Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Lehren aus dem Potsdamer Abkommen? Die 1970er und 1980er Jahre:

KSZE und Gemeinsames Haus Europa. Von Erhard Crome*

Dieser Teil der Konferenz steht unter der Überschrift: „Verpasste Friedenschancen? Optionen und Möglichkeiten einer anderen politischen Entwicklung in Europa“. So ist zu fragen: Welche Chancen gab es? Inwiefern und warum wurden sie vertan? Das soll im folgenden beantwortet werden. Doch zunächst ist auf die Grundkonstellation in Europa seit dem Ende des zweiten Weltkrieges einzugehen. Chancen und Möglichkeiten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sowie des Konzeptes von einem „Gemeinsamen Haus Europa“ sind nur vor diesem Hintergrund richtig zu verstehen.

Zur historischen Grundkonstellation

Der 8. Mai 1945 liegt nun genau sechzig Jahre zurück. Und er ist in seiner historischen Bedeutung in Deutschland weiter umstritten, vielleicht wieder stärker umstritten, als zuvor. Vor zwanzig Jahren, am 8. Mai 1985, hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker jene international beachtete Rede gehalten, in der er den 8. Mai einen „Tag der Befreiung“ genannt hatte. Man dürfe, so hatte er damals betont, nicht im Ende des Krieges die Ursache für „Flucht, Vertreibung und Unfreiheit“ sehen, da der 8. Mai 1945 nicht getrennt vom 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Machtergreifung, betrachtet werden dürfe. Damit hatte er eine jahrzehntelange politische Auseinandersetzung in der alten BRD in gewissem Sinne zum Abschluss gebracht.

Heute, zwanzig Jahre später, sind wir wieder weit von einer solchen Sichtweise entfernt. Seit mehreren Jahren findet in der Mainstream-Historiographie und in der Publizistik, gedruckt und fernseh-dokumentarisch gesendet, eine Umbewertung statt. Das erfolgt mit den Mitteln der Postmoderne, d.h. Hitler, der Aggressionskrieg, die deutschen Verbrechen, Auschwitz werden nicht geleugnet. Aber anderes wird stärker in den Mittelpunkt gerückt. Alles steht scheinbar gleichbedeutend nebeneinander, ein Zusammenhang wird absichtsvoll nicht hergestellt. So wird der Zusammenhang von Kapitalismus, Faschismus und Krieg nahezu vollständig ausgeblendet. Übrig bleiben der Diktator, seine Verehrerinnen und Hofarchitekten, ja auch noch jene hohen Herren, die die Hebel der Kriegs- und Mordmaschinerien bedient haben, nicht aber der Kriegsprofit der deutschen Großfirmen. Gewiss, man kann das weiter in meist älteren Spezialpublikationen aus beiden deutschen Staaten nachlesen; da muss man aber schon vorher wissen, wonach zu suchen ist.

In der in Massenauflagen gedruckten und zu den günstigsten Sendezeiten gesendeten Publizistik kommt das nicht vor. Statt dessen wird mit dem Geschwätz von den „beiden deutschen Diktaturen“ – gemeint ist als zweite die DDR – das Naziregime verharmlost. Durch eine zielstrebige Erweiterung der Betrachtung von Tätern und Opfern der Naziherrschaft und des Krieges findet ebenfalls eine Verwischung der Spuren von Verantwortlichkeiten statt. Wenn etwa über das Ghetto von Warschau und dort über die Rolle der polnischen und der jüdischen Polizeikräfte geschrieben wird oder über die Organisationsweise von Konzentrationslagern und dort die Rolle der Kapos, so rückt aus dem Blickfeld, dass es die Deutschen und das Nazi-Regime waren, die diese Einrichtungen geschaffen hatten, in denen dann andere unter Todesgefahr zu handeln gezwungen wurden und dabei auch schuldig wurden. Noch stärker wurde die Erweiterung der Opferperspektive betrieben. In vielen Großdarstellungen der vergangenen Jahre wurde über die deutschen Opfer des Bombenkrieges geschrieben, aber auch hier ausgeblendet: nämlich dass es die Deutschen waren, die diese Art Krieg erfunden und gegen Guernica, Warschau oder London „erprobt“ hatten. Dann wurden besonders die Leiden der Vertriebenen in den Mittelpunkt gestellt, oder das Leiden deutscher Soldaten in Stalingrad, aber auch hier nicht wirklich dargestellt, wie sie denn dahin gekommen waren. Es ist die durch von Weizsäcker 1985 hergestellte Verbindung zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 30. Januar 1933, die jetzt fehlen gemacht wurde.

