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Deutschland führt weiter Krieg in Afghanistan

Volksvertreter entscheiden gegen das Volk – 73 Prozent der Bundestagsabgeordneten verlängerten Bundeswehrmandat

Von René Heilig *

Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan wird bis zum 31. Januar 2012 verlängert. Das entschied gestern die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten.

Für den Antrag der schwarz-gelben Bundesregierung zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan stimmten 419 Abgeordnete. Es gab 116 Gegenstimmen und 43 Enthaltungen. Das entspricht einer Zustimmung von 72,5 Prozent – etwas weniger als bei der letzten ISAF-Mandatsentscheidung vom Februar 2010, als 73,2 Prozent der Abgeordneten für eine Verlängerung gestimmt hatten.

Weitaus stärker als im Parlament stieg die Ablehnung des Kriegseinsatzes in der Bevölkerung. Laut ZDF-Politbarometer halten 59 Prozent der Deutschen den Afghanistan-Einsatz für nicht richtig. Nur 37 Prozent sind dafür; vor einem Jahr waren es noch 45 Prozent.

Das Parlament bestätigte den möglichen Einsatz von 5350 Soldaten. Die angeblichen Kosten lägen bei 1,06 Milliarden Euro. Vorrangiges Einsatzgebiet bleibe der Norden Afghanistans, in anderen Landesteilen sind »zeitlich und im Umfang begrenzte Einsätze« zulässig. Nach wie vor könnte man die gerade abgezogenen Tornado-Jets in Afghanistan stationieren. Neu ist, dass eine Reduzierung der Truppenpräsenz ab Ende 2011 in Aussicht gestellt wird, »soweit die Lage dies erlaubt«.

Aus der SPD-Fraktion gab es 20 Nein-Stimmen, 8 Abgeordnete enthielten sich. Von 63 Grünen stimmten nach Angaben des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele 22 gegen das Mandat. Die Mitglieder der Linksfraktion lehnten den Afghanistan-Einsatz grundsätzlich ab. Der Chef der linken Parlamentarier, Gregor Gysi, appellierte an SPD und Grüne: »Treten Sie aus der Kriegskoalition aus!« Er forderte einen vollständigen deutschen Abzug bis September. Ein entsprechendes Ausstiegsprogramm hat seine Partei vorgelegt.

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin attackierte stattdessen die LINKE, weil sie NATO und Taliban gleichsetze. Der Regierung warf er vor, im Mandat sei unklar, wie lange Soldaten und Aufbauhelfer dort noch »in äußerster Gefahr« ihren Kopf hinhalten müssten. Das Mandat enthalte statt eines klaren Abzugsdatums »1000 Hintertüren«. Dabei habe die politische Führung die Pflicht, eine »zeitlich klare Perspektive« zu geben. Trittins Vize Hans-Christian Ströbele kritisierte konsequenter, dass Deutschland »zu einer kriegführenden Nation geworden« ist.

Die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger attackierte sowohl das Verhalten der Linksfraktion wie das der Grünen als verantwortungslos. Sigmar Gabriel, Chef der SPD, unter deren Regentschaft der Afghanistan-Einsatz 2001 begonnen wurde, versuchte ein neues Profil zu gewinnen. Er griff Minister Guttenberg wegen seines Krisenmanagements zu mehreren Bundeswehr-Affären an: »In Afghanistan und auch sonst wo, da braucht die Bundeswehr einen ruhigen Regisseur, aber nicht einen schillernden Darsteller.«

Angesichts der erneuten eklatanten Missachtung des Wähler- und Bürgerwillens durch die Parlamentsmehrheit dürfe man sich nicht wundern, wenn sich immer größere Teile der Bevölkerung von ihren »Vertreter/innen« nicht mehr vertreten fühlen, merkte Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, zur Abstimmung im Bundestag an.

Gut sechs Monate nach dem Rückzug ihrer Soldaten aus Afghanistan haben die Niederlande eine neue »Mission« beschlossen. Zur Ausbildung von Polizisten werden 545 Experten sowie Sicherungskräfte eingesetzt. Deutsche Soldaten sollen deren Schutz übernehmen. Dafür stimmte das Parlament in Den Haag am Freitag nach teils stürmischen Debatten mit knapper Mehrheit.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2011

Wer stimmte wie ab?

