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Das Potsdamer Abkommen von 1945 oder das Ende einer völkerrechtlichen Epoche

Von Norman Paech*

Es ist immer wieder dieser Gedenktag des 8. Mai, der den Blick zurück zwingt auf historische Ereignisse, die man im kollektiven Gedächtnis bereits begraben haben möchte und die viele auch mit ihren Ritualen im Grab konserviert und verstaut sehen wollen. Der Versuch ihrer end-gültigen Historisierung, ihrer definitiven Archivierung und Entsorgung aus dem chaotischen Haushalt der sog. Vergangenheitsbewältigung oder Gedenkkultur scheitert aber immer noch. Jedes Mal brechen die alten Definitionsfronten von „Niederlage“ oder „Befreiung“ wieder auf. Wir erleben die Aktualität dieser ungelösten Konfrontation in unserer Gesellschaft an dem beschämenden Gefeilsche um den Zwangsarbeiterfonds, an dem Streit um die Gründung der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ durch den Bundesverband der Vertriebenen wie an der jüngsten Auseinandersetzung um das „ehrenvolle Gedenken“ an alte Nationalsozialisten im Auswärtigen Amt und die jetzt mächtig anschwellenden „Opfer“-Gesänge der Familien-Literatur. Die Kontroverse kulminiert in Reden wie die von Martin Walser in der Paulskirche 1998 zum Dank für die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels oder des hessischen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann 2003 und soll dann wieder eingefangen, beruhigt und einem allgemeinen Konsens – und sei es den der Umdeutung und Schuldumkehr - zugeführt werden. Aber auch das ist voraus zusehen, über die offiziellen Rituale des 8. Mai hinaus wird er nur eine kurze Zeitspanne überbrücken können.

Mit dem Potsdamer Abkommen steht es nicht anders - obwohl es schon seit Jahren im Windschatten der Auseinandersetzungen ganz unbemerkt altert und kaum mehr thematisiert wird. Die Wahl des heutigen Tages zeigt jedoch, dass auch die Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 noch ganz in den zentralen Bedeutungsstreit um die Frage gehört: steht der 8. Mai für die militärische Niederlage oder für die Befreiung vom deutschen Faschismus? Machen wir uns die Entscheidung nicht so leicht, dass wir sagen, der Tag steht natürlich für beides. Entscheiden wir uns für den 8. Mai als Symbol für die Befreiung vom Faschismus, so schließt das die unmittelbare Frage an, ob denn das drei Monate später geschlossene Potsdamer Abkommen irgendetwas Beweiskräftiges zu dieser These beisteuern kann. Es stellt sich aber auch die Frage, ob das Abkommen überhaupt noch eine über die Nachkriegsregelung der Besatzungszonen hinausgehende Bedeutung als Modell für zukünftige Friedensverträge nach beendeten Kriegen hat? Ich möchte diesen beiden Fragen im Folgenden nachgehen.

1. Die Ziele der Alliierten

Versuchen wir zunächst zu klären, was die Alliierten mit dem Abkommen wollten. Der vom Krieg erlösten Bevölkerung präsentierten sich die Forderungen ganz unverblümt in einem Flugblatt, welches im Sommer 1945 unter der Bevölkerung verteilt wurde. Darin heißt es ua.:

„Die Niederlage, die Deutschland durch seine eigene Überheblichkeit erlitten hat, wird nie wieder durch Waffengewalt abgeändert werden. Wie immer sich auch das politische Gesicht der Welt gestalten möge, die vereinten militärischen Kräfte, die Deutschland jetzt besiegt haben, werden jedem zukünftigen deutschen Angriffswunsch geschlossen im Wege stehen. Da die deutsche Rüstungsindustrie vollständig verwüstet ist und Millionen deutscher Männer gefallen sind, wird die Übermacht der Vereinten Nationen an Industrie- und Menschenmaterial über viele Jahre noch überwältigender sein, als sie es schon vorher war. Und obwohl der Verlust an Menschenleben im Laufe der Zeit durch das Heranwachsen von Kindern wieder ausgeglichen wird, der deutschen Industrie wird es nie wieder erlaubt werden, Waffen für einen deutschen Angriffskrieg zu erzeugen. Deutschlands Niederlage wird niemals durch Waffengewalt abgeändert werden. Nur durch friedliche Arbeit kann Deutschland jemals hoffen, sich als Nation wieder aufzurichten.“