Und es gab noch eine weitere Verschiebung des Geschichtsbildes, die besonders im Zusammenhang mit dem „D-day“ 2004, dem Jahrestag der Landung der westlichen Alliierten in der Normandie, deutlich wurde: die Behauptung, damals hätte die „Befreiung Europas“ begonnen – und sie sei dann 1989/91 abgeschlossen worden, mit dem Scheitern des Realsozialismus in Osteuropa und in der Sowjetunion. Damit wird die große historische Leistung der Sowjetunion relativiert, dass sie die Hauptlast der Zerschlagung des Hitlerstaates und des deutschen Versuches, Europa zu erobern und ihm eine rassistische Terrorherrschaft aufzuzwingen, getragen hat. Ja, wir alle sind befreit worden, schon deshalb, weil uns das Leben in einem solchen Regime erspart wurde.

Der 8. Mai 1945 ist die wichtigste historische Zäsur des 20. Jahrhunderts. Die Sowjetunion hat den größten Beitrag dazu geleistet, und sie hat die größten Opfer gebracht. 27 Millionen Menschen, die Bürger der Sowjetunion waren, haben dafür ihr Leben lassen müssen. Auch unter russischen Historikern wird jetzt diskutiert, welche Rolle „der Sozialismus“ dabei gespielt hat. War er, vor allem mit der Industrialisierung der 1920er und 1930er Jahre, Grundlage des Sieges, oder wegen der Verbrechen Stalins, nicht zuletzt wegen der Ermordung der meisten hohen Militärs, eher Ursache der Schwächung des Landes und damit der Tatsache, dass die Deutschen überhaupt bis Moskau, Leningrad und Stalingrad gekommen waren? War der Sieg 1945 in erster Linie ein „Sieg des Sozialismus“ oder vor allem Ergebnis der „Verteidigung der russischen Erde“, in einer Reihe mit den Kämpfen gegen Mongolen oder Napoleon?

Es ist nicht an uns, hier und heute uns an diesen russischen Debatten zu beteiligen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich darin, dass der 8. Mai 1945 für die russische Seite von allem dem etwas hat. Und er brachte für die Sowjetunion, gleichsam als Gegenbewegung zu der gewaltigen Aggressionsmacht des Deutschen Reiches und seinem völligen Scheitern – das war ja der historische Sinn der „bedingungslosen Kapitulation“ im Unterschied zu dem Waffenstillstand, der den ersten Weltkrieg beendet hatte – bei allen riesigen Opfern die stärkste territoriale und außenpolitische Position mit sich, die Russland in seiner ganzen Geschichte je erreicht hatte.

Für die Zeitgenossen war dies ein Sieg, den die sozialistische Sowjetunion gemeinsam mit den kapitalistischen USA und Großbritannien erkämpft hatte. Insofern schien es dann folgerichtig, dass sich beide Seiten in der Folgezeit zerstritten und bekämpften. Es standen sich in der Blockkonfrontation und im „Kalten Krieg“ dann die Sowjetunion und ihre Satelliten oder Verbündeten im Gefüge des Warschauer Paktes einerseits und die USA und ihre Satelliten bzw. Verbündeten in der NATO andererseits gegenüber, zwei Seiten mit unterschiedlichen politischen, ökonomischen und geistigen Grundlagen. Das machte den Kern der Systemauseinandersetzung in der Zeit bis 1989/1991 aus.

Der territoriale Status quo in Europa zwischen beiden Seiten bildete sich zwischen der Berlin-Blockade 1948, als die Sowjetunion Westberlin mittels Blockierung der Zugangswege zu Lande die Versorgung abschneiden und so die ganze Stadt in die Sowjetisch Besetzte Zone zwingen wollte, und dem Volksaufstand in Ungarn 1956 heraus, als die Westmächte entschieden, trotz Aufforderung durch die ungarische Regierung nicht militärisch einzugreifen, weil sie wussten, dass dies die offene militärische Konfrontation mit der Sowjetunion zur Folge haben würde. Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 bekräftigte dies nochmals: Trotz aller Rhetorik des damaligen sowjetischen Partei- und Regierungschefs Chruschtschow, Westberlin gehöre in die DDR, war für US-Präsident Kennedy klar: Wer eine Mauer baut, wird das, was dahinter liegt, nicht nehmen. Und so blieb es denn ja auch. Die „Karibische Krise“, der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion um Kuba im Herbst 1962, zeigte dann beiden Seiten, wie nah am Abgrund des Atomkrieges man steht, wenn nicht ein Minimum an Beziehungen und Verhandlungen gewährleistet ist.

Vor diesem Hintergrund war dann die KSZE der Versuch, in Europa einen Modus vivendi zu erreichen, unter der Voraussetzung, dass die Blockkonfrontation nicht zu beseitigen oder zu lösen war, die Zusammenarbeit und friedliche Koexistenz in Europa zwischen beiden Seiten zu organisieren.

So haben wir in Europa, nachdem die militärischen Auseinandersetzungen zur Durchsetzung der eigenen Ordnung innerhalb des jeweiligen Machtbereichs – sie gingen in Polen bis 1948 und in Griechenland bis 1949 – beendet waren, in der Phase der Blockkonfrontation in Europa trotz oder wegen der Hochrüstung beider Seiten eine Zeit gehabt, in der Kriege auf dem Kontinent nicht stattfanden. Das änderte sich erst, als die Systemauseinandersetzung vorüber war, am sichtbarsten mit dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien.

