-Brijuni-Prozesses, den Kroatien und Slowenien unmittelbar nach dem kroatischen EU-Beitritt gemeinsam angestoßen hatten, um die Aufnahme der sechs EU-Aspiranten in den Staatenbund voranzutreiben. Zum ersten »Brdo-Brijuni-Gipfel« im Juli 2013 war Merkel ebenfalls eingeladen gewesen, glaubte aber fehlen zu können und hatte den Bundestagswahlkampf vorgeschoben. Dieses Jahr leistete sie sich keine Absage mehr.

Den politische Zweck ihrer Dubrovnik-Reise verriet Merkel auf der Pressekonferenz im Anschluß an den Gipfel: »Alle Staaten, die heute hier versammelt sind, haben eine europäische Beitrittsperspektive«, erklärte die Kanzlerin. »Das heißt, eines Tages wird der Prozeß in einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union enden.« Soll heißen: Es lohnt sich nicht, allzu viel Kraft auf die Kooperation mit Rußland, China oder gar der Türkei zu verschwenden, wenn man doch in die EU aufgenommen werden kann. Widersprach Merkel damit nicht ihrer Aussage vom Dezember 2012, daß künftig die Erfüllung der Aufnahmekriterien »sorgfältiger als früher« geprüft werde? Aber nein. »Natürlich hängt die Frage, ob der Beitrittsprozeß gestartet werden kann, auch sehr stark davon ab, wie die Voraussetzungen in den einzelnen Ländern geschaffen werden.« Will sagen: Da ist viel Gummi im Paragraphen, und die Zeit ist gedudig. Für alle, die immer noch nicht davon überzeugt waren, ihre Zusammenarbeit mit Rußland zugunsten der Kooperation mit der EU zurückzustellen, hatte die Kanzlerin in Dubrovnik noch eine Aufforderung parat, die sie ausdrücklich nach der Debatte um die Ukraine formulierte. »Ich will noch einmal deutlich machen, daß der Annäherungs- und Beitrittsprozeß natürlich den Versuch beinhaltet, sich gemeinsam in den außenpolitischen Fragen zu positionieren, denn wir haben auch eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik«, sagte sie. Gemeint war: Die EU-Aspiranten haben sich gefälligst den damals bereits diskutierten Sanktionen gegen Rußland anzuschließen. Zu guter Letzt lud Merkel die Dubrovnik-Teilnehmer zur heutigen Westbalkankonferenz nach Berlin ein.

Hier sollen nun nach Möglichkeit ein paar Nägel mit Köpfen gemacht werden, um die Nicht-EU-Mitglieder Südosteuropas nachdrücklich von weiteren russischen, chinesischen oder gar türkischen Abenteuern abzuhalten. Deshalb laden auch Wirtschaftsverbände wie der Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft oder der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) zu der Tagung ein. Dazu passend heißt es in der Ankündigung des Ost-Ausschusses für ein »Regionales Wirtschaftsforum für die Länder des westlichen Balkans«, das am 24. September in Montenegro stattfinden soll: »Schon jetzt ist Deutschland einer der wichtigsten Handelspartner in der Region. Mehr als die Hälfte ihres Warenaustausches realisieren die Länder des westlichen Balkans mit der Europäischen Union.« Vor allem aber: »Der wirtschaftlichen Entwicklung kommt im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses eine ganz besondere Rolle zu.« Die Westbalkankonferenz soll nächstes Jahr in Österreich fortgesetzt werden, weshalb Mitglieder der österreichischen Regierung heute in Berlin zugegen sind. Das gesamte Projekt ist langfristig angelegt: Deutschland hat die Sicherung seiner Hegemonie auf seinem traditionellen südosteuropäischen Hinterhof in Angriff genommen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 28. August 2014

Und so nett formuliert die Bundesregierung:

Westbalkan-Konferenz: Europäische Perspektive schaffen

Vertreterinnen und Vertreter der Westbalkanstaaten, Sloweniens und Kroatiens sowie der EU treffen heute in Berlin zusammen. Ziel der Konferenz ist es, die Zusammenarbeit der Region zu stärken und die Perspektive der Staaten für einen EU-Beitritt auszuloten. Das Treffen findet auf Initiative der Bundeskanzlerin statt.

Bei der Konferenz im Bundeskanzleramt handelt es sich um eine Fortsetzung des sogenannten Brdo-Gipfels in Dubrovnik, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juli teilgenommen hatte.

Miteinander, nicht gegeneinander

Die Einladung der Staaten des westlichen Balkans geht auf Bundeskanzlerin Merkel zurück, die sich dazu in ihrem Podcast wie folgt äußerte: "Da ist uns als Bundesregierung die Idee gekommen, einfach diese Staaten einmal gemeinsam einzuladen, um zu zeigen: Heute ist es nicht mehr ein Gegeneinander; es gibt noch eine ganze Reihe von Konflikten, aber im Wesentlichen ist es ein Miteinander geworden."

Merkel ist überzeigt, dass Europa bei dieser Entwicklung eine maßgebliche Rolle gespielt hat und führt weiter aus: "Und das ist nach meiner festen Überzeugung nur möglich geworden, weil wir all diesen Ländern auch eine "europäische Perspektive", wie man sagt, gegeben haben. Das heißt, alle haben die Chance, Mitglied der Europäischen Union zu werden."

Das Treffen der Regierungschefs, Außen- und Wirtschaftsminister aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien ist keine Einmaligkeit: Österreich wird im nächsten Jahr die Folgekonferenz ausrichten. Die Zusammenkunft ist zunächst für vier Jahre geplant. Daher wird ein Ziel der Konferenz in Berlin sein, sich Aufgaben und Ziele vorzunehmen, die innerhalb dieser vier Jahre erreicht werden können.

Staatsgäste aus Westbalkan und EU

Bundeskanzlerin Merkel wird zu Beginn der Konferenz den albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama, seinen Amtskollegen aus Bosnien-Herzegowina, Vjekoslav Bevanda, den Ministerpräsidenten Kosovos, Hashim Thaçi, sowie den Ministerpräsident Kroatiens, Zoran Milanović, treffen. Im Bundeskanzleramt wird auch der mazedonische Ministerpräsident, Nikola Gruevski, sein ebenso wie sein Amtskollege aus Montenegro, Milo Đukanović, sowie der Ministerpräsident Serbiens, Aleksandar Vučić, und Sloweniens. Auch deren Außen- und Wirtschaftsminister werden an der Konferenz teilnehmen.

Zudem werden EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sowie EU-Energiekommissar Günther Oettinger und EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle in Berlin vertreten sein. Weitere Teilnehmer sind Österreich, vertreten durch Bundeskanzler Werner Faymann, als Veranstalter der Folgekonferenz sowie Frankreich als ein späterer Ausrichter.

Stärkung der regionalen Kooperation im Mittelpunkt

Ein Ziel der Initiative ist es, die europäische Perspektive für die Staaten des Westbalkans zu bekräftigen. Zudem sollen neue Impulse für wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Fortschritt, für Sicherheit und Versöhnung in der Region gesetzt werden. Dabei geht es insbesondere um die Stärkung und Unterstützung der Zusammenarbeit der Staaten der Region untereinander.

Quelle: Newsletter des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 28. August 2014




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