Das politische Konzept einer Nachkriegs-Friedensordnung, wie sie der USA unter Roosevelt vorschwebte, zielte weiter: auf eine globale, also über Europa hinausgehende Gleichgewichtsordnung, deren Rückgrat die freundschaftlichen Beziehungen unter den Großmächten bilden sollte. Zu diesen Mächten zählte er nur noch die Sowjetunion, Großbritannien und die VR China, die übrigen europäischen Staaten spielten in diesem Konzept keine besondere Rolle. Roosevelt war auch im Gegensatz zur sowjetischen Führung von der langfristigen Annäherung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme überzeugt, deren antagonistischen Gegensatz in der sowjetischen Interpretation er nicht teilte. Seine oft als illusionär bezeichnete One-World Konzeption baute auf die anglo-russische Allianz für Frieden. Sie sollte in der UNO zu einem kollektiven System der Sicherheit zusammengefügt werden. Sie stützte sich ferner auf das Prinzip des Freihandels, den freien Waren- und Kapitalaustausch, wie er in den BrettonWoods-Organisationen institutionalisiert wurde. Die weltweite Dominanz liberal-demokratischer parlamentarischer Systeme war für ihn und den britischen Bündnispartner Churchill eine selbstverständliche Voraussetzung des Erfolgs dieser Friedensordnung.

Deutschland spielte in diesem Konzept nur insofern eine Rolle, als sein militaristisches und nationalsozialistisches Potenzial samt seiner ökonomischen Grundlage vollkommen vernichtet werden sollte. Auch eine territoriale Zerstückelung wurde nicht ausgeschlossen, wenn sie dem Ziel nutzen konnte, den deutschen Einfluss im europäischen Staatensystem vollständig zu demontieren. Man wollte aus dem Fehler lernen, den man 1918 begangen hatte, als die Alliierten es versäumt hatten, Deutschland zu besetzen, ein Fehler, den man für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit verantwortlich machte. In dieser Frage sowie in der engen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion bei der Behandlung Nachkriegsdeutschlands bestand noch Einigkeit in der nach dem Tode Roosevelts von Truman geleiteten Delegation in Potsdam, auch wenn sich bei ihm schon die ersten Anzeichen der Containment-Politik des Kalten Krieges bemerkbar machten (Mitteilung an Stalin vom ersten gelungenen Atomwaffen-Versuch während der Konferenz). Aber erst im März 1947 fand sie in seiner „Truman Doktrin“ ihren vollen Ausdruck.

Die Führung der Sowjetunion entwarf ihre Nachkriegskonzeption unter ganz anderen Voraussetzungen als ihre westlichen Alliierten. Zweimal war sie existenziell bedroht worden: 1918 bis 1920 im Bürgerkrieg durch zahlreiche ausländische Interventionen und 1941 durch den Überfall Deutschlands. So stand die Sicherung der durch den Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogenen Union im Vordergrund. Zudem machte sich Stalin keine Illusionen über die Widersprüchlichkeit der beiden Gesellschaftssysteme und die Dauerhaftigkeit des Bündnisses. Das hinderte ihn allerdings nicht, ja erforderte es geradezu, die „Anti-Hitler-Koalition“ in einer intensiven Zusammenarbeit mit den Westmächten zum Aufbau einer Friedensordnung fortzusetzen. Die Deutschlandpolitik war dabei von zwei dominanten Interessen beherrscht: zum einen die Sicherung der bei Kriegsende erreichten Position der Sowjetunion unter den Großmächten, zum anderen der Wiederaufbau der durch die Kriegsschäden schwer getroffenen eigenen Wirtschaft. Voraussetzung war dafür die Zerstörung der militärischen Kapazität wie die Beseitigung des militaristischen und faschistischen Potenzials in der deutschen Gesellschaft und die Schwächung ihrer wirtschaftlichen Kraft. Letztere sollte weitgehend für den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft benutzt werden.

Infolge ihrer skeptischen Einschätzung der Zukunft des Bündnisses mit den Westmächten gab es in der sowjetischen Führung durchaus auch Überlegungen einer möglichen Zusammenarbeit mit den Deutschen gegen die Alliierten bzw. eine stärkere Einbeziehung des neuen Deutschlands in den sowjetischen Einflussbereich. Ähnliche Absichten hatten sich auch schon unter Roosevelts Regierung in den USA vernehmen lassen, die sich allerdings auf andere Kräfte in Deutschland stützen wollten als Stalin sie im Auge hatte. Insofern war eine Zerschlagung Deutschlands, wie es die Zoneneinteilung nahegelegt hätte, auch für die Sowjetführung keine strikte Option. Wichtiger war ihr der mitbestimmende Einfluss auf ganz Deutschland, um ihre Sicherheitsinteressen und ihren Wiederaufbau ungestört verfolgen zu können. Dazu legte sie vor allem Wert auf vertragliche Übereinkommen mit den Westmächten wie die Charta der Vereinten Nationen und das Potsdamer Abkommen.