Angesichts dessen will ich eine Anmerkung zu den Ursachen für diese lange Zeit des Friedens machen. Betrachten wir zunächst die damalige Konstellation, so behauptete jede der Seiten, sie sei die Friedenskraft, und die andere Seite der Kriegstreiber. Diese wechselseitige Zuweisung von Kriegsgefahr war Teil der Systemauseinandersetzung und des ihr gemäßen ideologischen Kampfes. Gehen wir eine Schicht tiefer, so bleibt darauf zu verweisen, dass es die Machtgier der kapitalistischen Staaten war, die den ersten Weltkrieg hervorgebracht hatte, und die russische Revolution war ein Ergebnis jenes Krieges und des Willens der Völker, einen Ausweg aus der Logik des imperialistischen Krieges zu finden. Hier leitete sich dann das Selbstverständnis des Realsozialismus her, Friedenskraft zu sein. Die Sprache der Realität war jedoch eine andere. Im Jahre 1970 war es im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und China bis zu militärischen Auseinandersetzungen gekommen, ein Jahrzehnt später auch zwischen China und Vietnam. Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert wie früher die USA in Vietnam. Dem real existiert habenden Sozialismus ist auch nachträglich nicht eine ungebrochene Friedensqualität zuzuweisen.

Insofern war es wohl ein Bündel von Faktoren, das eine Rolle spielte, wenn wir über die Ursachen für jene lange Friedenszeit in Europa reden: das „atomare Patt“, das die Erkenntnis wachsen ließ, dass ein Atomkrieg nicht führbar oder gewinnbar ist; die Friedensbewegung in Europa, insbesondere auch in der damaligen Bundesrepublik Deutschland, die gegen die Kriegsvorbereitungen auf der „eigenen“ Seite wirkte; der Unwille zur Kriegsführung auch im Osten. Erinnert sei nur an den Satz von Vincenz Müller, erster Stabschef der Nationalen Volksarmee der DDR, aus dem Jahre 1956, dass die NVA für einen Bruderkrieg nicht zur Verfügung steht. Und so verhielt sich diese ja dann auch in den Jahren 1989 und 1990. Kehren wir also zurück zur Grundvoraussetzung für die KSZE, so war diese ein wirksamer, von weitblickenden Politikern beider Seiten wahrgenommener Zwang zu Kompromiss und Kooperation, um des Friedens willen.

KSZE – Entstehung und Wirkungsweise

Die Geschichte der KSZE beginnt mit der „Bukarester Erklärung“ des Politischen Beratenden Ausschusses, des höchsten Organs des Warschauer Paktes, vom 5. Juli 1966, in der der Vorschlag unterbreitet wurde, eine „Konferenz über Fragen der europäischen Sicherheit“ einzuberufen. Der Westen signalisierte mit der Tagung des NATO-Rates im Dezember 1967 in Brüssel und seinem Konzept „Verteidigung und Entspannung“ (dem sog. Harmel-Bericht, so benannt nach dem damaligen belgischen Außenminister, der jenen Plan zu den künftigen Aufgaben der NATO federführend ausgearbeitet hatte) Gesprächsbereitschaft. Im März 1969 folgte die Antwort des Ostens mit dem „Budapester Appell“ des Politischen Beratenden Ausschusses, nunmehr eine „Gesamteuropäische Konferenz“ einzuberufen, die durch ein Vorbereitungstreffen eingeleitet werden sollte. Der NATO-Rat erklärte sich auf seiner Tagung im April 1969 in Washington bereit, in Verhandlungen mit dem Osten einzutreten. Die Regierung Finnlands sah nun ihr Land, paktfrei und neutral, als besonders prädestiniert, diesen Prozess vermittelnd voranzubringen, und unterbreitete allen europäischen Ländern im Mai 1969 ein Momorandum, die beabsichtigte Konferenz und notwendige Vorbereitungstreffen in Helsinki auszurichten. Und so wurde es dann auch. Finnland spielte bei der Beförderung dieses Prozesses, dann auch gemeinsam mit anderen nichtpaktgebundenen und neutralen Staaten, eine besondere Rolle.

