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Westerwelle: "Hier geht es um unsere eigene Sicherheit" / Schäfer (DIE LINKE): "Ziehen Sie die deutschen Truppen aus Afghanistan zurück"

Protokoll der turbulenten Afghanistan-Debatte im Deutschen Bundestag: ISAF-Einsatz auf dem Prüfstand

Am 26. November 2006 befasste sich der Deutsche Bundestag in erster Lesung mit den Anträgen der Bundesregierung zur Verlängerung der Bundeswehreinsätze in Afghanistan und gegen den Terror. Die beiden Anträge sind hier dokumentiert: Die Debatte, die wir im Folgenden dokumentieren, drehte sich hauptsächlich um den ISAF-Einsatz. Es wurde nicht die ursprünglich erwartete Routine-Debatte, sondern ein interessanter Schlagabtausch, in dessen Mittelpunkt einmal die Person des ehemaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung und zum anderen die Bundeswehrführung um den Generalinspekteur Schneiderhahn standen. Schneiderhan war kurz zuvor "auf eigenen Wunsch" vom neuen Verteidigungsminister zu Guttenberg entlassen worden. Der Vorwurf: Unterlassene Berichterstattung in Sachen Kundus Massaker vom 4. September 2009.
Doch lesen Sie die turbulente Sitzung. Es sprachen in dieser Reihenfolge:

Vorläufiges Protokoll der 7. Sitzung vom 26. November 2009

V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen


- Drucksache 17/39 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)?
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Auf der Ehrentribüne hat eine afghanische Delegation Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Bundestages begrüße ich Sie herzlich. Wir freuen uns über Ihr Interesse an dem für Sie wie für uns bedeutsamen Tagesordnungspunkt.

(Beifall)

Für Ihren Aufenthalt in Deutschland und für Ihr weiteres Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen Dr. Westerwelle.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren aus Afghanistan, die Sie heute diese Debatte mitverfolgen! Wir freuen uns, wie Sie an dem Begrüßungsbeifall gemerkt haben, dass Sie heute als demokratische Repräsentanten unserer Debatte beiwohnen.

Wie schwierig und wie gefährlich der Einsatz in Afghanistan ist, davon konnte ich mich erneut in der letzten Woche in Kabul und Masar-i-Scharif überzeugen. Ich kehre mit großem Respekt vor der Leistung der Frauen und Männer zurück, die dort ihre Arbeit tun. Darum beginne ich ausdrücklich mit dem Dank an diejenigen, die in Afghanistan für Deutschland ihren Dienst tun, sei es in Zivil, sei es in Uniform.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich füge hinzu: Dieser Einsatz ist ein schwieriger Einsatz; das weiß hier jeder. Es ist auch ein politisch schwieriger Einsatz, weil ein Auslandseinsatz der Bundeswehr selbstverständlich getragen werden muss von dem Parlament, von der Gesellschaft, auch von dem Vertrauen unseres Parlamentes und unserer Gesellschaft. Deswegen füge ich mit großem Nachdruck hinzu: Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit schaffen die Grundlage für Vertrauen. Das ist die Regierung dem Parlament auch schuldig. Ich will das nachdrücklich sagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir engagieren uns in Afghanistan aus Menschlichkeit, aber vor allem aus unserem ureigenen Sicherheitsinteresse. Afghanistan und das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet dürfen nicht erneut zum Rückzugsgebiet für Terroristen werden. Damit wir hier in Freiheit und Sicherheit leben können, auch dafür ist der Einsatz da.

Deswegen möchte ich zunächst einmal nachdrücklich unterstreichen: Ja, wir wollen den zivilen Aufbau. Wir wollen dafür sorgen, dass ein Aufbau eigener ziviler und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan möglich ist. Ja, wir wollen auch menschlich helfen, aber die menschliche Hilfe setzt Sicherheit voraus, und ohne die Frauen und Männer der Bundeswehr gibt es keine Sicherheit für den zivilen Aufbau. Dieser Zusammenhang darf nicht geleugnet werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen knüpfe ich an das an, was von dem Außenminister der letzten Bundesregierung immer wieder gesagt worden ist: Ein kopfloses Ende des internationalen Einsatzes in Afghanistan wäre unverantwortlich. Dadurch würde in dieser explosiven Region der Welt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran und zu den Nuklearmächten Pakistan und Indien eine Zone der Instabilität von bisher unbekanntem Ausmaß geschaffen. Das können wir nicht zulassen. Hier geht es um unsere eigene Sicherheit. Auch deswegen beschließen wir diesen Einsatz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sicherheit ist das Schlüsselwort. Ohne Sicherheit gibt es in Afghanistan keine wirtschaftliche Entwicklung, keinen Aufbau demokratischer Institutionen, keine Freiheit und keine Gleichberechtigung. Ohne Sicherheit werden in Afghanistan keine Brunnen, keine Krankenhäuser und keine Schulen gebaut, schon gar nicht für Mädchen. Sicherheit ist daher das Schlüsselwort für unseren Einsatz. Darauf konzentrieren wir uns: auf den Schutz und die Sicherheit Deutschlands und Europas, auf die Verbesserung der Sicherheit für die Menschen in Afghanistan, aber auch auf die bestmögliche Sicherheit für deutsches Zivilpersonal und unsere Soldaten. Ihnen müssen wir vor allem die richtige Ausrüstung zur Verfügung stellen, und auch darauf wird die Bundesregierung ihr Handeln ausrichten.

In der letzten Woche habe ich den Grundstein für eine Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif legen können. Das ist das ganz praktische Ergebnis unserer Strategie. Wer Afghanistan sicherer machen will, muss für mehr afghanische Polizisten sorgen. Der deutsche Beitrag zur Polizeiausbildung ist beträchtlich und wird nicht nur in Afghanistan, sondern auch international hoch geschätzt. Er muss rasch weiter ausgebaut werden. Unser Ziel ist eine selbsttragende Sicherheit in Afghanistan, damit eine Übergabe der Verantwortung in Verantwortung erfolgen kann. Wir wollen mit dem Konzept der selbsttragenden Sicherheit so weit kommen, dass eine Abzugsperspektive in Sicht gerät. Niemand will diesen Einsatz bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, und weil niemand das will - das wissen wir -, muss selbsttragende Sicherheit geschaffen werden. Das steht im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das heißt, dass es um den Aufbau der Polizei vor Ort geht. Dazu werden wichtige Weichenstellungen schon im Januar, mutmaßlich auf einer eigenen Afghanistan-Konferenz, gemeinsam mit unseren internationalen Partnern vorgenommen werden. Ich möchte nachdrücklich darauf hinweisen: Über 40 Staaten beteiligen sich an der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten Mission.

Deutschland wird und muss einen seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung entsprechenden Beitrag dazu leisten. Weil diese Diskussion stattfindet, möchte ich noch einmal unterstreichen: Wir setzen das Afghanistan-Mandat fort - in der bekannten Zahl. Wir wissen, dass es bei unseren Verbündeten international eine Diskussion über Ziele und Strategien gibt. Aber das ist die richtige Reihenfolge: Erst die Ziele definieren, dann die Strategie im Bündnis mit unseren Partnern verabreden, und erst dann kann es um die Frage gehen, was das konkret für den Einsatz bedeutet. Wenn man sagt, dass mehr Soldaten eingesetzt werden müssen, bevor man die Strategie im Bündnis gemeinsam verabredet hat, ist das die falsche Reihenfolge. Das sage ich hier mit großem Nachdruck.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der wichtigste Bündnispartner in diesem Einsatz bleiben die Afghanen selbst. Nicht die internationale Gemeinschaft fällt Entscheidungen über Afghanistan, sondern wir helfen, damit Afghanen mit Afghanen über die Zukunft ihres Landes entscheiden können. Das bedeutet auch, dass die Vorstellung, die es gelegentlich noch gibt, wir könnten ein Afghanistan gewissermaßen nach unserem westlichen Bilde schaffen, nicht realistisch ist. Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu.

Mit Blick auf die anstehende Afghanistan-Konferenz und unser künftiges Engagement bedeutet das folgende Zielvorgaben - ich will sie kurz schildern -:

Erstens. Wir müssen an eine stärkere afghanische Eigenverantwortung appellieren. Deswegen werden wir mit dem gewählten Präsidenten Karzai zusammenarbeiten. Gleichzeitig haben wir unsere Ansprüche an ihn und seine Regierung, insbesondere bei der guten Regierungsführung und bei der Korruptionsbekämpfung; das haben alle Bündnispartner, auch ich selbst, vor Ort ausdrücklich und glasklar formuliert.

In seiner Rede zur Amtseinführung fand Präsident Karzai die richtigen Worte; das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt müssen den richtigen Worten richtige Taten folgen. Je mehr die Afghanen für sich selbst tun, desto mehr kann die internationale Gemeinschaft für Afghanistan tun. Korruptionsbekämpfung und gute Regierungsführung sind für den Erfolg unverzichtbar.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zweitens. Wir müssen erreichen, dass mehr Afghanen den Aufständischen widerstehen. Wer zur Aufgabe des Kampfes bereit ist und bestimmte Mindestkriterien erfüllt, der sollte ein Angebot zur Rückkehr in die afghanische Gesellschaft erhalten. Nur so können wir auch den harten Kern der Taliban isolieren.

Drittens. Wir müssen auf eine regionale Lösung hinarbeiten. Die von der Region ausgehende Destabilisierungsgefahr kann nur verringert werden, wenn wir die Nachbarstaaten in unsere Bemühungen einschließen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:

Bitte, Herr Kollege.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Bitte schön, Herr Beck.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Außenminister, bevor Sie zum Ende kommen, wollte ich wissen - Sie haben den Punkt der Ehrlichkeit angesprochen -: Wie bewerten Sie angesichts des in der Bild-Zeitung veröffentlichten Berichts, demzufolge von Anfang an Kenntnis über zivile Opfer vorlag, die Informationspolitik des Verteidigungsministeriums in der Amtszeit Ihres Kollegen Jung? Dieses Haus wurde von der Bundesregierung bislang nicht darüber unterrichtet.

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:

Ich mache darauf aufmerksam, dass in dieser Debatte noch andere Wortmeldungen erfolgen werden, und bitte um Verständnis dafür.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hannemann, geh du voran!)

Offen gestanden glaube ich: Wenn ich hier als Außenminister zum ersten Mal ein solches Mandat einbringe, dann sollten wir der Debatte Genüge tun. Das gilt auch für Zwischenfragen, die nichts anderes zum Zwecke haben, als eigene Süppchen zu kochen. Das ist völlig unangemessen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte? Dann lesen Sie mal die Zeitung! - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen, dass es längst Entscheidungen gibt. Es ist nicht an mir, hier zu diesen Entscheidungen zu sprechen.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Antwort hat die Bundeskanzlerin nicht erfreut, Herr Außenminister! - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Wahrheit! - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sind Sie jetzt Außenminister oder nicht? Die Wahrheit auf den Tisch!)

- Frau Kollegin Künast, Sie rufen dazwischen. Ich muss Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, worüber wir hier reden?

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, im Gegensatz zu Ihnen!)

Wir reden darüber, dass Frauen und Männer in Gefahr kommen. Sie sitzen in der ersten Reihe und lesen Zeitung. Es ist absolut inakzeptabel und würdelos, wie Sie das hier machen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, die Bild-Zeitung! - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Wahrheit! Davor haben Sie Angst!)

Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandates, damit Deutschland entsprechend seinen wohlverstandenen eigenen Sicherheitsinteressen handeln kann, damit unser Land ein verantwortungsvoller und verlässlicher Bündnispartner bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus bleibt, damit die Stabilisierung Afghanistans gelingt und wir die Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle Übergabe schaffen können.

Ich würde mir wünschen, dass sich die Damen und Herren aus der Opposition in dieser Stunde ihrer eigenen Verantwortung in diesem Hohen Hause bewusst sind, so wie wir uns in der Opposition bei dieser Frage immer unserer Verantwortung bewusst gewesen sind.

Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reden Sie sich doch nicht heraus! Da freue ich mich gleich auf Ihre Libanon-Rede zu UNIFIL!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Zunächst aber erhält das Wort der Kollege Johannes Pflug für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD - Jörg van Essen (FDP): Jetzt liest sie schon wieder Zeitung!)