Die Briten unter Premierminister Churchill schließlich hatten ebenfalls schwere Kriegsschäden zu verkraften und blickten auf ein unaufhaltsam zerfallendes Empire. Sie waren die historischen Verbündeten der USA, wurden aber mit Roosevelts Forderungen nach Aufgabe der Kolonien und einem ungehinderten freien Welthandel konfrontiert. Gegen die antikolonialen Ambitionen konnte sich Churchill in den Vereinten Nationen noch mit der Einrichtung des Treuhandrats retten, der die Kolonien unangetastet ließ. Das Freihandelsdogma empfand er jedoch angesichts der ökonomischen Übermacht der USA als eine echte Bedrohung der britischen Position. Dennoch hatte er keinen großen Manövrierraum zur Verfügung, da er den Zugriff der Kommunisten auf das Machtvakuum in Zentraleuropa fürchtete. Ein Übergewicht Moskaus in Europa wiederum konnte er nur mit der Unterstützung der USA überwinden. So war es das britische Ziel, Deutschland möglichst lange unter internationaler Kontrolle zu halten und das verbliebene Wirtschaftspotential für den Wiederaufbau der zerstörten europäischen Länder zu nutzen.

Churchill, der noch während der Potsdamer Verhandlungen auf Grund seiner Wahlniederlage vom neuen Labour-Premier Clement Attlee abgelöst wurde, hatte eine geopolitische Lieblingsidee, um ein Wiedererstarken Deutschlands ein für allemal zu verhindern: die Trennung Preußens vom übrigen Deutschland und die Bildung einer Donauföderation. Die Angst vor einem Machtvakuum in Mitteleuropa und einem Wiederaufleben des deutschen Nationalismus ließen die britische Führung jedoch schon in Jalta Abstand von allen Teilungsplänen nehmen. Auch ihr, dem schwächsten der „großen Drei“, ging es vor allem um die Wahrung einer Führungsrolle in Europa unter Ausschaltung des nationalsozialistischen und militaristischen Erbes Deutschlands und weitestgehender Schwächung seiner wirtschaftlichen Kraft.

In ihren Teilungsüberlegungen hätten die Briten mit de Gaulles französischer Nachkriegsregierung einen konstruktiven Partner gehabt. Denn das ewige Trauma vom dominanten und aggressiven Nachbarn hatten in Frankreich Vorstellungen von einer staatenbundähnlichen Aufteilung Deutschlands, Gebietsabtretungen an Rhein, Ruhr und Saar sowie weitgehender Demontage und Ausbeutung der Ressourcen populär gemacht. Doch Frankreich war auf Grund seiner Kollaborationsregierung von Vichy nicht zur Konferenz eingeladen worden. Letztlich wurde es aber gleichberechtigt an der Regierungsgewalt über Deutschland beteiligt und erhielt eine eigene Besatzungszone.

Trotz aller Differenzen in den Vorstellungen der drei Konferenzmächte blieben die grundlegenden Ziele der Krim-Deklaration vom Februar 1945 die Leitlinie des Potsdamer Abkommens, wie sie im Dritten Abschnitt knapp formuliert worden ist:

„Das Ziel dieser Übereinkunft bildet die Durchführung der Krim-Deklaration über Deutschland. Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann. Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wieder aufzubauen.“

Dieser Abschnitt III mit der Überschrift „Deutschland“ enthält die wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Grundsätze für die Politik der Nachkriegszeit, die unter den Schlagworten der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entmonopolisierung bekannt geworden sind. In den weiteren der insgesamt 14 Abschnitte werden in summarischer Form die unterschiedlichsten Einzelprobleme angesprochen wie z.B. die Reparationen, die deutsche Kriegs- und Handelsmarine, die Stadt Königsberg und das anliegende Gebiet, der Prozess gegen die Kriegsverbrecher, Österreich, Polen, die zukünftigen Friedensverträge und die Zulassung Deutschlands zu den Vereinten Nationen. In den Worten eines französischen Juristen:

„Die Alliierten haben in Deutschland eingegriffen, nicht nur um hier nach der vollständigen militärischen Niederlage den Eintritt eines Chaos zu verhindern, sondern auch um hier demokratische Einrichtungen zu schaffen und sie in ihren Anfangsstadien zu schützen, um die militärische Bedrohung durch dieses Land von Grund auf zu beseitigen und die Wiedergutmachung der Schäden sicherzustellen, die den Vereinten Nationen durch den von Deutschland verschuldeten Krieg verursacht worden sind. Zur Erreichung dieser Ziele, die in den Abkommen von Jalta und Potsdam festgelegt sind, sind die Alliierten genötigt, auf allen Gebieten der Politik, Wirtschaft und Gesetzgebung in Deutschland einzugreifen, um grundlegende Reformen durchzuführen. (...) Durch die Reformen wollen die Alliierten demokratische Einrichtungen in Deutschland wieder herstellen und das Wiedererwachen einer demokratischen Auffassung von der politischen Gewalt im Bewusstsein des deutschen Volkes fördern. Die alliierten Behörden machen es sich also zur Aufgabe, deutsche repräsentative Verwaltungen wieder herzustellen, Wahlen auf dem ganzen Gebiet Deutschlands wieder einzuführen, den aus den Wahlen hervorgegangenen repräsentativen Verwaltungskörpern immer größere Machtbefugnisse anzuvertrauen und ihre direkte Tätigkeit gegenüber dem deutschen Volk durch eine bloße Kontrolle der Tätigkeit der deutschen Behörden zu ersetzen.“