Im Sommer 1969 zeichnete sich dann aber ab, dass eine solche Konferenz nicht realisierbar ist, ohne dass die „deutsche Frage“ zu einer Regelung kommt. Dazu war die damalige Regierung der BRD jedoch nicht bereit; auch die DDR-Führung unter Walter Ulbricht taktierte. Es bedurfte erst des Wahlsieges der SPD und der „neuen Ostpolitik“ von Willy Brandt in der BRD und des Wechsels von Ulbricht zu Erich Honecker in der DDR, um dies zu ermöglichen. Zu dem Lösungspaket gehörten dann der „Moskauer Vertrag“ zwischen der Sowjetunion und der BRD vom 12. August 1970, der „Warschauer Vertrag“ zwischen Polen und der BRD vom 7. Dezember 1970, das „Vierseitige Abkommen“ der Siegermächte UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich zur Regelung der Angelegenheiten um Westberlin vom 3. September 1970, der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen DDR-BRD vom 21. Dezember 1972 sowie der Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der BRD vom 11. Dezember 1973. Damit waren alle Probleme, die mit der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung der Nachkriegsgrenzen durch die BRD und den gegensätzlichen Rechtspositionen in Bezug auf Westberlin zusammenhingen und seit Jahrzehnten die Lage in Europa belastet hatten, in einem Sinne geregelt, dass sie die europäischen Beziehungen nicht mehr behinderten. Der Weg zu einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit war geöffnet. Die östlichen Länder, die dies noch nicht getan hatten, stellten diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik her, die westlichen mit der DDR. Beide deutsche Staaten stellten nun ihrerseits im Kern normalisierte politische Beziehungen zueinander her. Der Weg zum Beitritt beider deutscher Staaten zur UNO war nun ebenfalls geebnet.

Der Schlüsselvertrag war der zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, der nicht zufällig auch in der zeitlichen Abfolge der erste war. Darin hieß es, dass beide Seiten von der in Europa „bestehenden wirklichen Lage“ ausgehen (Art. 1), sich in ihren gegenseitigen Beziehungen „der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt... enthalten“ (Art. 2) und darin übereinstimmen, „dass der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet“ (Art. 3). In diesem Sinne wurden zugleich „Absichtserklärungen“ vereinbart, in denen übereinstimmend festgestellt wurde, dass es bei diesem europäischen Vertragswerk um ein einheitliches Ganzes geht, wozu auch die Gestaltung gleichberechtigter Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR und die Regelung der Beziehungen zur Tschechoslowakei auf der Grundlage der Ungültigkeit des Münchener Abkommens von 1938 gehörten. Der letzte, gleichsam abschließende Punkt der Absichtserklärungen brachte zum Ausdruck: beide Regierungen „begrüßen den Plan einer Konferenz über Fragen der Festigung der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und werden alles von ihnen Abhängende für ihre Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung tun“. Beide Seiten waren sich darüber klar, dass mit der Regelung der gegenseitigen Beziehungen und darüber hinaus aller mit den deutschen Angelegenheiten zusammenhängenden Probleme der Weg frei gemacht war für eine KSZE, wie umgekehrt sie alles in diesem Kontext Getane auch im Hinblick auf die Lage in Europa geleistet hatten.

Nach außerordentlich zugespitzten und scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen, wozu auch ein gescheitertes Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt gehörte, wurden am 17. Mai 1972 der Moskauer und der Warschauer Vertrag im Bundestag gebilligt. Die Verträge traten nach dem Austausch der Ratifizierungsurkunden zusammen mit dem Viermächte-Abkommen über Berlin am 3. Juni 1972 in Kraft. Im November 1972 begannen dann in Dipoli, einem Vorort von Helsinki, die multilateralen Vorbereitungskonsultationen zur KSZE, die im Juni 1973 mit Schlussempfehlungen über die Tagesordnung, Aufgaben für die Arbeitsorgane der KSZE, die Teilnehmer, Datum und Einberufung der Konferenz, die Verfahrensregeln und die Finanzierung der Konferenz abgeschlossen werden konnten. Die KSZE selbst tagte dann in drei Phasen: auf der Ebene der Außenminister wurden im Juli 1973 in Helsinki die Arbeitsgrundlagen bestätigt; während der zweiten Phase, die vom September 1973 bis Juli 1975 auf politisch-diplomatischer Arbeitsebene in Genf tagte, wurde die Schlussakte erarbeitet; die dritte Phase fand dann von 30. Juli bis 1. August 1975 als Treffen der Staats- und Regierungschefs wieder in Helsinki statt, die am 1. August die Schlussakte feierlich unterzeichneten.

Die Schlussakte wurde in „Vier Körbe“ gegliedert, in denen dann auch später die weiteren Verhandlungen stattfanden. „Korb 1“ umfasste die „Fragen der Sicherheit in Europa“. Dazu gehörte zuerst die „Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten“. Das war die Festschreibung von zehn Prinzipien, die ausdrücklich als anerkannte Normen des Völkerrechts für Europa vereinbart wurden. Leitende Ideen waren die Verbindung zwischen Frieden und Sicherheit, die Unteilbarkeit der Sicherheit in Europa, die Notwendigkeit größeren Vertrauens zwischen den Staaten und die Notwendigkeit der Entspannung. Kern war das Konzept der friedlichen Koexistenz: Recht auf Freiheit und politische Unabhängigkeit eines jeden Staaten heißt auch, „das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates (zu) achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln, sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen“ (1. Prinzip). Insgesamt wurden folgende Prinzipien fixiert:

I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte;
II. Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt;
III. Unverletzlichkeit der Grenzen;
IV. Territoriale Integrität der Staaten;
V. Friedliche Regelung von Streitfällen;
VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten;
VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit;
VIII. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker;
IX. Zusammenarbeit zwischen den Staaten;
X. Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.