Johannes Pflug (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit dem Jahre 2001 engagieren wir uns nun zivil und militärisch in Afghanistan. Es ist heute das zehnte Mal, dass der Deutsche Bundestag das ISAF-Mandat für Afghanistan verlängern soll.

Ziele des Einsatzes in Afghanistan waren im Jahre 2001 - ich habe damals dazu gesprochen - folgende:

Punkt eins. Wir wollen versuchen, das internationale Terrornetzwerk von Bin Laden, von al-Qaida zu zerstören, mindestens nachhaltig zu stören.

Punkt zwei. Wir wollen versuchen, so etwas wie regionale Stabilität in Afghanistan zu erreichen.

Punkt drei. Wir wollen versuchen, den Afghanen dabei zu helfen, einen Staat, eine Verwaltung aufzubauen und eine - so habe ich mich auch damals ausgedrückt - halbwegs funktionierende Demokratie zu errichten.

Wer diese Ziele betrachtet, muss zu dem Ergebnis kommen: Es sind Ziele, die im afghanischen Interesse sind, die im internationalen Interesse sind und die natürlich auch im deutschen Interesse sind. Mittlerweile sind acht Jahre vergangen. Wir stehen nicht zuletzt bei der afghanischen Bevölkerung im Wort. Seit dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 haben wir manches erreicht. Unser militärisches und ziviles Engagement in Afghanistan hat Früchte getragen. Sie kennen die Zahlen: 3 500 Schulen sind errichtet worden. Landesweit geht rund die Hälfte der Kinder zur Schule, davon sind mittlerweile 40 Prozent Mädchen. 25 Prozent des Lehrpersonals sind Frauen. 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die Kindersterblichkeit ist erheblich zurückgegangen. Das sind Erfolgszahlen. Das ist das Ergebnis internationaler Solidarität.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn ich solche Zahlen sehe, dann erinnere ich mich immer daran, dass Sie auf Ihren Veranstaltungen gerne rufen: Hoch die internationale Solidarität.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Der Afghanistan-Einsatz hat mit Solidarität nichts zu tun! Überhaupt nichts! Das ist eine Unverschämtheit!)

Ich frage mich, ob Sie übersehen, was diese Mädchen und Frauen, die uns hier regelmäßig besuchen, einfordern. Sie sagen immer: Ihr könnt uns nicht im Stich lassen. Ihr könnt jetzt nicht aus Afghanistan weggehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dennoch führen massive Rückschläge zu zunehmender Besorgnis und Ablehnung des deutschen Afghanistan-Einsatzes in unserer Bevölkerung. Das bedeutet: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Denn es gibt gewaltige Probleme in Afghanistan. Es gibt eine steigende Zahl von Selbstmordanschlägen. Es gibt eine starke Korruption. Es gibt die Drogenproblematik. Es gibt aber auch Probleme im Zusammenhang mit unseren eigenen Einsätzen.

Herr Minister Jung, Sie werden erwartet haben, dass dies angesprochen wird. Man kann heute nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Berichte, die es seit letzter Nacht bzw. heute Morgen gibt, lassen sehr ernste Befürchtungen aufkommen. Ich sage ganz deutlich: Wenn es richtig ist, was die Medien berichten - Sie schütteln mit dem Kopf; ich bin nicht für das verantwortlich, was die Medien berichten;

(Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeit und Soziales: Wohl wahr! Ich auch nicht!)

es steht in der Bild-Zeitung und war heute Morgen im Fernsehen zu hören -, dass Sie dem Parlament Informationen gezielt vorenthalten haben,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hat er gelogen!)

Informationen nicht gegeben haben, dann ist das mehr als ein ernster Vorgang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Minister Jung, wenn das richtig ist, dann wird Ihnen klar sein, dass Sie an einem Untersuchungsausschuss nicht vorbeikommen, es sei denn, Sie ziehen vorher die Konsequenzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Heute Morgen wurden im Fernsehen Ausschnitte eines Videofilms gezeigt, und es wurde darüber berichtet, dass ein Bericht der Feldjäger vorgelegen haben soll, den Sie offensichtlich entweder nicht zur Kenntnis bekommen oder über den Sie das Parlament nicht informiert haben. Wenn es stimmt, dass angeordnet wurde, die Zivilpersonen oder meinetwegen auch die Taliban, die sich an dem Platz in Kunduz aufgehalten haben, nicht durch Tiefflüge zu vertreiben - das wurde in der Berichterstattung auch gesagt -, dann ist das ein verdammt ernster Vorgang. Ich sage ganz deutlich: Das erfordert einen Untersuchungsausschuss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir müssen klarstellen: Nach dieser langen Zeit steht der Einsatz der Bundeswehr natürlich an einem Wendepunkt. Wir müssen uns fragen: Was haben wir in Afghanistan bisher erreicht? Was können wir dort noch erreichen? Welche Dinge sind schiefgelaufen? Herr Minister zu Guttenberg, ich vertraue darauf, dass Sie das, wie Sie gesagt haben, rückhaltlos überprüfen und das Parlament entsprechend unterrichten werden.

Die Fragen "Was ist schiefgelaufen?"" und "Was können wir noch machen?" müssen wir ehrlich beantworten. Der Hintergrund muss dabei sein, dass wir uns natürlich nicht ewig in Afghanistan aufhalten können, unser Engagement dort nicht ewig fortsetzen können.

Unser Fraktionsvorsitzender und ehemaliger Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat frühzeitig eine sogenannte Roadmap bzw. einen Zehnpunkteplan vorgelegt, in dem die für einen Abschluss des Afghanistan-Einsatzes in den nächsten Jahren notwendigen Schritte aufgezeigt werden. Dabei gilt natürlich der Grundsatz - er ist für uns unbestritten -: Je schneller die afghanische Armee und Polizei in der Lage ist, selbst für Sicherheit im Land zu sorgen, desto früher können die internationalen Truppen abziehen.

Wir müssen sehr viel entschlossener gegen Korruption, Misswirtschaft und organisierte Kriminalität vorgehen. Die internationale Gemeinschaft muss eine gute Regierungsführung stärker und entschiedener einfordern. Auch das Problem des Drogenanbaus muss endlich gelöst werden. Dabei muss vor allen Dingen der neue, wiedergewählte Präsident Karzai - natürlich darf man erhebliche Zweifel am Grad seiner demokratischen Legitimation anmerken; aber er ist nun einmal im Amt - in die Pflicht genommen werden.

Die Stabilität Afghanistans ist für die Sicherheitslage in der gesamten zentralasiatischen Region wichtig und notwendig. Ohne ein stabiles Afghanistan wird die Stabilität der benachbarten Staaten immer bedroht sein. Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan grenzen unmittelbar an Afghanistan und müssen ihre Grenzen schützen. Letzte Berichte über eine zunehmende Konzentration von Islamisten und Terroristen im Ferghana-Tal müssen uns sehr besorgt machen.

Die zentrale Rolle spielt allerdings Pakistan. Das Land ist für die Islamisten immer noch logistisches Hinterland. Zwar ist Pakistan am Kampf gegen den Terror beteiligt; aber Pakistan ist viel zu schwach, instabil und intern zerstritten, um wirksam handeln zu können. Es hat keinerlei Kontrolle über sein Grenzgebiet zu Afghanistan. Gleichzeitig ist Pakistan Atommacht. Es ist in unser aller Interesse, dass die Atomwaffen nicht in falsche Hände geraten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor genau einem Jahr war ich eine Woche in Pakistan. Damals standen die Taliban 150 bis 180 Kilometer von Islamabad entfernt. Es heißt, dass die amerikanische Regierung 200 bis 400 Millionen Dollar ausgegeben hat, um das Atomwaffenpotenzial zu sichern. Aber es gibt gerade in Pakistan neuere Erkenntnisse darüber, dass es um diese Sicherung gar nicht so gut bestellt ist, sondern dass es sehr schnell zu erheblichen Problemen kommen könnte. Deshalb werden wir die Idee einer internationalen Konferenz, die voraussichtlich am 28. Januar nächsten Jahres in London stattfinden soll, nachhaltig unterstützen. Allerdings sind wir der Meinung: Es wäre gut, wenn eine solche Konferenz in Afghanistan selbst stattfinden könnte, wenn dort die notwendige Sicherheit garantiert werden könnte.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Pflug.

Johannes Pflug (SPD):

Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wir werden der Verlängerung des ISAF-Mandates zustimmen. Ich sage aber nochmals: Herr Minister zu Guttenberg, wir vertrauen darauf, dass Sie das, was passiert ist, rückhaltlos überprüfen und das Parlament darüber informieren. Ich wiederhole: Wenn sich die Berichte als richtig erweisen, werden wir die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss stellen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. zu Guttenberg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Pflug, ich will gerne Stellung nehmen zu dem geheimen Untersuchungsbericht, über den die Bild-Zeitung heute berichtet. Dieser Bericht war mir zum Zeitpunkt meiner Erklärung zu dem Bericht des ISAF-Kommandeurs nicht bekannt. Ich habe ihn jetzt zum ersten Mal vorgelegt bekommen.

Dieser Bericht wurde - wie andere Berichte und Meldungen aus der letzten Legislaturperiode - nicht vorgelegt. Hierfür wurde an maßgeblicher Stelle Verantwortung übernommen, und die personellen Konsequenzen sind erfolgt.

(Thomas Oppermann (SPD): Welche?)

- Lassen Sie mich bitte ausreden! - Der Generalinspekteur hat mich gebeten, ihn von seinen Dienstpflichten zu entbinden. Ebenso hat Staatssekretär Wichert Verantwortung übernommen. - Wenn ich hier hämisches Lachen höre, will ich an dieser Stelle trotzdem beiden für ihren jahrzehntelangen Dienst für unser Land danken, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Selbstverständlich werden diese Berichte unverzüglich ausgewertet

(Thomas Oppermann (SPD): Ist das alles?)

und den Fraktionen zur Einsicht zur Verfügung gestellt. Das versteht sich von selbst, und das ist auch mein Verständnis von Transparenz, was den Umgang mit solchen Vorfällen anbelangt.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Ministerium ist ein Tollhaus!)

Der Bericht wird auch der Generalbundesanwaltschaft übergeben.

Bei meinen jüngsten Besuchen in Afghanistan - ich grüße die Gäste, die heute hier sind - in Kunduz und in Masar-i-Scharif haben mir unsere Soldaten, aber auch die zivilen Helfer in persönlichen Gesprächen wiederholt mitgegeben, wie wichtig ihnen ist, dass die Debatte und die Diskussion über ihren Einsatz verantwortungsvoll geführt wird, in dem Sinne verantwortungsvoll, dass wir uns auch in diesem Rahmen ein gewisses Niveau in der Diskussion leisten, meine Damen und Herren.

Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darauf hinweisen, welchen Dienst die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Helfer vor Ort leisten: Sie sind motiviert, sie sind professionell, sie sind pflichtbewusst, sie haben selbstverständlich auch Emotionen, und sie leisten Vorbildliches. Auch an einem Tag, wo man über Dinge diskutiert wie die, über die wir heute diskutieren, dürfen wir ihnen von Herzen danken für ihren Einsatz, den sie vor Ort annehmen und entsprechend wahrnehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie stellen sich jeden Tag der Gefahr von Verwundung oder Tod. Diese Wahrheit gehört zu dem Einsatz ebenso wie die, dass in Teilen Afghanistans kriegsähnliche Zustände herrschen. Unsere Soldatinnen und Soldaten wissen das. Ihre Einschätzung muss für uns ebenso wichtig sein wie manche, die wir gelegentlich aus der Ferne wahrnehmen.

Seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes bis heute sind 36 Soldatinnen und Soldaten gefallen bzw. gestorben und über 120 wurden verletzt bzw. verwundet. Von daher, meine Damen und Herren, dürfen wir uns unsere Entscheidung wie bislang alles andere als leicht machen. Unsere Entscheidung hat in dieser Hinsicht größtes Gewicht. Sie hat mit unserer Verantwortung gegenüber unseren Soldaten zu tun, einer Verantwortung, die letztlich Leben und Tod beinhaltet. Sie ergibt sich - Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen - aus unseren Sicherheitsinteressen. Diese Sicherheitsinteressen sind weiterhin maßgeblich gegeben. Unsere Verantwortung ergibt sich aber auch aus Bündnisverpflichtungen; auch das wollen wir nicht vergessen, meine Damen und Herren. Es ist eine gestaltende Aufgabe, bei der wir gefordert sind und bei der wir Ergebnisse nur im Zusammenwirken mit unseren Partnern erzielen können. Meine Damen und Herren, wir sollten aufhören, den Afghanistan-Einsatz lediglich zum Lackmustest für die NATO herabzustilisieren. Wenn er überhaupt ein Lackmustest ist, dann einer für die gesamte internationale Gemeinschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich halte es für einen richtigen und für einen klugen Schritt, dass wir Anfang des nächsten Jahres auf einer Afghanistan-Konferenz zusammen mit den Vertretern Afghanistans auch diesen unseren Einsatz neu justieren und auf eine neue Grundlage stellen. Die Frau Bundeskanzlerin hat dazu gemeinsam mit dem britischen Premierminister und mit dem französischen Präsidenten den Anstoß gegeben. Sie können von der Bundesregierung daher zu Recht einen entsprechenden Beitrag erwarten, einen gestaltenden Beitrag inhaltlicher Art zunächst: wie diese Afghanistan-Konferenz zu sehen ist und welche Impulse wir geben können.

Ich fand sehr richtig, dass Kollege Westerwelle gesagt hat, wie die Abfolge zu sein hat: dass wir uns jetzt nicht den Planungen anderer unterwerfen, sondern dass wir unseren Zeitrahmen so einhalten, dass auch eine sinnvolle Debatte im Bundestag, eine Einbindung des Parlamentes, stattfinden kann, damit wir auch unseren Traditionen gerecht werden.

Meine Damen und Herren, wir müssen den Afghanistan-Einsatz gerade auch - das klingt so furchtbar banal und ist trotzdem so entscheidend - vom Ende her denken. Das erfordert eine Klarheit hinsichtlich der Ziele, eine klare Ansprache dessen, was wir erreichen wollen, und eine entsprechend tief gehende Diskussion. Vor allen Dingen müssen wir noch deutlicher festlegen, wie und unter welchen Umständen wir diesen Einsatz auch beenden können. Ich werde mich dafür einsetzen, dass hier ein klarer Rahmen definiert wird. Das erwarten die Menschen in unserem Lande von der politischen Führung, und auch die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz dürfen von uns erwarten, dass wir uns hier klar sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb trete ich auch und gerade international für die Festlegung klarer Benchmarks, wie man das heute neudeutsch nennt, ein. Wir werden auch unsere nationalen Grundlagen und Strukturen angehen, wenn wir über die Koordinierung und über die Führung unseres Gesamtengagements sprechen. Das schließt im Übrigen die eigentlich selbstverständliche Erkenntnis mit ein, dass die Bundeswehr alleine nicht für die Erreichung unserer Ziele und die Lösung der jeweiligen Probleme sorgen kann.

Es ist also gut und richtig, dass wir im Zuge der heutigen Diskussion über das Mandat ISAF, über den Einsatz, gerade auch diese Vernetzung miteinander diskutieren. Es reicht jedoch nicht, immer nur den Blick auf einen Teil zu richten. Wir müssen ressortgemeinsam handeln. Ich kann nur sagen: Die Art, wie wir uns miteinander abstimmen,

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na ja!)

stimmt mich sehr zuversichtlich, dass die jeweils beteiligten Ressorts den Afghanistan-Einsatz als eine gemeinsame Aufgabe ansehen und dieser gemeinsamen Aufgabe auch mit aller Kraft und unter Bündelung aller Anstrengungen nachgehen.

Dieses Ziel ist klar formuliert: Wir wollen, dass die Afghanen bald selbst in der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Das ist das, was wir ?Übergabe in Verantwortung? nennen. Die Übergabe in Verantwortung ist übrigens nicht mit einer Exit-Strategie gleichzusetzen, mit der ein Enddatum gesetzt wird. Es zeugt nur von einer begrenzten Weisheit, ein Enddatum zu setzen, weil wir damit, wenn wir sagen: ?Zu diesem oder jenem Zeitpunkt soll der letzte Soldat Afghanistan verlassen haben?, im Grunde eine Steilvorlage für all jene liefern, die die Destabilisierung Afghanistans weiterhin zum Ziel haben. Von daher ist es wichtiger, Zielmarken zu setzen - auch Zielmarken für den Beginn der Übergabe von Verantwortung - und diese Zielmarken klar zu definieren. Von Afghanistan darf keine Gefahr mehr für die internationale Sicherheit ausgehen.

Wir sprechen gerne über Aufständische, und wir sprechen in dem Zusammenhang gerne auch darüber, dass der Konnex zur internationalen Sicherheit gesucht werden muss; das ist richtig. Wahrscheinlich muss man auch noch etwas genauer hinblicken und prüfen, ob jeder, den wir bisher unter "aufständisch" subsumiert haben, jemand ist, der die internationale Sicherheit gefährdet, oder ob man an der einen oder anderen Stelle auch klarere Trennlinien ziehen muss.

Wir müssen es verhindern, dass Afghanistan wieder zum Ruhe- und Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus wird. Es gibt weiterhin klare Gefährdungen: auch durch terroristische Maßnahmen und damit auch mit Blick auf unser Land.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:

Aber gerne.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Minister, nach dem, was Sie vorhin zu den Berichten der Bild-Zeitung gesagt haben, frage ich Sie, bevor Sie diese allgemeinen Ausführungen zur Strategie in Afghanistan zu Ende führen: Sind Sie bereit, Ihre persönliche Rechtfertigung des Einsatzes der Bundeswehr gegen die Tanklastwagen bei Kunduz zu korrigieren? Nach dem, was Sie jetzt wissen - offenbar sind die Berichte ja richtig, sonst hätten Sie sie dementiert -, können Sie Ihre Rechtfertigung doch nicht mehr aufrechterhalten.

Ich schließe eine zweite Frage an: Halten Sie es im Deutschen Bundestag nicht mehr für richtig, dass ein Minister, dessen Ministerium hinsichtlich der Kommunikationspolitik ganz offensichtlich völlig versagt hat und den Eindruck eines Tollhauses macht - man muss sich nur ansehen, dass die Berichte angeblich nicht angekommen sein sollen -, die Verantwortung für den Zustand seines Ministeriums übernimmt und die Konsequenzen daraus zieht?

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:

Kollege Ströbele, ich habe auf die Konsequenzen hingewiesen, und ich habe diese Konsequenzen nicht einem Medium mitgeteilt, sondern den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, weil ich finde, dass sich das so gehört. Das ist der erste Schritt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zum Zweiten habe ich zu Beginn gesagt - Sie haben sicherlich genau zugehört; davon gehe ich bei Ihnen grundsätzlich aus -, dass ich meine Bewertung auf der Grundlage des COMISAF-Berichtes abgegeben habe. Das war der einzige Bericht, der mir - wann war das? - ein paar Tage nach Amtsantritt vorlag. Ich werde selbstverständlich auch selbst eine Neubewertung der Fälle auf der Grundlage der Berichte, die mir in einer Gesamtschau gegeben sind, vornehmen. Auch das gehört sich, Herr Kollege. Ich glaube, damit sind die beiden Fragen entsprechend beantwortet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deutschland ist weiterhin der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Das wird gelegentlich vergessen. Wir tragen die Verantwortung für einen großen Teil des Nordens Afghanistans. Es geht um eine Region - daran kann man gelegentlich erinnern -, die halb so groß ist wie Deutschland, in der rund 35 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben. Die Stabilität und die Wirtschaftskraft dieser Region sind wichtig für ganz Afghanistan. Es lohnt auch gelegentlich, an den Aspekt Wirtschaftskraft einer Region zu erinnern. Auch das gehört in den Gesamtkontext mit hinein.

Wir führen das Regionalkommando Nord und stellen dort maßgebliche Unterstützungsleistungen in den Bereichen Führung, Führungsunterstützung, Lufttransport, Sanitätsdienst, Sanitätsdienstlogistik sowie Aufklärung. Wir betreiben zwei der sogenannten PRT im Norden, namentlich in Kunduz und in Faizabad. Man darf an der Stelle auch sagen, dass sich in den letzten Monaten die Situation in Faizabad vergleichsweise positiv entwickelt hat, wohingegen bekannt ist, dass sich um Kunduz herum die Sicherheitslage signifikant verschärft hat und wir auch immer damit rechnen müssen, dass angesichts der Versorgungsrouten die laufende Situation nicht zwingend an jedem Ort einfacher werden muss.

Wir beteiligen uns maßgeblich an der Ausbildung der afghanischen Streitkräfte. Eines der Schlüsselelemente zu einem Erfolg wird weiterhin gerade dieser Ausbildungsaspekt sein: Training, Training, Training, damit man die Übergabe an entsprechend ausgebildete Sicherheitskräfte stattfinden lassen kann.

Daneben stellt die Bundeswehr Feldjäger zur Unterstützung der Polizeiausbildung im Einsatz. Auch die Polizeiausbildung bleibt eine wichtige Säule. Wir müssen hier weiterhin auch mit den europäischen Partnern alle Kraft daransetzen, dass die Polizeiausbildung in dem Umfang gewährleistet werden kann, den wir uns in seinen Höchstgrenzen vorstellen.

Seit dem Jahr 2002 unterstützen wir den Aufbau der ?Drivers and Mechanics School? der afghanischen Streitkräfte in Kabul. Aus dieser Schule wächst mit unserer Unterstützung die Logistikschule der Armee auf. Wir werden uns auch weiterhin mit der ?Afghan Defence University? und der Pionierschule noch stärker in der Schullandschaft der Streitkräfte engagieren. Auch das ist ein wichtiger Punkt.

Für unser Ziel selbsttragender Stabilität investieren wir in dem Sinne noch intensiver in die Ausbildungsunterstützung. Im kommenden Jahr werden innerhalb des Mandates und der Mandatsstruktur, die wir heute vorschlagen, noch mehr deutsche ISAF-Soldaten als Ausbilder der afghanischen Streitkräfte tätig sein.

Ich will auch darauf hinweisen - das ist schon mitgeteilt worden -, dass ich zur Verstärkung unserer Truppe die Verlegung einer Infanteriekompanie nach Kunduz angewiesen habe. Diese Kräfte geben dem militärischen Führer vor Ort eine Handlungsfreiheit dahin gehend zurück, dass zusätzlich eine entsprechende Sicherheitskomponente gewährleistet werden kann, sodass die Durchhaltefähigkeit gewährleistet werden kann, was in dieser Provinz derzeit von größter Bedeutung ist.

Wir werden dann den deutschen Beitrag im Rahmen des internationalen Gesamtengagements in Afghanistan aufgrund der Ergebnisse der internationalen Afghanistan-Konferenz einer erneuten Prüfung unterziehen und dort, wo es nötig ist, auch unter der notwendigen Befassung des Deutschen Bundestages Anpassungen vornehmen. Was erforderlich ist, soll getan werden. Aber das kann erst im Lichte der Afghanistan-Konferenz und im Lichte der nächsten Schritte gesehen werden.

Ich will allerdings in Ergänzung zu dem, was Kollege Westerwelle bereits festgestellt hat, auch sagen: Der Rhythmus, der dadurch vorgegeben wird, dass wir zum einen wohl am 1. Dezember die Rede des amerikanischen Präsidenten zu erwarten haben und zum anderen bereits am 7. Dezember - sehr ehrgeizig - eine NATO-Truppenstellerkonferenz stattfinden soll, wird uns nach meiner bzw. unserer Überzeugung nicht dazu bringen, zum 7. Dezember sofort und nacheilend Vorschläge auf den Tisch der internationalen Gemeinschaft zu legen. Wir wollen eigene Impulse geben. Wir wollen unseren strategischen Ansatz deutlich machen. Wir lassen uns deswegen nicht in ein Zeitkorsett zwängen. Das haben wir den Partnern schon mitgeteilt. Ich glaube, wenn wir hier eine eigene, klare Handschrift erkennen lassen und deutlich machen, wie wir im Rahmen des vernetzten Ansatzes Afghanistan so in die Lage versetzen wollen, dass eine Verantwortungsübergabe möglich ist, dann ist eine klare und gute Grundlage gelegt.