Lassen wir einmal hier die durchaus lohnende Diskussion über den Erfolg der deutschlandpolitischen Grundsätze beiseite. Wer käme nicht ins Grübeln bei der Erinnerung an jene Sätze des Flugblattes vom Sommer 1945: „...der deutschen Industrie wird es nie erlaubt werden, Waffen für einen deutschen Angriffskrieg zu erzeugen... Nur durch friedliche Arbeit kann Deutschland hoffen, sich als Nation wieder aufzurichten.“ Nicht die Beteiligung Deutschlands am Überfall auf Jugoslawien oder die Statistik, die Deutschland auf dem 3. Platz der Nationen für Rüstungsexport führt, lässt uns so sehr grübeln, sondern die offensichtliche Umkehrung des zweiten Satzes im Bewusstsein und der Vorstellung der Deutschen wie der NATO-Verbündeten: Nicht durch „friedliche Arbeit“, sondern durch verstärkte Rüstung und die Beteiligung an weltweiten Kriegseinsätzen kann jetzt Deutschland „sich als Nation wieder aufrichten“ - und einen permanenten Sitz an der Seite der Atom-Mächte im UN-Sicherheitsrat einfordern.

Gestehen wir uns also ein, dass die deutschlandpolitischen Grundsätze heute ebenso wenig eine Rolle in den aktuellen Diskussionen spielen, wie die Reparationen, die seinerzeit ein äußerst strittiges Thema waren, das Schicksal der Handels- und Kriegsmarine oder der Aburteilung der Kriegsverbrecher, eines der dunkelsten Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Von erstaunlicher Aktualität sind zwei andere Entscheidungen geblieben, die auch für die Frage nach der Bedeutung des Abkommens für künftige Friedensregelungen wichtig sind: die Festlegung der Westgrenze Polens in Abschnitt IX und die damit verbundenen Gebietsabtretungen sowie die „Ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile“ in Abschnitt XIII, geschichtsnäher formuliert: die Umsiedlungen und Vertreibungen. Beide Regelungen fordern die Frage heraus: Wie geht man mit verbrecherischen Staaten um? Welche Verantwortlichkeiten und Lasten kann man ihnen zumuten und kann das Potsdamer Abkommen als ein Modell für Friedensverträge dienen?

2. Grenzregelung und Gebietsabtretung

Wer der Ansicht war, dass die deutsche Ostgrenze und alle damit zusammenhängenden Fragen der Enteignung und Entschädigung nach 60 Jahren endgültig gelöst sind, hat sich getäuscht. Erst unlängst mussten die polnische und deutsche Regierung ein gemeinsames Expertenteam mit einem Gutachten beauftragen, um den immer wieder gestellten Ansprüchen Deutscher aus Enteignungen und Vertreibungen aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg das Fehlen jeglicher Rechtsgrundlage zu bestätigen. Der Streit über die Grenzbestimmungen des Potsdamer Abkommens hält offensichtlich immer noch an. Dabei geht es nicht um den Verlauf der Grenze an der westlichen oder östlichen Neiße, der lange Zeit die Diskussion bestimmte. Es geht um die Rechtswirkung des ganzen Abkommens und um die territoriale Kompetenz der Großmächte, deutsche Gebiete abzutreten. Die Polnische Seite – sie war übrigens die Einzige, die Zugang zur Konferenz hatte und angehört wurde – bestand von Anfang an auf der definitiven Rechtswirksamkeit der Grenzregelung durch die drei Mächte auf der Potsdamer Konferenz. Sie verwies auf die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, mit der die Alliierten nicht nur die Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland verkündeten, sondern sich auch das Recht vorbehielten, „später die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands und die rechtliche Stellung Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, fest(zu)legen.“ Die Alliierten haben diese Regelung bis hin zum Zwei-plus-Vier Vertrag 1990 nie in Frage gestellt, und auch alle anderen deutsch-polnischen Verträge, wie der von Görlitz 1950, von Warschau 1970 und der Grenzvertrag von 1990 haben die Grenzregelung des Potsdamer Abkommens als endgültig akzeptiert.