Damit hatte sich Europa eine eigene Charta der friedlichen Koexistenz geschaffen, die von bleibendem Wert ist.

Teil des ersten Korbes waren darüber hinaus Vereinbarungen über vertrauensbildende Maßnahmen und Aspekte der Abrüstung. „Korb 2“ regelte die „Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt“, „Korb 3“ die „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen“, „Korb 4“ die „Folgen der Konferenz“. Das meinte, die Konferenz sollte Fortsetzungen haben, man wollte vom Ereignis zum Prozess kommen – was ja in gewissem Sinne bis in die Gegenwart, in Gestalt der OSZE gelang.

Versuchen wir, die damaligen Interessenlagen der Seiten zu rekapitulieren, so zeigt sich folgendes. Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder des Warschauer Paktes wollten eine dauerhafte Bestätigung des territorialen und politischen Status quo in Europa erreichen, einschließlich der Anerkennung der Existenz der DDR. Es sollte ein „Anstatt-Friedensvertrag“ sein, auf dessen Grundlage die gesamteuropäische Zusammenarbeit dauerhaft entwickelt werden konnte. Dabei sollte dem Gewaltverzicht und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten besondere Bedeutung zukommen. Zugleich wollten sie eine Förderung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit erreichen, um angesichts anhaltender wirtschaftlicher Schwächen und Probleme im Innern neue Wachstumsimpulse zu erzielen.

Der Westen, insbesondere die Bundesrepublik, wollte ebenfalls einen zuverlässigen Gewaltverzicht vereinbaren. Darüber hinaus zielte er darauf, die „Breshnew-Doktrin“ zu unterminieren, d.h. das selbst zugeschriebene Recht der Staaten des Warschauer Paktes, in den anderen Staates des Paktgefüges ggf. auch militärisch zu intervenieren, abzuschaffen und den Prinzipien einer KSZE in ausnahmslos allen Teilnehmerstaaten Geltung zu verschaffen. Zugleich sollten die Menschenrechte und die Freizügigkeit von Menschen, Ideen und Informationen durchgesetzt werden.

Beide Seiten stimmten darin überein, dass es gilt, einen Krieg zu verhindern, den Frieden zu erhalten und es ihr gemeinsames Grundinteresse ist, den Systemkonflikt friedlich auszutragen. (Und eines Tages zu lösen – davon gingen letztlich, mehr oder weniger unausgesprochen beide Seiten aus.) Die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten wollten durch ihre Mittlerrolle zwischen West und Ost ihrerseits zum Frieden auf dem Kontinent beitragen und die eigene Position politisch aufwerten. In den Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und vor allem der Menschenrechte agierten sie allerdings, abgesehen von Jugoslawien, letztlich als Teil des Westens, als ein anderer, zweiter Westen.

Um in den Verhandlungsprozessen voranzukommen, wurden zwei wichtige Spielregeln in Anwendung gebracht: alle Staaten beteiligen sich als souveräne, unabhängige Staaten (d.h. es sitzen sich nicht Blöcke gegenüber, auch wenn blockintern je Abstimmungen erfolgen) und Beschlüsse werden im Konsens gefaßt (d.h. es wird stets so lange verhandelt, bis alle Staaten, ob groß oder klein, mit dem Ergebnis leben können). Die KSZE, die Schlussakte von Helsinki, ihre Prinzipien und die ihr zu Grunde liegende Arbeitsweise wurden bereits in den 1970er Jahren zu einem anerkannten Maßstab, an dem das Handeln der Unterzeichnerstaaten sich messen lassen musste.

Veränderte Problemkonstellationen

Das allerdings konnte nicht ohne neue Auseinandersetzungen abgehen. Die KSZE hatte die Systemauseinandersetzung nicht beendet, sondern für sie in gewissem Sinne Spielregeln festgelegt, die die Seiten nicht ohne Gesichtsverlust verletzen konnten. In der offiziellen Lesart des Ostens war bereits das Zustandekommen der KSZE ein großer Sieg der Sowjetunion und der Staaten des Warschauer Vertrages. Die veränderte Situation bedeutete, dass die Gefahr eines Weltkrieges zwischen Ost und West geringer geworden war. Die Chancen und die Felder der Zusammenarbeit über die Systemgrenzen hinweg konnten sich deutlich erweitern. Nun konnte sich der „friedliche Wettbewerb der Systeme“, der von den Führern der sozialistischen Länder seit Lenin immer gefordert wurde, tatsächlich entfalten. Das aber bedeutete für den Sozialismus, dass die Herausforderungen für ihn drastisch anwuchsen. Jetzt musste sich erweisen, welche der Seiten über die größeren Entwicklungspotentiale verfügt. Das historische Ergebnis ist bekannt. Die politischen Akteure der 1970er und 1980er Jahre handelten jedoch natürlich nicht unter der Voraussetzung des Resultats von 1989/91, sondern in der Offenheit der Geschichte.