Ich darf Sie alle um Unterstützung der Verlängerung dieses ISAF-Mandates bitten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich beginne, wie Sie sich denken können, mit den Enthüllungen in der Tagespresse. Erstens. Herr Minister zu Guttenberg, es ist unumgänglich, diesem Haus den in Rede stehenden Geheimbericht zugänglich zu machen. Wir werden darauf bestehen, dass diese Vorgänge im Rahmen dieses Parlaments sorgfältig untersucht werden. Das ist unumgänglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Wenn es sich bestätigt, dass Herr Minister Jung sehr früh über zivile Opfer des Bombenangriffs vom 4. September Bescheid wusste und dennoch Parlament und Öffentlichkeit belogen hat, dann fordere ich die Kanzlerin auf, dem Herrn Minister Jung unverzüglich die Entlassungspapiere auszustellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein solcher Minister ist entweder unehrlich oder unfähig. Das gilt für jedes Ressort.

Drittens. Wenn nun selbst die Bundeswehr feststellt, dass am 4. September inadäquat gehandelt wurde - so verstehen wir das -, dann fordere ich Sie auf, Herr Minister zu Guttenberg: Korrigieren Sie Ihre Aussage, dass die damalige Bombardierung militärisch angemessen gewesen sei!

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Linke jedenfalls gilt - wir bleiben dabei -: Es kann nicht angemessen sein, Menschen zu töten, nur weil sie möglicherweise Taliban oder Talibansympathisanten sind. Es ist nicht rechtens, wenn der Tod Unschuldiger leichtfertig in Kauf genommen wird. Das werden wir niemals akzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun haben wir vom Herrn Minister gehört, man müsse die Strategie neu justieren. Es wurde gesagt: Wir sind jetzt an einem Wendepunkt. - Das Verblüffende ist: Das haben wir schon vor einem Jahr gehört. Damals haben sich die Hoffnungen auf die Präsidentschaftswahl fokussiert, und es wurde gesagt: Jetzt werden wir hoffentlich stabile Verhältnisse bekommen. - Ich könnte Ihnen nun jede Menge Zitate zum Beispiel aus der Tornadodebatte am 9. März 2007 präsentieren. Damals hat ein Kollege von der CDU, der jetzt auf der Regierungsbank sitzt, gesagt:

Es bleiben uns realistischerweise nur noch 18 bis 24 Monate, um den Trend zur Destabilisierung zu stoppen und die Trendumkehr zu bewerkstelligen.

Was sagen Sie denn heute, Herr von Klaeden? Ich könnte, wie gesagt, noch viel mehr Aussagen präsentieren.

Die Sache ist doch ganz einfach: Wir werden seit Jahren mit Durchhalteparolen traktiert, die bislang nur auf eines hinausgelaufen sind, nämlich auf mehr Krieg. Es ist eine Tatsache: Seit 2007 hat sich die Zahl der NATO-Soldaten in Afghanistan mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Gefechte und Anschläge ebenfalls mehr als verdoppelt. Über diesen Zusammenhang muss man doch nachdenken. Es ist eine Tatsache, dass wir in diesem Jahr wieder einen traurigen Rekord an Opfern - auch an zivilen - haben werden. Die Bundeswehr war daran im September - auch das ist traurig - erstmals nennenswert beteiligt. Es ist auch eine Tatsache, dass sich nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Art der Kriegführung der Einflussbereich der Taliban immer weiter ausgedehnt hat und dass der zivile Aufbau vor allem dort, wo sich die Sicherheitslage zuspitzt, ins Stocken geraten ist.

Schließlich ist es eine Tatsache, dass der militärisch gestützte Versuch, eine funktionierende Demokratie nach unserem Muster aufzubauen, gescheitert ist. Das hat nicht zuletzt die Wahlfarce gezeigt, die mit dem Geld und unter dem Schutz der NATO-Mitgliedstaaten durchgeführt worden ist. Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie endlich auf, der Öffentlichkeit und sich selbst etwas vorzumachen. Nehmen Sie endlich diese Tatsachen zur Kenntnis, und richten Sie Ihre Politik danach aus.

(Beifall bei der LINKEN)

Selbst da, wo Sie diese Tatsachen anerkennen, ziehen Sie die falschen Schlüsse. Noch soll die Stärke des Bundeswehrkontingents nicht heraufgesetzt werden. Aber verklausuliert kündigen Sie Truppenerhöhungen an, spätestens nach der Afghanistan-Konferenz im nächsten Frühjahr. Wie sonst soll man es verstehen, wenn Sie sagen: Das muss auf den Prüfstand?

Was die weitere Perspektive angeht, erfahren wir zumindest so viel - ich zitiere -:

Die Bundesregierung strebt deshalb an, in dieser Legislaturperiode die Grundlagen dafür zu schaffen, dass im Rahmen von Isaf ... mit einer Reduzierung auch der deutschen Militärpräsenz begonnen werden kann.

Im Klartext: Bis Ende 2013 soll sich nichts tun. Dann, wenn es die NATO beschließt, soll der Rückzug Schritt für Schritt erfolgen. Distrikt für Distrikt soll den Afghanen übergeben werden. Afghanistan hat 400 Distrikte. Das kann also lang dauern. Ich frage Sie deshalb: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie die Truppen noch acht Jahre oder mehr in Afghanistan werden halten können? Ich glaube das nicht.

Das, was der Verteidigungsminister jetzt als neue strategische Ausrichtung präsentiert, geht in die falsche Richtung und ist völlig illusionär. Alle Welt weiß, dass die Taliban und die Aufständischen militärisch nicht zu besiegen sind. Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden. Aber die NATO hält daran fest, dass man die Taliban durch noch entschlosseneres militärisches Vorgehen doch noch in die Knie zwingen kann.

(Jörg van Essen (FDP): Ja!)

Warum sonst sollen die Truppen nennenswert aufgestockt werden? Sie werden aufgestockt werden. Es ist illusionär, zu meinen, man könne durch mehr Aufbauhilfe die Bevölkerung dazu bringen, sich von den Taliban abzuwenden, wenn man gleichzeitig den Einsatz von Gewalt vorantreibt. Mehr Bombardierung heißt mehr Hass, mehr Gewaltbereitschaft und mehr Entfremdung.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck, Herr Kollege?

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):

Ja, gerne.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege, Sie wissen, dass es in sehr dramatischen Situationen keine ganz klaren Antworten gibt.

Ich bin jetzt sechs Tage in Pakistan gewesen, wo kein westliches Militär stationiert ist und wo in den Stammesgebieten, den Grenzgebieten zu Afghanistan, die Zahl der Toten in der Zivilbevölkerung in den letzten fünf Jahren von 180 auf über 6 000 gestiegen ist. Inzwischen haben die Taliban und al-Qaida, wobei sich das überschneidet, die Zivilbevölkerung auch in den Stammesgebieten so tyrannisiert, dass jetzt die Stammesältesten selber die Grenze für überschritten halten und gefordert haben, dass das pakistanische Militär gegen diese Gruppen vorgeht.

Dem vorausgegangen ist im Februar die Entscheidung einer Regionalregierung, mit den Taliban ein Konsensabkommen zu schließen. Die Grundlage war Waffenstillstand gegen Einführung der Scharia. Dieses Recht ist eingeführt worden, der Waffenstillstand ist keine Minute eingehalten worden. Es gab hier also den Versuch einer Konsensbildung. Sind das Überlegungen, die bei uns in die Entscheidungen einfließen müssen, die zu treffen sind?

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):

Vielen Dank für die Frage. Sie haben insofern recht, Frau Kollegin Beck, als bestimmte Entwicklungen an einen Punkt kommen können, wo es schwierig ist, Antworten zu geben. Aber die Frage ist - das ist für uns Linke der Ausgangspunkt -: Warum ist es in Pakistan zu genau dieser Entwicklung gekommen?

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Präsident Sharif wurde im Terrorkrieg als ein Bündnispartner behandelt. Er hat schon immer versucht, diesen Konflikt militärisch zu befrieden. Er hat jedoch keinerlei soziale und wirtschaftliche Entwicklungen vorangebracht. Das ist die Ursache dafür.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Deshalb sagen wir: Wir müssen aus diesem Teufelskreis herauskommen. Wir müssen diese Spirale der Gewalt durchbrechen. Damit müssen wir irgendwann anfangen.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Das ist billiger Populismus und sonst gar nichts!)

Jetzt wird versucht - ich bin noch bei der NATO-Strategie -, auf die klassischen Mittel der Aufstandsbekämpfung zurückzugreifen, wie wir sie auch aus Vietnam kennen. Ich will nur einen Punkt herausgreifen: Es ist und bleibt ein unauflöslicher Widerspruch, wenn man in großem Stil - das geschieht gegenwärtig - die Anführer dieser Aufstandsbewegung umbringt, gleichzeitig aber politische Gespräche mit diesen Talibankommandeuren anbahnen will. Mit demjenigen, den ich montags erschieße, kann ich dienstags nicht mehr reden, auch nicht mit seinem Umfeld. Damit werden die Hürden auf dem Weg zu einer politisch-diplomatischen Verhandlungslösung immer höher gesetzt, und der Krieg wird verlängert, wo es doch jetzt gilt, den Krieg und das Leiden zu beenden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt hierzulande eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung, die sagt: Wir müssen die Bundeswehrsoldaten zurückziehen. - Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie auf die Menschen, die sehr genau sehen, dass man mit der Afghanistan-Unternehmung auf eine schiefe Bahn geraten ist, dass man jetzt in einem Schlamassel steckt und dass man so schnell wie möglich dort heraus muss. Die Afghaninnen und Afghanen - das zeigen auch neuere Studien, zum Beispiel die, die Oxfam jetzt durchgeführt hat - wollen vor allem eins: das Blutvergießen, das sie seit 30 Jahren durchleben müssen, beenden. Die Mehrzahl will auch keine Rückkehr zum alten Talibanregime, aber die Menschen wissen, dass man, wie die Dinge stehen, jetzt einen Kompromiss finden muss, und zwar einen Kompromiss, der vor allem darauf gerichtet ist, diesen gewaltförmigen Konflikt in einen politischen Konflikt zu transformieren. Es geht in die völlig falsche Richtung, wenn man jetzt die Afghanisierung des Krieges betreibt, indem man die afghanischen Streitkräfte aufrüstet. Wir brauchen eine Afghanisierung des Friedens. Es geht um eine innerafghanische Verhandlungslösung.

(Beifall bei der LINKEN)

Um Frieden machen zu können, muss man auch mit den Gegnern, ob sie einem passen oder nicht, reden, und zwar ohne Vorbedingungen. Damit bin ich bei dem Punkt, was getan werden müsste. Erstens müssen alle diplomatischen und politischen Anstrengungen darauf gerichtet werden, einen Waffenstillstand mit den Aufständischen im Land auszuhandeln. Ohne einen Waffenstillstand gibt es keine Entwicklung, gibt es keinen Aufbau und gibt es keine Freiheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Was Afghanistan jetzt braucht, ist ein breiter innergesellschaftlicher Konsultationsprozess, der darin münden muss, dass die Waffen schweigen, dass der Konflikt entmilitarisiert und die nationale Aussöhnung vorangebracht wird. Das ist nicht naiv, wie manche meinen, das ist nicht blauäugig. Dafür gibt es jede Menge Anknüpfungspunkte. Aus der traditionellen Stammesgesellschaft heraus haben sich Kräfte aufgemacht, die diesen Dialogprozess wollen, zum Beispiel in Gestalt der afghanischen Friedensjirga. Es gibt die moderneren, sehr aktiven zivilgesellschaftlichen Initiativen wie das Afghan Civil Society Forum und andere, die zusammen mit Oxfam diese Studie erstellt haben, die auch diesen Dialogprozess wollen, und es gibt die gesprächsbereiten Kreise bei den Aufständischen, die sehr genau realisieren, dass auch sie nicht militärisch gewinnen können. Worauf es jetzt aber besonders ankommt, ist, dass die Regierung Karzai energisch dazu gedrängt wird, statt salbungsvolle Worte zu verbreiten, endlich eine eindeutige und stringente Konzeption des innerafghanischen Dialogs vorzulegen und umzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Eine Voraussetzung dafür, dass die Waffen zum Schweigen gebracht werden können, ist die unzweideutige Festlegung auf den Abzug sämtlicher NATO-Truppen, und zwar ohne Bedingungen und nicht irgendwann.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer diesen Truppenabzug, Herr Minister Westerwelle, an Voraussetzungen knüpft - eine stabile Zentralregierung in Kabul, vielleicht 400 000 Soldaten -, der verschiebt diesen Termin dann doch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Der Abzug ist aus unserer Sicht alternativlos, weil er - das wird manche erstaunen, aber es ist so - den bewaffneten Widerstand schwächt, der seine Stärke doch gerade aus dem um sich greifenden Gefühl der Afghanen zieht, in einem besetzten Land zu leben und politisch bevormundet zu werden. Der Abzug ist alternativlos, weil er das entscheidende Signal an die Afghaninnen und Afghanen gibt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens sollte alles dafür getan werden, dass das Waffenstillstandsübereinkommen in das weite regionale Umfeld eingepasst wird. Alle Anrainerstaaten müssen beteiligt werden und ein solches Waffenstillstandsübereinkommen garantieren.