Nicht so die deutsche Seite. Keine Regierung der Bundesrepublik – im Gegensatz zu der der DDR - hat jemals die Rechtmäßigkeit der Potsdamer Verfügung über deutsches Gebiet anerkannt. Alle Nachkriegsregierungen haben sich darauf festgelegt, dass nur eine deutsche Regierung über deutsches Territorium verfügen könne. Bekanntlich haben sie immer an der Fiktion festgehalten, dass das Deutsche Reich auch 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation nicht untergegangen sei sondern fortexistiere. Dieses Phantom erlaubte es ihnen, die Übernahme der Regierungsgewalt durch die drei Mächte lediglich als Treuhandschaft zu interpretieren, aus der sich keine Befugnis zu territorialen Entscheidungen ergebe. Diese müssten einem späteren Friedensvertrag mit deutscher Mitwirkung vorbehalten bleiben.

Als Tschechen und Deutsche 1996 in Prag über einen solchen Friedensvertrag verhandelten, betonten das U.S State-Departement und die Botschaften Frankreichs, Großbritanniens und Russlands, dass die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens immer noch Gültigkeit hätten. Bundesaußenminister Kinkel jedoch antwortete im Namen der Bundesregierung, dass Deutschland die Potsdamer Beschlüsse niemals als bindend angesehen habe. Wahrscheinlich stützte er sich dabei auf die Arbeiten des regierungsoffiziellen Gutachters Christian Tomuschat, der nur die Aussage über die Einheit Deutschlands als Zentrum der Potsdamer Beschlüsse gelten lassen wollte, alles andere jedoch als mangelhaft und fragwürdig abqualifizierte: „Die Potsdamer Beschlüsse wurden wegen ihrer fragwürdigen Bestandteile in den Augen sämtlicher politischer Kreise im Westen für ungültig betrachtet, weil ihnen tief sitzende Mängel jegliche Legitimität nahmen.“ Er geht nicht so weit, die Grenzregelungen noch fünfzig Jahre nach ihrer Festlegung in Zweifel zu ziehen. Er räumt ein, dass sie schließlich als gleichsam politischer Preis für die Wiedervereinigung von Deutschland akzeptiert worden seien: „Aus deutscher Sicht stellen die Ereignisse nichts anderes als eine ursprünglich rechtswidrige Annexion dar, die nun von Deutschland als definitive de iure-Situation akzeptiert wird, um in Europa eine langdauernde Friedensordnung zu schaffen.“ Die grundsätzliche rechtliche Dequalifizierung der Potsdamer Beschlüsse – eine deutsche Besonderheit - gibt aber immer wieder den Kräften wie der „Preußischen Treuhand“ Vorschub, die mit Entschädigungs- und Restitutionsforderungen Unruhe, Sorge, Unsicherheit und Empörung hervorrufen.

Zweifellos wird man die Abtretung deutschen Territoriums auch nach damaliger internationaler Rechtlage nicht als Akt der Bestrafung und Vergeltung für schwerste internationale Verbrechen rechtfertigen können – was auch US-amerikanische Stimmen ablehnen. Die Legitimation für diese Regelung ohne Beteiligung des vollkommen zerstörten, d.h. nicht nur militärisch und ökonomisch sondern auch politisch zerstörten und handlungsunfähigen Deutschland lag vielmehr in der Übernahme der vollen Regierungsgewalt durch die Alliierten, die sich damit an die Stelle einer deutschen Regierung setzten und für sie rechtsverbindlich handelten. Obwohl es nie einen formalen Friedensvertrag gegeben hat, kann man spätestens mit den Verträgen von Moskau und Warschau 1970 davon ausgehen, dass die Bundesrepublik für sich die bestehenden Grenzen als rechtsverbindlich anerkannt hat. Doch auch hier herrscht noch Streit. Während ein Teil der Kommentatoren erst dem 2+4-Vertrag und dem Grenzvertrag von 1990 eine konstitutive Regelung der Grenze zuerkennen wollen, verweisen vor allem die polnischen Autoren darauf, dass der Grenzvertrag auf die in Potsdam festgelegte Linie als existierende Grenze hinweist und dieser Vertrag die Grenzregelung von Potsdam nur bestätige. Politiker wissen, weswegen sie um solche juristischen Finessen feilschen, denn für Restitutions- und Entschädigungsforderungen ist es wichtig, ob die jetzigen Grenzen bereits 1945 oder erst 1970 bzw. 1990 gezogen worden sind. Eine „rechtswidrige Annexion“ deutscher Gebiete durch Polen im Jahre 1945, die erst mit dem Vertrag von 1990 geheilt wird, lässt manchen juristischen Spielraum für Forderungen an die polnische Seite. Zollt man der historischen und juristischen Wahrheit jedoch Achtung und erkennt in der Potsdamer Grenzregelung die definitive Gebietsabtretung „als eine Form der Reparation für die von Deutschland verursachten Kriegsschäden und für dessen Kriegsverbrechen“ , so befindet man sich nicht nur in Übereinstimmung mit der Intention des Abkommens sondern auch mit den unantastbaren Eckpunkten der europäischen Friedensordnung.