Eine Form des politisch-diplomatischen Austrags der Interessenunterschiede war das Verhandeln in Junktims. Das erste wurde zusammengefasst als Junktim zwischen Sicherheit auf der einen und wirtschaftlicher sowie wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit auf der anderen Seite sowie zwischen letzterer und den „vertrauensbildenden Maßnahmen“ im militärischen Bereich. Das bedeutete: Zugeständnisse des Westens in den Wirtschaftsbeziehungen gegen Zugeständnisse des Ostens im Sicherheitsbereich und dem der militärischen Vertrauensbildung. Das zweite Junktim wurde zwischen diesen Bereichen und dem Bereich der Menschenrechte und Förderung menschlicher Kontakte hergestellt. Hier ging es wieder um Zugeständnisse des Ostens im humanitären und Menschenrechtsbereich gegen Entgegenkommen des Westens in Wirtschaft und Technologie.

Die Herrschenden im Realsozialismus hatten gemeint, sie könnten in den Fragen ihrer Innenpolitik weiter so verfahren, wie zuvor. Sie hatten die ausführlichen Punkte im „Korb 3“ zwar unterschrieben, gingen aber davon aus, dass die Nichteinmischungsprinzipien im „Korb 1“ höherwertig seien und es das wichtigste sei, die Vereinbarungen in Fragen Frieden und Sicherheit sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit unter Dach und Fach bekommen zu haben. Das sollte sich rasch als Trugschluss erweisen. Bereits bald nach Unterzeichnung der Schlussakte meldeten sich Bürgerrechtsgruppen in den realsozialistischen Ländern zu Wort, etwa „Charta 77“ in der Tschechoslowakei – 77 meint das Jahr 1977 – und ähnliche Gruppen in anderen Ländern, die unter Berufung auf die Schlussakte größere politische Rechte im Inland einforderten. Diese Gruppen wurden teils zu wichtigen Akteuren des Umbruchs 1989. Diese Welle ließ sich mit den alten Methoden stalinistischer Machtausübung nicht mehr eindämmen. In der herkömmlichen Lesart waren das alles „Agenten des Westens“. Demgegenüber aber gilt: Auch wenn westliche Geheimdienste dort ihre Finger drin hatten, solche Protestbewegungen sind am Ende nur dann gesellschaftlich bedeutsam und schließlich erfolgreich, wenn sie Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche sind. Der Charakter des kommunistischen Herrschaftssystems war es, der diese Angreifbarkeit verursacht und ermöglicht hatte. Er erwies sich als die eigentliche Schwachstelle des Realsozialismus.

Die Folge bereits in den 1970er Jahren war, dass die kommunistischen Parteiführer Zweifel am westlichen Entspannungswillen artikulierten. Gleichzeitig kritisierten die Politiker des Westens die Nichteinhaltung der Vereinbarungen in Sachen Menschenrechte und menschliche Kontakte; sie beharrten auf der Gleichrangigkeit der „Körbe“. Unmittelbare Folge dessen war, dass das erste KSZE-Nachfolgetreffen, das von Oktober 1977 bis März 1978 in Belgrad stattfand, in der Sache scheiterte. Einziges Ergebnis war die Vereinbarung des nächsten Folgetreffens: ab 11. November 1980 in Madrid.

Die sowjetische Führung unter dem alten Breshnew artikulierte ihr gewachsenes Bedrohungsgefühl militärisch und beschleunigte mit den SS-20-Mittelsteckenraketen die Aufrüstung in Europa, an den KSZE-Vereinbarungen vorbei. Die NATO fasste den sog. Doppelbeschluss und stationierte ihrerseits neue Mittelstreckenraketen. Damit war die militärische Bedrohung für beide Seiten im Jahre 1982 größer, als sie es bei Unterzeichnung der Schlussakte 1975 war. Hinzu kamen der Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan 1979 und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen gegen die streikenden Arbeiter und ihre „Solidarnosc“-Organisation 1981. Beides hatte eine weitere Ausprägung der politischen Defensive des Realsozialismus zur Folge. Die KSZE schien in eine Dauerkrise zu geraten.

Das „Gemeinsame Haus Europa“

Der Terminus vom Gemeinsamen Haus tauchte Anfang der 1980er Jahre schon einmal bei Breshnew auf. Dem Vernehmen nach hatte ihn der außenpolitische Experte des ZK der KPdSU, Wadim Sagladin, in die Rede geschrieben. Das Wort jedoch blieb folgenlos, bis der neue KPdSU-Generalsekretär, Michail Gorbatschow, daraus zielstrebig ein politisches Konzept machte. Seine Lageeinschätzung und die seiner Mitstreiter 1985 war, dass die Rüstung das Land und seine wirtschaftlichen und technologischen Kräfte überbeanspruchte, die Raketenstationierung eine neue Konfrontation mit sich gebracht hatte und sich zugleich die innere wirtschaftliche und soziale Lage der Sowjetunion verschlechterte.