Viertens gibt es in der Tat eine Verantwortung auch der Deutschen für Afghanistan, eine Verantwortung für Unterstützung und Wiederaufbau. Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Mittel für den zivilen Aufbau erhöht werden müssen, dass sie dort ankommen müssen, wo sie gebraucht werden, und dass die zivile Aufbauhilfe von der Einordnung in militärische Strategien endlich befreit werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die der deutschen entwicklungspolitischen Organisationen, zuletzt diese Woche. VENRO sagt klipp und klar:

Die schädliche und irreführende Vermischung von zivilen und militärischen Aufgaben muss endlich beendet werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich fasse zusammen: Der Einmarsch in Afghanistan hatte keine völkerrechtliche Grundlage. Für den Aufbau des Landes hatte die NATO kein Konzept, und jetzt, wo man im Morast steckt, hat man keinen Plan, wie man wieder herauskommt. Das ist schlimm. Um Schlimmeres zu verhüten, fordern wir von Ihnen eines: Ziehen Sie die deutschen Truppen aus Afghanistan zurück, und zwar unverzüglich!

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Tagesaktualität, zu der ich gleich noch komme, möchte ich mit einer grundsätzlichen Bemerkung beginnen. Die Entscheidung über den ISAF-Einsatz hat sich meine Fraktion nie leicht gemacht. Wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan, gegenüber den vielen Helferinnen und Helfern der Entwicklungsorganisationen, gegenüber den Polizeiausbildern und den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in Afghanistan ihr Bestes tun, um den Menschen dort zu helfen.

In Richtung der Kollegen von der Linkspartei will ich hier sagen: Diese Solidarität ist für uns unvereinbar mit der Forderung nach einem Sofortabzug.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Da soll man sich nichts vormachen: Es gibt nicht die einfache Alternative: Bundeswehr raus, Helfer rein. Auch die meisten Helferinnen und Helfer müssten dann mit der Bundeswehr tatsächlich herausgehen, und das wollen die Menschen in Afghanistan, insbesondere im Norden des Landes, eben nicht. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang zu begreifen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Sicherheitslage hat sich allerdings deutlich verschlechtert, gerade im Einsatzgebiet der Bundeswehr. Daher muss man von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Die weitgehend gefälschten Präsidentenwahlen sind mehr als problematisch für den weiteren politischen Prozess in Afghanistan, aber auch für die Legitimation des Einsatzes der internationalen Gemeinschaft dort.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt aber auch eine große Chance: Das ist die neue Offenheit, mit der international über einen Strategiewechsel diskutiert wird. Nun geht es darum, diesen Kurswechsel voranzutreiben in Richtung einer zivilen Aufbauoffensive in Verbindung mit einem konkreten Abzugsplan. Daher wünsche ich mir wirklich konkretere Vorschläge hier im Deutschen Bundestag von Regierungsseite.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der Koalition, vor diesem Hintergrund ist das Handeln der Bundesregierung zu bewerten. Sicherlich, Sie sind erst seit einigen Wochen im Amt; aber dass Sie uns ein Mandat vorlegen, das, bis auf deutlich mehr Geld für das Militär, komplett unverändert ist, das ist schlecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie hätten mehr tun können und müssen. Sie hätten eine unabhängige, ehrliche Evaluierung des Engagements in Afghanistan vornehmen können. Das Fehlen einer solchen Bilanzierung hängt schon seit Jahren als Ballast an der deutschen Afghanistan-Politik. Andere Bündnispartner haben diesen Schritt gewagt. Schauen Sie einmal, was die Kanadier vorlegen. Davon kann man einiges lernen.

Außerdem hätten Sie eine zivile Aufbauoffensive entwickeln können. Alle Experten sind sich einig, dass für den Erfolg des Einsatzes der Aufbau von staatlichen Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind. Aber was tun Sie? Sie fordern mehr Geld - fast 300 Millionen Euro - für das Militär. Ein vergleichbarer Ausbau der zivilen Hilfe? Da ist Fehlanzeige.

VENRO, der Verband der deutschen Nichtregierungsorganisationen, hat vor zwei Tagen vorgerechnet, dass sich unter der neuen Bundesregierung das Verhältnis von militärischen Mitteln zu zivilen Mitteln von drei zu eins auf vier zu eins verschlechtert. Das ist doch ein absurder Vorgang.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist doch das genaue Gegenteil einer zivilen Aufbauoffensive.

Ich sage Ihnen: Es grenzt an Vertuschung, wenn gleichzeitig die Spatzen von allen Dächern pfeifen, dass eine Truppenerhöhung geplant sei. Herr zu Guttenberg, schenken Sie dem Deutschen Bundestag dazu reinen Wein ein!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erst einmal zuhören! - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er wird gerade von der Kanzlerin abgelenkt!)

Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bundesregierung hat den Kurswechsel von Oberbefehlshaber McChrystal - der will nämlich endlich den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellen - rhetorisch unterstützt. Aber Sie, Herr Verteidigungsminister, konterkarieren dieses Bekenntnis völlig, wenn Sie die Bombardierung der zwei Tanklaster bei Kunduz und der Menschenmenge um diese herum als ?angemessen? bewerten. Ich hoffe, dass Sie im Lichte der neuen Erkenntnisse, die Sie jetzt gewonnen haben, das zurücknehmen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

In der Stabilisierungsmission ISAF darf kein Platz sein für eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung möglichst vieler Gegner zielt. Das müssen Sie geraderücken!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Und Herr Jung, wenn sich bestätigen sollte, dass Sie de facto den Deutschen Bundestag in diesem Zusammenhang belogen haben, dann sind Sie als Minister nicht mehr haltbar, egal, in welcher Funktion.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielleicht kann Herr Guttenberg auch einmal zuhören, Frau Merkel!)

Das muss aufgeklärt werden. Deswegen wollen wir, dass der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss tätig wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der Koalition, die wenigen Wochen der Afghanistan-Politik der neuen Bundesregierung muss ich leider so zusammenfassen: Sie ist eine Mischung aus Vertagungen, Versprechungen und Verschlechterungen. Das geht an den realen Herausforderungen in Afghanistan vorbei.

(Birgit Homburger (FDP): Ihre Rede auch!)

Die Entscheidung nächste Woche ist sicherlich eine Gewissensentscheidung für alle Abgeordneten. Die Abwägungen sind nicht leicht. Sie wollen von uns einen Blankoscheck für ein weiteres Jahr. Ich spreche für einen großen Teil meiner Fraktion, wenn ich sage: Dem können wir nicht zustimmen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Für eine Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Kollege Schmidt, ich möchte Sie gerne auf zwei Punkte ansprechen.

Erster Punkt: Meinen Sie nicht, dass es auch Solidarität ist, dass man einem Partner sagt, was erfolgreich ist und was nicht erfolgreich ist, was geht und was nicht geht, wenn man mit ihm über Werte diskutiert? Sollte man also der Bevölkerung in Afghanistan nicht sagen: ?Unsere Solidarität wird darin liegen, dass wir versuchen, von kriegerischen Lösungen wegzukommen und zivile Lösungen zu finden??

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich möchte hier vor allen Dingen einen Begriff gewertet wissen: Das ist der Begriff der Selbstbestimmung. Wir haben über alles gesprochen, nur nicht über Selbstbestimmung.

Mein zweiter Punkt: Finden Sie es nicht auch unerträglich, dass der ehemalige Verteidigungsminister Herr Jung hier sitzt, er aber, obwohl ihm schlimme Vorhaltungen gemacht werden, er von fast allen Rednern bezichtigt wird, dass er gelogen hat, und selbst sein Nachfolger sich von ihm hier absetzt, nicht das Wort ergreift?

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mich stört eher, dass er da sitzt und lacht!)

Ich denke, der ehemalige Verteidigungsminister muss jetzt reden und Stellung nehmen. Ich würde mich freuen, wenn Sie es ähnlich sähen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Zum zweiten Punkt kann ich nur sagen: Da haben Sie sicher recht. Es wäre gut für die politische Kultur in diesem Land und in diesem Haus, wenn Sie, Herr Jung, hier heute einmal direkt Stellung nehmen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Zu Ihrer ersten Frage muss ich sagen: Es ist ganz entscheidend, dass man den Zusammenhang im politischen Handeln versteht, dass eben ziviler Aufbau in dieser kriegsähnlichen Situation in Afghanistan auch militärischen Schutz braucht. Wenn man eine Abzugsperspektive eröffnen will, muss man diesen Zusammenhang berücksichtigen und schrittweise vorgehen. Deswegen ist die Forderung nach einem Sofortabzug falsch und kein Ausdruck von guter Solidarität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich dachte, jetzt spricht der Jung!)

Elke Hoff (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte vorneweg dem Bundesverteidigungsminister dafür danken, dass er vor dem Hintergrund der ihm vorliegenden Informationen unverzüglich die Konsequenzen gezogen hat. Ich respektiere ausdrücklich seine Bereitschaft, im Lichte der ihm zugehenden Informationen eine Neubewertung seiner Aussagen im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit vorzunehmen.

Ich denke auch, dass es der Respekt gebietet, abzuwarten, bis die Informationen wirklich vorliegen, um Mitgliedern der Bundesregierung tatsächlich ein persönliches Fehlverhalten zuordnen zu können. Ich bitte hier um die notwendige Seriosität und Geduld. Ich gehe davon aus, dass dann die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wären ja bereit, unsere Redezeit an Herrn Jung abzutreten!)

- Das wäre für den Vertreter Ihrer Fraktion möglich gewesen, sehr verehrter Herr Trittin.

In der Kürze der Zeit sollten wir versuchen, die Diskussion auf einen eher rationalen Aspekt zurückzuführen. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz im nächsten Jahr die Gelegenheit haben, die Strategie neu zu justieren. Es ist dringend an der Zeit, dass wir das tun.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Dabei müssen wir einige Punkte berücksichtigen. Erstens darf sich die Situation in Afghanistan nicht durch irgendwelche Maßnahmen, sei es ein Abzug oder Ähnliches, gegenüber der Zeit, in der die internationale Gemeinschaft dort tätig wurde, verschlechtern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zweitens müssen wir unbedingt gemeinsam dafür sorgen, dass ein nationaler Versöhnungsprozess entsteht; denn nur dieser kann die Voraussetzung für alle weiteren Schritte sein.