3. Umsiedlung und Vertreibung

Anders zu beurteilen ist hingegen die Vertreibung und Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl auch sie in Kapitel XIII der Potsdamer Beschlüsse verfügt wird. Die drei Mächte hatten entschieden, „dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ Letzteres ist zweifellos nicht so geschehen. Allein die quantitativen Dimensionen überstiegen bei weitem die Zahlen, die der Alliierte Kontrollrat am 20. November 1945 in seinem Umsiedlungsplan vorgesehen hatte. Statt der 6,65 Mio. auszuweisender Deutscher wurden im März 1949 in der sowjetischen Besatzungszone bereits 4,4 Mio. und in den Westzonen im September 1950 7,8 Mio. registriert – Zahlen, die aber wohl kaum den gesamten Umfang der Vertreibung wiederspiegeln.

Massenvertreibungen waren bis ins 19. Jahrhundert eine legitime Form der Reaktion auf völkerrechtliche Verbrechen, und das Institut de Droit International hat etliche Massenausweisungen als unbedenkliche Praxis zwischen den Staaten angesehen. Der Lausanner Friedensvertrag vom 30. Januar 1930 regelte einen Bevölkerungsaustausch von 0,5 Mio. Angehörigen der türkischen Minderheit in Griechenland gegen 2 Mio. der griechischen Minderheit in der Türkei. Auch danach waren Verträge über Bevölkerungsaustausch nicht selten. Man wird insofern Kapitel XIII des Potsdamer Abkommens keinen Verstoß gegen das am Kriegsende geltende Völkerrecht vorwerfen können. Doch entsprach das, was tatsächlich folgte, nicht einer „Überführung in ordnungsmäßiger und humaner Weise“. Schon damals war der Schutz der Menschen- und Minderheitsrechte sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker durch die neue UN-Charta auf einem Niveau festgeschrieben worden, welches die Zwangsausweisungen dieses Umfanges als völkerrechtswidrig erscheinen lässt. Die historische Einsicht, dass die Umsiedlung der Deutschen Bevölkerungsteile aus den überfallenen und schwer zerstörten Staaten notwendig und faktisch ohne Alternative war, darf nicht den Blick vor den Verbrechen verschließen, die sie begleiteten.

Doch 60 Jahre Integration der Vertriebenen, Wiedergutmachung und Lastenausgleich haben ihre Verbände offensichtlich nicht zufrieden gestellt, wie ihre Aktivitäten immer wieder aufs neue bezeugen. Hat die Bundesregierung auch sehr eindeutig jeden juristischen Anspruch aus Enteignungen und Vertreibungen gegenüber dem polnischen Staat zurückgewiesen, so ist ihre Haltung gegenüber den sog. Beneš-Dekreten von 1945 unter dem Druck der Vertriebenen-Verbänden nicht so entschieden. Bereits Ende 1944 hatte die tschechoslowakische Exilregierung die Alliierten darauf hingewiesen, dass die Aussiedlung der deutschen Minderheit notwendig sei, da deren aktives antitschechisches Verhalten in der Vergangenheit eine Gefahr auch für den zukünftigen Frieden in Europa erwarten lasse. Die ganz massiven Aktivitäten der Sudetendeutschen zur Destabilisierung und Unterminierung der tschechoslowakischen Souveränität, die schon vor dem Münchener Abkommen von 1938 begonnen hatten, stehen seit der deutsch-tschechischen Historikerkommission 1996 außer Zweifel. Die Alliierten stimmten der tschechischen Forderung seinerzeit zu und gaben den Dekreten, soweit sie die Ausweisung der Deutschen verfügten, in Kapitel XIII des Potsdamer Abkommens die völkerrechtliche Legitimation. Nur in Deutschland und Österreich wird die Debatte von den Vertriebenenverbänden periodisch angeheizt und mit „Gutachten“ die Forderung nach Aufhebung der Beneš-Dekrete als völkerrechtswidrig gefüttert. Sowohl das Europäische Parlament wie die Europäische Kommission haben in zwei Gutachten die Forderung als unbegründet abgelehnt. Die Dekrete würden nicht im Widerspruch zur Europäischen Rechtsordnung und deren acquis communautaire stehen. Dennoch werden auch diese definitiven Aussagen die besonders reaktionären Geister nicht beruhigen.