Um aus den damit verbundenen Dilemmata herauszukommen entwickelte Gorbatschow eine Politik, die er dann das „Neue Denken“ nannte. Zunächst sollte durch einseitige Vorleistungen der Sowjetunion im Bereich Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, insbesondere im Bereich der Strategischen Waffensysteme und der Mittelstreckenraketen, die politische Initiative in der Friedenspolitik gegenüber den USA zurückgewonnen werden. Das gelang bald. Hinzu kamen die zielstrebigen Bemühungen der Sowjetunion, sich aus allen militärischen Konflikten in der Welt, an denen sie in Afrika, dem Nahen Osten und Mittelamerika beteiligt war, herauszuziehen, schließlich auch aus Afghanistan abzuziehen. Der alternde US-Präsident Reagan, der gegenüber Breshnew in den Medien stets voraus war, hatte gegenüber Gorbatschow rasch verloren. Die Idee des „Gemeinsamen Hauses Europa“, die auch durch die Reduzierung des Spannungsgefühls im nuklear-strategischen Bereich rasch an öffentlichem Zuspruch gewann, wurde als Konzept für ein gemeinsames Europa weiter profiliert. In diesem Sinne kündigte Gorbatschow dann die „Breshnew-Doktrin“ auf: alle kommunistischen Parteiführungen in Osteuropa sollten sich die Zustimmung ihrer respektiven Bevölkerung selbst erwerben, jedenfalls sowjetische Bajonette dafür – wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei – nicht mehr zur Verfügung stehen. Insofern fanden sowohl die „halbfreien“ Wahlen in Ungarn 1985, als in allen Wahlkreisen mehrere Kandidaten antraten, zwischen denen tatsächlich ausgewählt werden konnte, als auch der „Runde Tisch“ in Polen 1989, um aus dem Patt zwischen Regierung und Opposition herauszukommen, die Unterstützung der sowjetischen Führung. Vor diesem Hintergrund erwartete Gorbatschow dann auch eine erweiterte Zusammenarbeit mit dem Westen in Wirtschaft und Technologie, um die inneren Probleme des Landes in den Griff zu bekommen. Menschrechte und Demokratie, dies war gleichsam der dritte Strang des Neuen Denkens, wurden als dem Wesen des Sozialismus entsprechend interpretiert. Neues Denken, Perestrojka (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit) sollten eine Einheit bilden und Wesenszüge einer Erneuerung des Sozialismus sein.

In der Praxis allerdings geriet Glasnost bald zu einer breiten öffentlichen Debatte in der Sowjetunion über die Verbrechen Stalins, die eine nachhaltige innere Delegitimierung des Sozialismus in seiner konkret-historischen Gestalt zur Folge hatte. Außen führte das Neue Denken dazu, dass die ungarischen Reformer, die 1988 die Macht übernommen hatten, im Sommer 1989 an Moskau vorbei die Grenzen für DDR-Bürger öffneten und damit die Mauer in Berlin zum Einsturz brachten.

Insofern war das historische Resultat des „Neuen Denkens“ Gorbatschows der Untergang des Realsozialismus, und das „Gemeinsame Haus Europa“ war Teil dessen. Das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der KSZE im Paris ratifizierte gleichsam mit der „Charta von Paris“ am 21. November 1990 dieses Ende des Systemkonflikts. Der Kalte Krieg, die Teilung Europas wurden für beendet erklärt, ein „neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ sollte anbrechen, das auf Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft als gemeinsamen Grundlagen beruht.

Eine neue historische Phase

Messen wir die heutige Lage an jenen Verheißungen, zeigt sich ein ambivalentes Bild. Demokratie ist in den meisten europäischen Ländern da. Allerdings ist sie auf den Bereich des politisch-parlamentarischen Betriebs beschränkt. Das neoliberale Wirtschaftsprogramm (unter Hinweis auf die Überlegenheit gegenüber der kommunistischen Staatswirtschaft) gilt als alternativlos. Freie Wahlen finden zwischen Kandidaten des gleichen Grundprogramms statt, und die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage artikuliert sich im häufigen Auswechseln des politischen Personals. Zugleich findet die Rechtlosigkeit der Arbeitnehmer und Armen weitere Ausprägung – in Deutschland heißt das Hartz IV. Die politischen Menschenrechte wurden 1989/90 in der Tat erkämpft, werden seit 2001 unter Hinweis auf die Gefahr „des Terrorismus“ aber Schritt für Schritt wieder eingeschränkt. Nach dem Krieg gegen Jugoslawien und angesichts der Bemühungen um die Militarisierung der EU ist klar, dass wir es nicht mit einem neuen Zeitalter des Friedens zu tun haben. Europäische Staaten sind an den weltweiten Kriegen der USA, wie in Irak, beteiligt. Die Bedrohungsszenarien schließen auch Russland weiter mit ein. Damit besteht auch die Spaltung des Kontinents fort. Die NATO und die EU haben sich weiter nach Osten ausgedehnt, perpetuieren damit jedoch in neuer Gestalt die Spaltung des Kontinents; auf der einen Seite die Gefüge des Westens, auf der anderen Russland und dazwischen eine „Zwischenzone“ mit der Ukraine, Weißrussland und Moldawien, die auch im Kaukasus-Raum eine Fortsetzung findet.