Wieder stimmte der Bundestag mit großer Mehrheit für den Afghanistan-Krieg
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung nach Fraktionen (pdf-Datei)



Am Tag Versöhnung, nachts Night Raids

Der Bundestag verlängerte den Kriegseinsatz in Afghanistan – angeblich mal wieder alternativlos / Die "Kosten-Nutzen-Rechnung" am Hindukusch ist verheerend – für alle Seiten

Von René Heilig **


Gestern (28. Jan.) stimmte die Mehrheit des Bundestages erneut für die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Rechnet sich das? Was bekommen wir dafür?

Auch wenn es unzulässig ist, Völker- und Menschenrechte sowie die Situation der afghanischen Bevölkerung sowie die der in den Krieg geschickten deutschen Soldaten an den Rand zu stellen – in unserer Gesellschaft wird fast alles in einer Kosten-Nutzen-Relation betrachtet. Was also kostet uns das »Abenteuer« Afghanistan?

Nebst Opfern auf beiden Seiten Milliarden. Sehr viel konkreter kann die Bundesregierung die reale Summe nicht beziffern. Addiert man offizielle Afghanistan-Ausgaben vom Verteidigungs-, Entwicklungs-, Außen- und Innenministerium, kommt man auf rund 6,5 Milliarden Euro. Über zwei Drittel verschlingt das Militär. Doch damit hat man nur einen Bruchteil der realen Kosten aufgelistet.

Drei Milliarden pro Jahr

Die Differenz zum Tatsächlichen beginnt schon beim Sold der bislang fast 90 000 Soldaten und den Gehältern der rund 1300 Polizisten, die Bund und Länder an den Hindukusch schickten und schicken. Medizinische Behandlung der »bewaffneten Botschafter«, Entschädigungen und Witwenrenten, Anschaffung und Wertminderung von Material, zusätzliche Sicherheitskosten ob wachsender Terrorgefahren, Entwicklungs- und andere Hilfe für Nachbarländer wie Pakistan und Usbekistan sowie die Zinsen hinzugerechnet... Folgt man dem DIW-Szenario, das einen Rückzug ab 2014 zur Grundlage hat, kämen rund 26 bis 47 Milliarden Euro zusammen.

Das ist einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu entnehmen, in der verschiedene politische und militärische Szenarien durchgerechnet werden. Falls sich Deutschland 2011 zurückzieht, stünde unterm Strich eine Summe zwischen 18 und 33 Milliarden Euro.

Doch das gestern verabschiedete Mandat beinhaltet keinen sofortigen Abzug. Den fordern nur die LINKEN (siehe unten) und einige wenige »Verirrte« anderer Parteien. Jedes Jahr, das die Bundeswehr länger im Kriegseinsatz bleibt, kostet den deutschen Steuerzahler 2,5 bis 3 Milliarden Euro. Offiziell weißt die Bundesregierung jedoch für das Jahr 2010 nur 1,059 Milliarden Euro Kriegskosten aus.

Doch an einen schnellen Ausstieg glaubt niemand, der vor Ort mit den sehr differenzierten afghanischen Realitäten umgeht. Auch nicht US-General David Petraeus. Der kommandiert die US-Truppen in Afghanistan und alle in der ISAF vereinten Verbündeten. Er warnt – wie die meisten verantwortlichen Militärs – vor zu lautem Abzugsgerede. Denn, so fasste es Ex-Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) – das ist der, der Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt wissen wollte – zusammen: »Wir haben die Uhr und die Taliban die Zeit.« Insgesamt, so ist spürbar, gibt es auch nach der vor knapp einem Jahr stattgefundenen Londoner Afghanistan-Konferenz kein Konzept für die Zukunft des Landes. Die Verantwortlichen beider Seiten finden noch immer – nach zehn Jahren! – keine Balance zwischen militärischem, politischem und wirtschaftlichem Engagement.

Nicht ohne die Taliban

Unstrittig ist inzwischen, dass es politische Verhandlungen mit den Taliban und anderen Aufständischen geben muss. Auch eine Machtteilung wird vom Westen für unabdingbar gehalten. Doch dazu wollen die USA militärisch eine starke Ausgangsbasis schaffen. Im vergangenen Vierteljahr wurden laut US-Angaben 365 Kommandeure der Aufständischen und 1300 ihrer Kämpfer getötet. Die Anzahl der Gefangenen soll in derselben Größenordnung liegen.