4. Modell für zukünftige Friedensregelungen?

Lassen wir diese Geister einmal in ihrer Flasche, so besteht doch die berechtigte Frage, ob Gebietsabtretungen und Massenausweisungen ein legitimes Instrument künftiger Friedensverträge sein können. Ist das Potsdamer Abkommen, obwohl kein definitiver Friedensvertrag, dennoch richtungsweisend für spätere Friedensverträge oder evtl. doch nur Ausdruck der speziellen Situation am Ende eines Weltkrieges, der auch das Ende einer völkerrechtlichen Epoche markiert?

In den zeitgleich zum Potsdamer Abkommen verabschiedeten Nürnberger Prinzipien zur Bestrafung der Kriegsverbrecher wurde die Deportation jeglicher Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft. Und es sollte auch Juristen nicht ganz einleuchten, wieso dies bei der Ausweisung nach dem Krieg anders zu bewerten sein sollte. Zahlreiche internationale Konventionen der Nachkriegszeit wie die Vierte Genfer Konvention von 1949, die Konvention über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung von 1965 und die beiden Menschenrechtspakte von 1967 haben die zwangsweise Massenausweisung der Zivilbevölkerung in Friedenszeiten, die auf ihrer Herkunft oder Nationalität beruht, verboten. Artikel 3 Absatz 1 des Vierten Zusatzprotokolls zu der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1951 lautet: „Niemand darf durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden, dessen Angehöriger er ist.“ Und Art. 4 bestimmt: „Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig.“ Ähnliche Verbote von Zwangsausweisungen finden wir in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969 und in der Afrikanischen Menschenrechtskonvention von 1981.

Wir haben heute davon auszugehen, dass Massendeportationen und Zwangsausweisungen der Zivilbevölkerung nicht mehr dem aktuellen Stand des Völkerrechts entsprechen. Das Potsdamer Abkommen markiert gleichsam den Wendepunkt von der Anerkennung zum Verbot derartiger Praxis zwischen den Staaten. Weniger Kapitel XIII des Potsdamer Abkommens als vielmehr die Umstände seiner Realisierung gaben ganz offensichtlich Anstoß zu der jetzt allgemein geteilten Ansicht, dass massenhafte Zwangsausweisungen sowohl die gut-nachbarschaftlichen Verpflichtungen aus den zwischenstaatlichen Verhältnissen wie auch die Minderheiten- und Menschenrechte verletzen und deshalb verboten sind. Dieses Verbot ist allerdings noch nicht derart zu zwingendem Recht (ius cogens) erstarkt, dass es nicht durch vertragliche Verabredung zwischen zwei Staaten umgangen werden könnte.

Eine alte Begründung für die Zulässigkeit von Gebietsabtretungen und Zwangsausweisungen lag in der Bestrafung eines kriminellen Regimes wegen Verletzung fundamentaler Normen des Völkerrechts. Aber selbst im Falle des Iraks 1991 hat die UNO auf die Souveränität und territoriale Unantastbarkeit des geschlagenen Aggressors geachtet. Die immer noch nicht beendete Zerlegung Jugoslawiens in mehrere Staaten, von denen nur wenige aus eigenen Kräften lebensfähig sind, ist von verschiedenen völkerrechtlichen Merkwürdigkeiten begleitet, die dem Bestreben der UNO, die territoriale Integrität der Staaten zu erhalten, deutlich widersprechen.

In der Zwischenzeit hat die International Law Commission (ILC) sich mit der Frage der Verantwortlichkeit der Staaten für ihre internationalen Verbrechen auseinandergesetzt. In ihrem 1996 veröffentlichten Entwurf für eine Konvention zur Staatenverantwortlichkeit nimmt sie eindeutig Abstand von einer straf- und sanktionsrechtlichen Rechtfertigung von Zwangsausweisungen. Der Tenor ihrer Vorschläge beschränkt die Reparations- und Sanktionsforderungen des geschädigten Staates auf Maßnahmen, die in keinem Fall die Subsistenzmöglichkeiten der Bevölkerung oder die Würde des verbrecherischen Staates antasten (Art. 42 Abs. 3, 45 ILC-Entwurf). In Art. 50 des Entwurfes wird vor allem verboten: ...b) „äußerster ökonomischer oder politischer Zwang, um die territoriale oder politische Unabhängigkeit des Staates, der das internationale Vergehen begangen hat, zu gefährden;.... d) jegliche Maßnahme, die die grundlegenden Menschenrechte verletzt; oder e) jede andere Maßnahme im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts.“

Damit hat sich die Kommission eindeutig gegen das Potsdamer Abkommen als Model für die Bestrafung verbrecherischer Staaten ausgesprochen, da mit ihr weder die Menschenrechte der unschuldigen Bevölkerung noch das Recht des Staates auf seine Existenz und seine territoriale Integrität angetastet werden dürfen. Dies ist ja auch das zentrale Argument gegen ökonomische Sanktionen bei Menschenrechtsverletzungen. Die zwölfjährigen ökonomischen Sanktionen gegen den Irak nach seiner Vertreibung aus Kuwait 1991 haben Schäden an der Zivilbevölkerung verursacht, die bei weitem außerhalb des Verhältnisses zu den vorgegebenen Zielen lagen und den UN-Berichterstatter Marc Bossuyt zu der Feststellung zwangen: "Die Sanktionen gegen den Irak haben ein humanitäres Desaster verursacht, welches mit den schlimmsten Katastrophen der vergangenen Dekaden vergleichbar ist." Ihre Völkerrechtswidrigkeit wird ungern thematisiert ist aber unbestreitbar.