Insofern ist das Ergebnis des „Gemeinsamen Hauses Europa“ in der Tat eine vertane Chance. Am Ende hat sich gezeigt, dass Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft überlagert werden von den machtpolitischen Strebungen der USA, die dazu auch die NATO verwenden, und den Interessen der großen internationalen Firmen. Der Systemkonflikt der Nachkriegszeit ist beendet, doch wir befinden uns in einer neuen Phase der Weltgeschichte. Was 1985 in der Sowjetunion mit großen Hoffnungen versehen begann und 1986/87 eine starke politische Offensivposition ermöglichte, erwies sich 1989/90 als eine grandiose Niederlage, nicht nur der Sowjetunion als politische und ideologisch begründete Gestalt, sondern am Ende Russlands. Diese Niederlage ist nicht einfach als Tatbestand zu konstatieren, sondern sie wurde von maßgeblichen Kräften des Westens auch als solche geopolitisch „gestaltet“. Die Friedensfrage steht nunmehr neu. Allerdings gibt es auch eine neue Akteurskonstellation: Wer sind die Subjekte der Friedensbewegung, nachdem im Hintergrund nicht mehr das Verständnis einer Klasse oder Partei steht?

Stellen wir die Frage der vertanen Chancen auch für die KSZE, so ergibt sich ein etwas anderes Bild. Auch nach der „Charta von Paris“ behalten die in der KSZE-Schlussakte niedergelegten völkerrechtlichen Prinzipien ihre Gültigkeit. Hinzu kommt: Das Modell KSZE, nun OSZE ist gerade angesichts der vielen neuen Konflikte in der Welt ungeachtet des Entstehungshintergrundes in der Ost-West-Auseinandersetzung auf andere Konfliktkonstellationen ausweitbar. Die OSZE verfügt auch in ihrem unmittelbaren Geltungsbereich, d.h. einschließlich der asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken, über Potentiale zur friedlichen Streitbeilegung. Sie hätte schon in Jugoslawien als Alternative zur Verfügung gestanden und wurde von den NATO-Strategen absichtsvoll zur Seite geschoben, weil sie den Krieg wollten. Auch heute scheint sie marginalisiert. Doch sie steht als Alternative, etwa zur Militarisierung der EU, jederzeit zur Verfügung. Sie hat völkerrechtlich begründete Instrumente, Personal und ein positives Ansehen aus der Vergangenheit. In diesem Sinne ist die KSZE keine vertane Chance, sondern eine nutzbare Ressource der Konfliktbeilegung.

Und Gorbatschow? Er wird neben Jelzin heute in Russland als großer Verderber angesehen. Aber man sollte vielleicht auch über ihn neu nachdenken. Das humanistische Wesen des Sozialismus, das in seiner real-historischen Begründungsphase hinter harten Kämpfen verschwand und von Stalin und den anderen Parteidiktatoren pervertiert wurde, trat in seiner Schlussphase offen zutage. Nur der Einsatz militärischer Gewalt hätte 1989/91 einen anderen Ausgang bewirken können. Das wurde verhindert, nicht aus Feigheit, sondern mit gutem, humanistischen Grund. Keine Bourgeoisie ist je so abgetreten, lieber hat sie, die Revolution vor Augen, in Deutschland 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet, oder in Chile 1973 die demokratisch gewählte Regierung gestürzt und Tausende ermorden lassen. Das Ausschlagen der in der Zäsur 1989/91 liegenden historischen Chance hat die unersättliche, nun neoliberal geprägte Borgeoisie zu verantworten, die seit 1990 den Klassenkampf von oben neu führt. Gorbatschow dagegen steht in einem milden Licht: Sein größter Fehler war wohl, dass er nicht nur an die philosophischen Grundlagen seines „Neuen Denkens“ als eines humanistischen Konzepts für die Zukunft der Menschheit glaubte, sondern dass er glaubte, die andere Seite würde dies ebenfalls tun. Die Herrschenden der USA dagegen haben ihre imperiale Position zielstrebig ausgebaut.

* Dr. Erhard Crome, Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung;
Beitrag auf der internationalen wissenschaftlichen Konferenz des Bundesausschusses Friedensratschlag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, die das Thema hatte: „Die Potsdamer Konferenz. Bedeutung und Wirkung für ein friedliches und sozial gerechtes Europa“, am 8. Mai 2005 in Potsdam.


Einen weiteren Beitrag der Konferenz können Sie hier lesen:
Verpasste Friedenschancen?
Optionen und Möglichkeiten einer anderen politischen Entwicklung in Europa. Von Siegfried Prokop (10. Mai 2005)


Zurück zum Dossier "Befreiung von Faschismus und Krieg"

Zur Europa-Seite

Zurück zur Homepage