Zu den militärischen Erfolgen der Besatzer tragen weniger große Offensiven bei. Vor allem in Helmand und Kandahar hat sich gezeigt, dass Siege nicht von Bestand sind, wenn es nicht gelingt, nach den Militäroperationen eine geachtete staatliche Verwaltung aufzubauen. Dazu gehören vor allem eine vertrauenswürdige Polizei sowie eine gesetzestreue Justiz. Es ist offensichtlich eine Tatsache, dass sich die Masse der Bevölkerung unter der – zwar drakonischen, doch verlässlichen – Ordnung der Taliban sicherer fühlt.

Die USA setzen in ihrer Sicherheitsstrategie vor allem auf sogenannte »Night Raids«. Dazu wurde die Kapazität der US Special Forces im vergangenen Jahr nahezu verdreifacht. Auch die deutsche KSK-Elite ist mit von der »Partie«. Während Unterhändler der westlichen Staaten und der Kabuler Regierung tags auf Suche sind nach Gesprächspartnern, mit denen sich über Schritte zur Versöhnung reden lässt, überfallen nachts Spezialeinheiten erkannte Führern der Aufständischen. So soll es weitergehen, man trainiert bei den Einsätzen afghanische Elitekämpfer. Kabuls Armee verfügt bereits über sieben derartige Spezialeinheiten.

80 Prozent der Kommandoeinsätze verlaufen ohne Schießerei, sagt der deutsche Brigadegeneral Josef Blotz, der selbst solche nächtlichen Attacken absegnet. Allein in den letzten drei Monaten 2010 hat die ISAF bei solchen Operationen 2500 »böse Jungs« festgenommen oder getötet. Der General weiß allerdings auch, dass viele Einsätze neben dem ISAF-Kommando geplant und durchgeführt werden.

Kommandoeinsätze, so sagt sogar Afghanistans Präsident Hamid Karsai, seien politisch kontraproduktiv. Damit meint er freilich nicht die, die jenseits der Grenze in Pakistan »laufen«. Davon kann es nach seiner Ansicht nicht genug geben, denn dort sei der Hort der Hardliner-Taliban. Nein, »Night Raids« in seinem Land verbreiteten nur Angst und Schrecken vor allem unter der ländlichen Bevölkerung, sie verhinderten den Aufbau von Vertrauen, sagt der Präsident und stellt die heranziehende grundsätzliche Schicksalsfrage: Afghanistan als Republik oder islamisches Kalifat?

Doch mit wem soll man verhandeln, wenn nächtliche Killer die Anzahl der Autoritäten auf der anderen Seite reduzieren? Gerade sie muss man als Partner beim Aufbau eines neuen Afghanistan mit einem Mindestmaß an demokratischen Rechten gewinnen. Um zumindest einige der unkontrollierten Aktionen zu unterbinden, verbot Karsai nicht lizenzierte private Sicherheitsunternehmen.

Partner umgebracht

US-Militärs und Geheimdienstler verweisen darauf, dass man in Afghanistan die »Überlebensdauer« von Taliban-Führern auf zwei bis drei Monate gekürzt habe. Ein Nebeneffekt: Das Alter der Kommandeure sank auf unter 30 Jahre. Die Aktionen der so geführten Einheiten lassen immer häufiger jegliche Besonnenheit vermissen, immer öfter wird der Tod unbeteiligter Zivilisten in Kauf genommen.

Das alles steht so nicht in den Papieren, die man den Bundestagsabgeordneten zum Teil sogar als Verschlusssache aushändigt. Nicht einmal die ausweglose Situation, in der sich die Bundeswehr befindet, wird erklärt. Nur dank des massiven Einsatzes von US-Truppen im Bereich des Regionalkommandos Nord konnte die Bundeswehr ihre Positionen um Kundus halten. Inzwischen gilt schon die Sicherung einer Kreuzung an zwei Nachschubstraßen als militärischer Erfolg. Und der wird verdammt teuer erkauft.

** Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2011


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