Drittens darf der militärische Abzug nicht unverzüglich erfolgen, lieber Kollege Paul Schäfer; denn dies würde zu einem neuen Bürgerkrieg in Afghanistan führen. Das wissen auch Sie. Ich halte das für unverantwortlich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber wir müssen gemeinsam dafür sorgen, auch im Respekt vor dem afghanischen Volk, dass der Primat der Politik zum Zuge kommt, dass die Politik wieder die Möglichkeit erhält, die Rahmenbedingungen zu bestimmen. Der militärische Einsatz ist notwendig, kann aber nur Teil einer Gesamtstrategie sein. Ich glaube, dass auch die Reaktion unseres Entwicklungsministers, Dirk Niebel, gezeigt hat, dass er bereit ist, durch die Zur-Verfügung-Stellung erhöhter finanzieller Mittel diesen Prozess aktiv zu begleiten.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf die Debatte nach der Afghanistan-Konferenz, weil wir dann alle gemeinsam die Möglichkeit haben, eine Neujustierung der Afghanistan-Politik vorzunehmen. Wir werden als Fraktion mehrheitlich dem Einsatz und der Verlängerung des Mandates ISAF zustimmen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Dr. Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat am 18. November beschlossen, die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe in Afghanistan, ISAF, fortzusetzen, und bittet den Deutschen Bundestag um Zustimmung dazu. Die SPD-Bundestagsfraktion wird diese Zustimmung nicht verweigern.

Wir beschließen dies allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung in Afghanistan Anlass zu großer Sorge gibt, zu dem wichtige Entscheidungen über das künftige Vorgehen der Vereinigten Staaten, der NATO und der Weltgemeinschaft in Afghanistan noch nicht getroffen sind und zu dem wir sicher sein können, dass wir nicht etwa erst in einem Jahr, wenn die nächste Verlängerung ansteht, erneut über Afghanistan im Deutschen Bundestag beraten werden, sondern wesentlich früher. Insofern enthält unsere Entscheidung etwas Vorläufiges. Wir sind auf einem Weg, den wir ganz offenbar nicht verlassen können; aber er verliert sich vor uns schon nach wenigen Kurven in einem schwer einsehbaren Gelände. Wir spüren eine drückende Verantwortung bei der Aufgabe, ein Scheitern in Afghanistan zu verhindern, bei der Herausforderung, sich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren, und aufgrund des Bewusstseins, alle zivilen und bewaffneten Kräfte - es handelt sich schließlich um Menschen, die wir nach Afghanistan schicken - erheblichen Gefahren aussetzen zu müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Das betrifft zunächst Präsident Karzai. Der Wahlprozess hat das Vertrauen in ihn nicht bestärkt. In seiner Antrittsrede vor einer Woche hat er eine Reihe begrüßenswerter Ankündigungen gemacht. Es soll einen nationalen Versöhnungsprozess geben und dazu die traditionelle Große Ratsversammlung, die Loya Jirga, einberufen werden. Afghanische Sicherheitskräfte sollen Distrikt für Distrikt, Provinz für Provinz die Sicherheitsverantwortung selbst übernehmen. Dieser Prozess soll in fünf Jahren abgeschlossen sein. Ferner hat der Präsident gute Regierungsführung angekündigt. Darunter fallen Transparenz bei den Einkünften von Leuten mit öffentlichen Ämtern und ein Ende der Kultur der Straflosigkeit, einer Schwester der Korruption, die ebenso bekämpft werden soll wie illegaler Drogenanbau und -handel.

Da haben die Zuhörer geklatscht, und die internationale Gemeinschaft hat zustimmend genickt. Aber wir haben diese Botschaften in ähnlicher Form schon öfter gehört. Es sind zwar gute Botschaften, aber sie bleiben zu allgemein und zu unverbindlich. Was wir brauchen, sind überprüfbare Zwischenschritte. Wie sollen sie aussehen? Welche Fristen gibt es für die Umsetzung dieser Zwischenschritte? Es darf nicht mehr sein, dass wir nach einem, zwei oder gar fünf Jahren feststellen müssen: Es wurde zwar versucht, aber leider ist es wieder nicht gelungen. - Wir brauchen eine konkretisierte Verbindlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie muss für den nächsten Compact ausgehandelt werden, das heißt bis zu der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar.

Wir brauchen diese Verbindlichkeit aber auch auf der anderen Seite, also auf unserer Seite. So lesen wir zum Beispiel im Antrag der Bundesregierung:

Dabei steht im Zentrum des zivilen Engagements der Bundesregierung die Aus- und Fortbildung der afghanischen Polizei. Die Bundesregierung ... beabsichtigt, die bilaterale deutsche Polizeimission zu diesem Zweck personell erheblich aufzustocken ...

Irgendeine konkrete Zahlenangabe dazu suchen wir allerdings vergeblich. Das ist genauso unverbindlich wie die präsidialen Ankündigungen in Kabul. In jeder Afghanistan-Diskussion wird die Bedeutung der Selbstverteidigungsfähigkeit Afghanistans beschworen. Dazu gehört natürlich die Polizeiausbildung. Auch Sie, Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, haben das eben vorgetragen.

Man muss schon tief in das neue Papier der Bundesregierung mit dem Titel "Afghanistan. Auf dem Weg zur 'Übergabe in Verantwortung'" einsteigen, um überhaupt einmal auf eine Angabe zu den Dimensionen zu stoßen. Auf Seite 15 steht dazu:

Die Bundesregierung strebt an ..., den Personaleinsatz im bilateralen deutschen Polizeiprojekt bis Mitte 2010 auf rund 200 Polizisten aufzustocken, was etwa eine Verdreifachung der Anzahl von Mitte 2009 bedeutet ...

Mit anderen Worten: Im Jahre acht des deutschen Afghanistan-Einsatzes haben wir für die Erledigung der Aufgabe, die wir für am wichtigsten halten und bei der wir uns besonders engagieren, im bilateralen Bereich ganze 70 Ausbilder vor Ort. Es werden zwar bis zu 4 500 Soldaten eingesetzt, aber bei der Aufgabe, die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden, kommen bisher nur 70 Leute zum Einsatz.

In den letzten Tagen sind hier mit einem Federstrich die Zielgrößen erhöht worden, ja mehr als verdoppelt worden. Plötzlich reden wir nicht mehr von 92 000 afghanischen Soldaten und 84 000 afghanischen Polizisten, die für die Eigensicherung notwendig sind, sondern von 240 000 Soldaten und 160 000 Polizisten. Aber wer soll diese denn in welchem Zeitraum eigentlich ausbilden? Die 70 deutschen Ausbilder oder die - wenn es überhaupt jemals so viele werden - 400 Ausbilder der EU? Es ist höchste Zeit, dass wir uns ehrlich machen, um an dieser Stelle ehrlich zu bleiben. Das, Herr zu Guttenberg, ist eigentlich der Zweck einer ressortübergreifenden Handlungsfähigkeit. Das müsste tatsächlich geklärt werden.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stinner?

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):

Nein, das möchte ich jetzt nicht.

ISAF zu verlängern, ist unumgänglich. Aber ebenso unumgänglich ist es, die nächsten Wochen zu nutzen, um bis zu der Afghanistan-Konferenz tatsächlich konkrete eigene Leistungen mit konkreten Zeitangaben für ihre Umsetzung zu definieren. Diese Leistungen sind notwendig, um wenigstens das wichtigste Ziel in Afghanistan zu erreichen. Nur dann haben wir die Chance, diese Verbindlichkeit auch von der afghanischen Seite zu verlangen. Das erwarten wir von der Bundesregierung. Seitens der Opposition sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (FDP):

Sehr geehrter Herr Kollege Erler, halten nicht auch Sie es für außerordentlich peinlich, dass gerade Sie, der Sie bis vor vier Wochen vier Jahre lang die Verantwortung hatten, für den Polizeiaufbau zu sorgen, die neue Bundesregierung kritisieren, die einen neuen Ansatz wählt und erstmals eine ausführliche Mandatsbegründung vornimmt, deren Entwicklungshilfeminister erstmals einen gemeinsamen Ansatz schafft und in den ersten Amtstagen dafür gesorgt hat, dass mehr Mittel bereitgestellt werden? Herr Kollege Erler, das halte ich für außerordentlich peinlich.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):

Herr Kollege Stinner, ich glaube nicht, dass ich Sie darüber aufklären muss, wie die Aufgabenverteilung in der vergangenen Bundesregierung ausgesehen hat. Ich könnte nachweisen, dass uns das Thema der Polizeiausbildung immer wieder beschäftigt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass das Konzept an dieser Stelle verändert wurde. Von einem Tag auf den anderen wird die Zahl derjenigen, die in Afghanistan ausgebildet werden sollen, verdoppelt. Es sollen jetzt 162 000 Polizisten ausgebildet werden. Dies bildet sich aber nicht in dem Konzept ab, das die Bundesregierung vorschlägt. Es wird vielmehr gesagt: Wir werden die Polizeimission von 60 bzw. 70 vielleicht auf 200 Personen aufstocken. Es ist doch wohl berechtigt, dass wir, wenn wir schon von Ehrlichkeit und Offenheit sprechen, im Bundestag beraten, ob das die richtige Größenordnung ist, ob diese Zahl ausreicht oder nicht. Ich habe mir das Recht genommen, dies anzusprechen.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU - Ulrich Kelber (SPD): Aber nicht den Unsinn von heute Morgen wiederholen! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Was ist denn das für ein Schreihals?)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht gehört, wer gerade einen Zuruf gemacht hat. Es scheint ein Kollege der SPD gewesen zu sein.

(Ulrich Kelber (SPD): Ich war es!)

- Der Kollege Kelber bekennt sich freiwillig dazu, dass er es war.

Herr Erler, die Dinge, die Sie zuletzt angesprochen haben - Kollege Stinner hat dankenswerterweise darauf hingewiesen -, waren Ihnen bislang nicht neu. Auch die Entwicklung des Ganzen ist Ihnen nicht neu. Als Staatsminister waren Sie an verantwortungsvoller Stelle maßgeblich daran beteiligt und haben in den letzten Jahren vieles erreicht.

(Ulrich Kelber (SPD): Aber nicht im Innenministerium! Das wissen Sie doch!)

Ich bin schon der Meinung, dass das, was Sie gesagt haben, der Sie ja auch noch von Offenheit und Ehrlichkeit geredet haben, nicht ganz zutreffend war. Ich möchte an dieser Stelle, wie es auch der Kollege Stinner getan hat, darauf hinweisen, dass der amtierende Außenminister, Herr Westerwelle, die Dinge richtig dargestellt hat und unsere volle Unterstützung hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde es richtig, dass das Parlament an einem so wichtigen Tag wie heute, an dem wir über mehrere Mandate zu entscheiden haben, breit und mit starker Beteiligung über diese Mandatsverlängerungen diskutiert. Ich hätte mir gewünscht, dass im Laufe dieser Debatte mehr über Afghanistan selbst diskutiert worden wäre. Ich sehe in den Angriffen, die seitens der Opposition gegenüber Minister Jung gestartet worden sind, den plumpen Versuch, sich nicht mit der Realität in Afghanistan auseinanderzusetzen, sondern eine politische Show aufzuführen, die der Wichtigkeit des Themas nicht entspricht. Ich glaube, dass dieser Punkt deutlich herausgearbeitet werden muss.

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

- Gerade Sie, Herr Ströbele, der Sie permanent Zurufe machen, sollten zuhören, wenn es um die Sache geht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das müssen Sie gerade sagen!)

Frau Kollegin Beck beispielsweise hat vorhin im Rahmen ihrer Zwischenfrage die Wichtigkeit des Themas Afghanistan deutlich gemacht und darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Lage in Afghanistan für die Situation in Pakistan und für die gesamte Region hat. Herr Ströbele, als Frau Beck diesen wichtigen Beitrag geleistet hat, waren Sie noch nicht einmal hier im Raum. Immer, wenn Sie hier sind, schreien Sie die ganze Zeit dazwischen. Deshalb möchte ich Ihre Zwischenfrage jetzt auch nicht zulassen, sondern mich dem Thema widmen.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kommen Sie zur Sache!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwischenfrage des Kollegen Ströbele.

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):

Nein, das lasse ich jetzt nicht zu.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, das macht Philipp nicht!)

Das zu Ende gehende Jahr 2009 war kein gutes Jahr für Afghanistan. Der jüngste Wahlprozess hat die Defizite, die schon in den vergangenen Jahren offensichtlich waren, deutlich herausgestellt und der Weltöffentlichkeit sehr plastisch vor Augen geführt.

Ich will zunächst drei Punkte ansprechen, die wir deutlich im Blick unserer Argumentation haben müssen: Das sind die sich deutlich verschlechternde Sicherheitslage, die grassierende Korruption und die schlechte Regierungsführung in der Administration von Karzai. Diese Defizite sind für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine große Hypothek. Gerade deshalb muss die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft besonders herausgestellt werden.