Die zentrale Frage ist, ob Staaten überhaupt für die Taten ihrer Regierungen und ihres Militärs bestraft werden können, ohne dass die Zivilbevölkerung nicht unverhältnismäßig in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie ist wohl zu verneinen. Es hat sich inzwischen die allgemeine Ansicht durchgesetzt, dass das Potsdamer Abkommen kein überzeugendes Model für die Bestrafung eines Staates in Zukunft mehr bietet. Demgegenüber haben sich die beiden Tribunale gegen Ex-Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) bei aller Problematik der dort ablaufenden Prozesse, als eine sehr viel überzeugendere Alternative der Bestrafung erwiesen. Sie haben das Nürnberger Modell individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit wieder aufgenommen und den Jahrzehnte langen vergeblichen Versuchen, eine allgemeine Internationale Strafgerichtsbarkeit für schwerste Völkerrechtsverbrechen zu errichten, zum Durchbruch verholfen. Der hartnäckige und rüde Widerstand der USA gegen ihr ursprünglich eigenstes Projekt spricht nicht dagegen, eher dafür, dass die individuelle Bestrafung der verantwortlichen Verbrecher, in welcher Position sie auch immer gehandelt haben, allen anderen Versuchen kollektiver Bestrafung überlegen ist. Nicht der Staat ist der Verbrecher, sondern die in seinem Namen Agierenden, ob Regierung oder Militär, sie sind für die Taten individuell verantwortlich und haftbar.

5. Abschluss einer Epoche

Das Potsdamer Abkommen war nicht als Friedensvertrag gedacht, nahm jedoch den Platz eines solchen schließlich ein, da ihm ausdrückliche Friedensverträge nicht folgten. Wenn einige seiner Versprechen und Ziele bis heute uneingelöst blieben, so ist das zum einen seiner sehr allgemeinen Formulierung und der mangelnden Instrumentalität geschuldet, vor allem aber dem sich wandelnden politischen Klima im „Kalten Krieg“. Seine völkerrechtliche Verbindlichkeit und seine Übereinstimmung mit dem damaligen Stand des Völkerrechts sind aber heute nicht mehr ernstlich anzuzweifeln.

Dennoch markiert das Abkommen den Abschluss einer völkerrechtlichen Epoche, die von einer neuen Epoche unter der Herrschaft der UNO und ihrer Charta abgelöst wurde. Friedensregelungen mit Gebietesabtretungen und Bevölkerungsaustausch sind von da an nur noch in der kollektiven Form durch die UNO selbst oder mit ihrem Einverständnis möglich. Siegreichen Staaten sind derart tief in die territoriale Integrität und die Menschenrechte eingreifende Maßnahmen verwehrt. Zwar handelt es sich im Übergang vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen nur um den institutionellen Wechsel innerhalb eines schon 1919 errichteten kollektiven Sicherheitssystems. Dieser Wechsel zielt jedoch darauf, die Unantastbarkeit der Staaten und Individuen gerade wegen ihrer größeren Gefährdung und Verletzlichkeit weiter zu erhöhen. Mit seinen tiefen Einschnitten durch die Siegerstaaten in die territoriale und individuelle Selbstbestimmung des unterlegenen Volkes ist das Potsdamer Abkommen noch der Ausdruck des alten Völkerrechtsregimes der Vor-UNO-Zeit. Seitdem herrscht ein permanenter Kampf um den Schutz gerade schwacher und besiegter Staaten in einem von atomaren Großmächten dominierten Weltsystem. Dass dieser Schutz nur völkerrechtlicher Art ist, macht seine immer wieder sichtbare Schwäche aus, ist aber auf jeden Fall mehr, als die Zeit vor 1945 zu bieten hatte.

* Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg, referierte zu diesem Thema auf der Internationalen historischen Konferenz "Die Potsdamer Konferenz: Bedeutung und Wirkung für ein friedliches und sozial gerechtes Europa" am 7./8. Mai 2005 in Potsdam (Veranstalter: Bundesausschuss Friedensratschlag und Rosa-Luxemburg Stiftung Brandenburg).



Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2005, S. 864 ff


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