Nach der erneuten Amtseinführung von Karzai und auch nach seiner Rede in der vergangenen Woche sehe ich die Chance und habe wie alle die Hoffnung, dass dieser Negativtrend durchbrochen werden kann. Die Chance muss genutzt werden. Dies ist angesichts der Dauer des Einsatzes mittlerweile sehr schwierig, weil wir schon oft Hoffnung geschöpft haben und diese Hoffnung sich dann nicht erfüllt hat. Es ist trotzdem kein Grund, aufzugeben. Es ist trotzdem kein Grund, die Menschen in Afghanistan alleine zu lassen und sich der eigenen Verantwortung zu entziehen.

Die Konsequenz aus einem Rückzug wäre, dass Afghanistan in ein heilloses Chaos stürzt, dass Afghanistan zu einem Rückzugsraum für Terroristen und - wie es das schon einmal war - wieder zu einer Operationsbasis für den weltweiten Terrorismus wird. Frau Beck, ich habe es bereits angesprochen: Die Auswirkung auf die gesamte Region ist nicht zu unterschätzen: Wenn ein islamistisches Talibanregime die Macht ergreifen würde, würde dies nicht ohne Folgen bleiben für Pakistan, für die zentralasiatischen Staaten, für Russland und China, die dies im Übrigen auch als Worst-Case-Szenario sehen. Deshalb haben sie ein großes Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans, die sie mit uns gemeinsam voranbringen wollen.

Ich danke allen Fraktionen im Haus, dass - es bröckelt ja in manchen Fraktionen - insgesamt, gerade im Auswärtigen Ausschuss, diese Diskussion mit großer Ernsthaftigkeit geführt wird. Ich möchte auch daran erinnern, dass die rot-grüne Regierung 2001 unter der Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen Einsatz, damals noch unter dem Motto der uneingeschränkten Solidarität, begonnen hat. Deshalb weiß ich es, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Erler, besonders zu schätzen, dass das Thema Afghanistan eben nicht zu einem populistischen Ja-nein-Thema gemacht wird. Vielmehr müssen wir darüber diskutieren, was tatsächlich der beste Weg für Afghanistan ist. Das möchte ich anbieten. Deshalb glaube ich auch, dass Ihre Anmerkung wichtig war.

Wir dürfen es, was die Auseinandersetzung mit diesem Thema angeht, nicht nur bei dieser heutigen Debatte belassen, sondern wir müssen auch dann, wenn die Afghanistan-Konferenzen stattgefunden haben, im Deutschen Bundestag weiterhin die Möglichkeit haben, zeitnah über den Fortgang zu diskutieren und nicht erst in zwölf Monaten. Das kann ich für meine Arbeitsgruppe und auch für mich persönlich anmelden. Selbstverständlich wollen wir auch in diesen Prozess eingebunden sein. Ich denke, das ist ein gemeinsames Interesse.

Die NATO und die Weltgemeinschaft haben eine große Verantwortung für Afghanistan. Wenn wir über die Kriterien des Erfolgs sprechen, wenn wir Erfolgsmaßstäbe beschwören und sie darstellen, dürfen wir dabei nicht vergessen, dass auch die Öffentlichkeit in Afghanistan ganz genau darauf achtet, ob wir es mit der Durchsetzung dieser Erfolgskriterien ernst meinen. Die Erwartungshaltung - die afghanische Delegation ist angesprochen worden, sie hat sich auch mit Vertretern unserer Fraktion getroffen - sowohl von Politikern als auch von Bürgern in Afghanistan ist riesengroß. Gerade Deutschland als drittgrößter Truppensteller trägt dort eine große Verantwortung, der wir gerecht werden müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Eine Anmerkung in Richtung der Linken: Ich glaube, dies ist nicht nur eine Frage der Bündnistreue unseres Landes, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit unseres Landes insgesamt. Vor allem ist zu fragen, ob wir der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung unseres Landes, die wir an anderer Stelle immer gerne für uns reklamieren, gerecht werden, wenn wir diesen Einsatz auch nur ansatzweise infrage stellen. Deshalb sage ich: Wir müssen dieses Thema im Einvernehmen mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft angehen und unserer Verantwortung gerecht werden; denn man kann nicht an der einen Stelle mehr Bedeutung für Deutschland reklamieren und sagen, dass man bei vielen Themen führend sein will, sich an anderer Stelle aber vor der Verantwortung drücken. Wir müssen zu unserer Verantwortung stehen. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit und der Verlässlichkeit Deutschlands.

Ich bin der Meinung, dass wir den Antrag der Bundesregierung unterstützen, die Ziele, über die diskutiert wird, stärker herausarbeiten und das polizeiliche und das militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan fortsetzen sollten. Außerdem glaube ich sehr wohl, dass wir auf günstigere Umstände in der Zukunft hoffen können. Aber es muss klar sein, dass dies kein einfacher Prozess ist, für den es eine einfache Lösung gibt. Man unterliegt einem Irrlauben, wenn man annimmt - ich glaube, der Kollege Frithjof Schmidt von den Grünen hat das gesagt -, dass den Menschen dadurch geholfen werden könnte, dass man das Militär abzieht und gleichzeitig mehr Entwicklungshelfer ins Land schickt. Tatsächlich ist es doch so, dass die Entwicklungshelfer massiv auf Schutz und Unterstützung angewiesen sind. Dort, wo eine Befriedung erreicht werden konnte, ist Engagement notwendig. Aber gerade dort, wo die militärische Auseinandersetzung besonders intensiv ist, kann man als Antwort doch nicht mehr Entwicklungshelfer anbieten. Gerade diejenigen, die vor Ort verantwortungsbewusst einen großen Dienst für die internationale Gemeinschaft und für die Menschen in Afghanistan leisten, müssen geschützt werden. Deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr auch und gerade für die Entwicklungshelfer sehr wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Bundeskanzlerin hat kürzlich in ihrer Regierungserklärung gesagt, dass die Ziele des deutschen Engagements in Afghanistan nach wie vor die Schaffung selbsttragender Sicherheit und der Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen sind. Wie weit wir davon noch entfernt sind, haben uns die letzten Wochen sehr deutlich vor Augen geführt. Deshalb glaube ich, dass wir die afghanische Regierung sehr stark dabei unterstützen müssen, die folgenden drei Ziele zu erreichen: Zunächst einmal geht es um die Stabilisierung und die Sicherheit, dann darum, gutes Regieren durchzusetzen, und darum, die weitere Entwicklung zu unterstützen.

Die Verbesserung der Sicherheitslage ist die Voraussetzung für die Erreichbarkeit der beiden weiteren Ziele. Deshalb ist - das ist in der Debatte schon angesprochen worden - der weitere Aufbau von Polizei und Armee in afghanischer Eigenverantwortung dringend notwendig. Wir müssen über unseren Beitrag hierfür diskutieren.

An zweiter Stelle steht die gute Regierungsführung. Es gibt in Afghanistan viele Absichtserklärungen und konkrete Vorschläge wie die Pflicht für einzelne Minister, ihre Einkunftsquellen offenzulegen. Es ist wichtig, dass wir bei allen Gesprächen, bei allen anstehenden Konferenzen, bei jeder Gelegenheit darauf drängen, dass die Grundstrukturen, die für eine gute Regierungsführung notwendig sind, auch durchgesetzt werden. Obwohl Karzai in seiner letzten Rede wieder deutlich herausgestellt hat, dass er das nun machen will, ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere Deutschland den Druck weiterhin aufrechterhält, damit gegen das Geschwür der Korruption in Afghanistan engagiert vorgegangen wird.

Der dritte Punkt bezieht sich auf die weitere Entwicklung. Natürlich ist klar, dass Deutschland neben den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in der Entwicklungshilfe ebenfalls sehr stark engagieren, gefragt ist. Deshalb wollen wir unser Engagement auf diesem Gebiet fortsetzen.

Unsere Fraktion begrüßt es, dass die Bundesregierung die Afghanistan-Konferenzen im kommenden Jahr angestoßen hat und engagiert begleiten will. Auch das ist für uns klar: Es wird keinen Schnellschuss bezüglich der Afghanistan-Strategie geben. Ohne ein Gesamtkonzept können und wollen wir bei diesen Konferenzen keine seriöse Entscheidung zur Zukunft unseres Engagements treffen. Natürlich ist klar, dass sich unser Engagement an erfüllbaren Erfolgskriterien orientieren muss, die bei der Bevölkerung in Deutschland auf Rückhalt stoßen und im Deutschen Bundestag nach Möglichkeit mit Unterstützung aller Fraktionen - wenn sich die Linke herausnimmt, wird das nicht zu erreichen sein - durchgesetzt werden können.

Ich begrüße ausdrücklich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg bei seinem Antrittsbesuch in Kabul deutliche Worte gegenüber Präsident Karzai gefunden hat und deutlich gesagt hat, was unsere Erwartungshaltung ist. Dies muss auch unsere Strategie für die Afghanistan-Konferenzen sein. Wir müssen deutlich machen, was wir von unseren afghanischen Partnern erwarten. Wir haben diese Erwartungen zu Recht; denn die Bundesrepublik leistet einen nicht unerheblichen Beitrag, der für viele Angehörige von Bundeswehrsoldaten und Entwicklungshelfern eine große Belastung ist. Deshalb ist es richtig, dass unsere Interessen ernsthaft formuliert und gegenüber der afghanischen Regierung durchgesetzt werden.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Der Kollege Ströbele hat um eine Kurzintervention gebeten. - Bitte schön, Herr Kollege.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Mißfelder, Sie haben mich angesprochen, weil wir hier über die Videoaufnahmen und die Meldungen, die heute durch die Presse gehen, reden. Wenn wir über diese neuen Fotos, Zeichnungen und die Originalzitate der Ärzte aus den Krankenhäusern in Afghanistan reden, dann reden wir nicht nur über die Unwahrheiten, die seitens der Bundeswehr und des Ministeriums und dieses Herrn, der immer noch auf der Regierungsbank sitzt und nichts anderes tut als lächeln oder lachen, verbreitet worden sind, sondern auch über 142 in Afghanistan getötete Menschen. Das heißt, wir reden über Afghanistan, über die Kinder und Jugendlichen, die dort auf Befehl eines deutschen Obersts im Bombenhagel umgekommen sind. Wir reden darüber, dass diese Offensivstrategie dazu beiträgt, dass der Krieg in Afghanistan immer schlimmer und skrupelloser wird, dass damit der Terrorismus nicht bekämpft, sondern gefördert wird. Jede solche Bombardierung mit zivilen Opfern, die hier im Deutschen Bundestag, auch vom neuen Verteidigungsminister, gerechtfertigt wird, brutalisiert und verlängert den Widerstand und den Krieg in Afghanistan, lässt ihn eskalieren. Darüber reden wir. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und stellen Sie sich nicht hinter diesen ewig nur lachenden oder lächelnden Minister, der die Regierungsbank besser heute als morgen verlassen sollte!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Unverschämt!)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):

Herr Kollege Ströbele, ich nehme das, was Sie gesagt haben, natürlich zur Kenntnis. Ich finde, dass jedes Menschenleben, das - egal auf welcher Seite - in dieser Auseinandersetzung verloren geht, eines zu viel ist. Ich glaube, dass dies bei jeder Debatte hier deutlich geworden ist. Angesichts der Diskussionen im Wahlkreis, aber auch im privaten Umfeld spürt jeder einzelne Abgeordnete die Last, die auf ihm liegt, wenn es hier darum geht, Einsätze zu verlängern. Ich sehe gerade auch an den Gesichtern der Kollegen in Ihrer Fraktion, dass sie es sich in dieser Debatte nicht leicht machen; das war auch in der Vergangenheit der Fall.

Herr Ströbele, ich verstehe, dass Sie jede Gelegenheit nutzen - sei es durch Zwischenrufe, sei es durch Interventionen -, um Ihre persönliche Haltung deutlich zu machen. Aber diskutieren Sie das auch in Ihrer eigenen Fraktion!

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das tue ich! - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das tun wir!)

In den vergangenen Jahren wurden die Einsätze in Afghanistan mit einer breiten Mehrheit beschlossen. Sie können nicht wegen eines Artikels in der heutigen Ausgabe der Bild-Zeitung so tun, als trage nur eine Person in der Bundesregierung die Verantwortung, die heute gar nicht mehr für das Ressort zuständig ist. Tatsächlich tragen wir eine Gesamtverantwortung. Dies zu erwähnen, gehört zur Redlichkeit dazu.

Herr Ströbele, Sie greifen den Fall, der in dem Artikel geschildert ist, heraus, um Ihre persönliche Fundamentalkritik am Einsatz zu begründen. Dies lasse ich Ihnen einfach nicht durchgehen. Ich bin der Meinung, dass wir uns mit der Sache auseinandersetzen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir ein paar Vorbemerkungen zu dem Gesagten.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Bitte!)

Kollege Mißfelder, es geht nicht um einen einzigen Artikel. Es geht darum, dass aufgrund dessen, was in diesem Artikel steht, heute der oberste Soldat der Republik entlassen worden ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie machen den gleichen Fehler wie der Außenminister. Auch er hat in seiner Rede ein bisschen banal über diesen Zwischenfall gesprochen, was im Übrigen massiv dem Ansatz des Verteidigungsministers widerspricht, der ja angekündigt hat, es gebe jetzt eine herausragende Kooperation zwischen den Ressorts. Das scheint noch nicht der Fall zu sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweite Vorbemerkung. Herr Minister, Sie haben sich in der Vergangenheit geweigert, einen eigenständigen Bericht über diesen Zwischenfall vorzulegen, über den wir hier im Plenum diskutieren könnten. Dies taten Sie mit der Argumentation, es gebe nur diesen einen Bericht von COM ISAF und der sei geheim. Vorhin haben Sie gesagt, es gebe deutlich mehr Berichte. Deshalb müssen Sie Ihre Bewertung hinterfragen. Legen Sie hier bitte einen Bericht vor. Jetzt gibt es ja die Möglichkeit; Sie haben selber gesagt, dass es mehr Quellen gibt. Wir brauchen einen Bericht, damit wir hier endlich darüber diskutieren können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Benutzen Sie einmal Ihre Ohren!)

Wir diskutieren heute über die Verlängerung des ISAF-Mandates. Dabei geht es nicht um Planspiele, sondern darum, dass wir Frauen und Männer in Einsätze schicken, in denen es auch um ihr Leben geht. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch seitens meiner Fraktion den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Aufbauhelferinnen und -helfern und natürlich erst recht ihren Familien für den Einsatz, den sie erbringen, von ganzem Herzen zu danken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieser Einsatz erfordert eine Gegenleistung von der Politik. Diese Gegenleistung kann nur sein, dass wir Verantwortung übernehmen, dass wir schauen, welchen Auftrag wir erteilen. Der Auftrag muss klar sein, er muss durchdacht sein, und er muss Aussicht auf Erfolg und Wirksamkeit haben. Das sind drei Anforderungen, denen das Konzept der Bundesregierung mit dem schönen Titel ?Übergabe in Verantwortung? leider nicht gerecht wird.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Konzept bleibt sehr viele Antworten schuldig. Damit meine ich nicht nur Antworten auf Zwischenfragen, die an den Bundesaußenminister gestellt werden. Ich meine fundamentale Fragen, die wir hier stellen müssen.

Ich zitiere: Mein Eindruck ist, wir werden "von der Regierung im Unklaren gelassen" und nur "in einer Salamitaktik" über die Strategie informiert. Das Zitat stammt vom Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg, 30. Juni 2008, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich kann nur sagen: Er hatte damals recht. Die Situation hat sich bisher aber nicht verändert. Die Konsequenz, die der damalige Abgeordnete gezogen hat, war: Wir brauchen eine Kommission zur Bewertung des Einsatzes in Afghanistan, nicht nur um darzustellen, was schlecht läuft, sondern auch um dazustellen, was gut läuft. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Notwendigkeit einer solchen Kommission gerade mit der Ernennung des neuen Verteidigungsministers endlich Reife erreicht hat. Wir brauchen eine Bewertung. Wir brauchen eine Evaluation dessen, was in Afghanistan passiert. Das schulden wir nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch den Menschen in Afghanistan und der deutschen Öffentlichkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt aber noch mehr Fragen, die wir derzeit nicht klären können. Der Kostenansatz explodiert um nahezu 40 Prozent; es sind 230 Millionen Euro mehr. Ich habe in den letzten Tagen sehr häufig versucht, Herr Minister, aus Ihrem Haus eine schriftliche Begründung für diese Kostenexplosion zu bekommen. Ich habe keine bekommen. Ich finde, das entspricht nicht Ihrem Ansatz von Transparenz. Es ist sehr bedauernswert und nahezu ein Skandal, dass wir im Hohen Hause über einen Ansatz diskutieren, dessen Grundlage fehlt; wir wissen nicht, warum die Kosten so steigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt noch mehr Fragen. Der Entwicklungshilfeminister hat vorgestern verkündet, 52 Millionen Euro mehr für den zivilen Aufbau zur Verfügung zu stellen. Wenn man genau hinschaut, muss man feststellen, dass dieses Geld von der Vorgängerregierung bereits versprochen und beschlossen worden ist. Hier wird uns altes Geld als frisches verkauft; auch das hat mit Transparenz und Ehrlichkeit überhaupt nichts zu tun. Wer so stiefmütterlich mit dem Ansatz für den zivilen Bereich umgeht, legt den Grundstein für eine sichere Niederlagenstrategie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir als Grüne stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan. Genau deswegen fordern wir eine Bewertung und einen längst überfälligen Strategiewechsel. Vor allem fordern wir einen klar formulierten konkreten Zeitplan, der die Perspektive für einen Abzug aufzeigt, zumal die Kanadier und die Niederländer das machen. Das ist nicht unbedingt als großer Erfolg für die Taliban verkauft worden, Herr Minister.

Wir müssen die Worte "Verantwortung" und "Engagement" - sie sind häufig gefallen - endlich mit Sinn füllen. Das müssen wir tun, weil wir es den Menschen schulden: der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, den Soldatinnen und Soldaten, den Polizeiausbildern und zivilen Helfern, vor allem aber den Menschen in Afghanistan.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Holger Haibach ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.

Holger Haibach (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gute Analyse beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Realität. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder hier im Haus die Realität schon betrachtet und richtig erkannt hat.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da fällt mir als Erster Herr Jung ein!)

- Weil Sie ihn gerade ansprechen, würde ich gerne das eine oder andere zu dem, was in dieser Debatte bisher geäußert worden ist, sagen.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hätten Sie doch Herrn Jung überlassen können!)

Wir haben einen großen Teil dieses Vormittags mit der Diskussion über einen Bericht verbracht, den noch keiner von uns gelesen hat.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Aber die Bild-Zeitung offensichtlich schon! Ein bisschen komisch, dass die Bild-Zeitung den kennt und wir nicht!)

Trotzdem sind wir der Meinung, wir könnten schon jetzt unsere Schlüsse daraus ziehen. Ich glaube, dass dies die falsche Betrachtung der Realität ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich finde, wir sollten uns die Dinge erst einmal in aller Ruhe anschauen und dann unsere Schlüsse ziehen.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Wenn es sogar in der Bild-Zeitung steht, wird man darüber doch wohl reden dürfen! - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wollen Franz Josef hören!)

- Sie möchten vielleicht gerne darüber diskutieren. Das hat mit dem ursprünglichen Thema aber nur relativ wenig zu tun.

Zweitens. Herr Schmidt und Herr Nouripour haben die Kanadier dafür gelobt, dass sie eine Kommission eingesetzt haben. Es ist richtig: Die Kanadier haben eine Kommission eingesetzt. Sie haben den Bericht dieser Kommission auch entgegengenommen, aber etwas anderes gemacht. Sie haben ihre Soldaten nämlich entgegen der Empfehlung dieses Berichts länger in Afghanistan gelassen. Insofern kann man die Kanadier hier nicht als gutes Beispiel anführen und sagen: Das kann man auch in Deutschland so machen.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha! Sie machen jetzt keine Kommission und ziehen dafür die Soldaten früher ab - oder was wollen Sie uns damit sagen?)

Eine Kommission bringt nur dann etwas, wenn man auch bereit ist, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswegen finde ich, dass man darüber noch einmal nachdenken muss. Die Kanadier setzen übrigens wieder eine Kommission ein; zumindest ist das geplant. Insofern glaube ich, dass uns eine Strukturdebatte an dieser Stelle nicht weiterhilft.

Ein letzter Punkt. Kollege Gehrcke hat vorhin in seiner Zwischenfrage gesagt, es gehe um die Selbstbestimmung der Afghanen.

(Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ja!)

Das ist völlig richtig,

(Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Oh!)

und das bestreitet hier auch keiner. Aber ausgerechnet Ihre Fraktion ist nicht bereit, den Afghanen die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sagen nämlich: kein Militär, keine Unterstützung und kein Schutz unserer Entwicklungshelfer in Afghanistan. Diese Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, ist die falsche Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Dann fragen Sie mal die Entwicklungshelfer, wie sie das sehen!)

Wir sollten einmal in der Rückschau betrachten, was in Afghanistan bereits erreicht wurde.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?

Holger Haibach (CDU/CSU):

Aber gerne.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Lieber Kollege, ich weiß, dass Sie ein gebildeter und kenntnisreicher Entwicklungspolitiker sind. Trotzdem kann man zu falschen Schlüssen kommen. Meinen Sie, dass der Weg zur Selbstbestimmung bedeutet, dass man den Afghanen dieses Recht erst einmal vorenthält und zensierende Anforderungen an sie stellt? Ich fand das Auftreten des Verteidigungsministers zu Guttenberg in Afghanistan brüskierend für das Volk. Dem Präsidenten, den ich nicht sympathisch finde und dessen rechtliche Grundlage sehr dünn ist,

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Illegitim!)

sind in einer Art und Weise Vorhaltungen gemacht worden, die man nur an den Tag legt, wenn man einen kolonialen Ansatz verfolgt.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen meine Frage: Glauben Sie, dass der Weg zur Selbstbestimmung heute tatsächlich über Militär und die Vorenthaltung der Selbstbestimmung gehen kann?

Holger Haibach (CDU/CSU):

Ich glaube, in Kenntnis des Charakters des Kollegen Guttenberg kann ich den Begriff "kolonial" sofort zurückweisen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

Zu Ihrer Frage, Herr Gehrcke. Es ist völlig unbestreitbar - das wird, wenn man seinen Worten Glauben schenkt, nicht einmal vom afghanischen Präsidenten bestritten -, dass es in der afghanischen Regierung große Defizite gibt, zum Beispiel beim Aufbau eines Rechtsstaates und bei der Korruptionsbekämpfung. Nichts anderes hat der Bundesverteidigungsminister gesagt. Er hat zu Recht deutlich gemacht, dass es darum geht, den Präsidenten hinsichtlich seiner Rede zur Amtseinführung beim Wort zu nehmen. Ich glaube, dass es nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere Pflicht, das zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Noch einmal zurück zu der Frage, was wir für den Wiederaufbau in Afghanistan tun. Ich habe die Äußerungen in den letzten Wochen zu diesem Thema verfolgt. Aber ich finde, sie sind ein wenig einseitig. Deutschland ist mit 1,2 Milliarden Euro der drittgrößte Geber. Es ist nicht so, als würden wir uns unserer Verantwortung an dieser Stelle in irgendeiner Form entziehen. Es ist bei allen Problemen und bei allen Defiziten, die es definitiv gibt, auch nicht so, als hätten wir nichts erreicht. Über unsere Investitionsagentur sind 400 000 neue Arbeitsplätze in Afghanistan geschaffen worden. Von unserer Mikrokreditfinanzierung profitieren 400 000 Haushalte, Handwerker, Händler und Dienstleister; sie haben eine Existenz. 500 000 Schüler können eine Grundschule besuchen. Das alles ist auch das Ergebnis deutscher Entwicklungspolitik. Das muss an dieser Stelle einmal anerkannt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Natürlich wird der Afghanistan-Einsatz in Deutschland kritisch begleitet, und zwar zu Recht. Natürlich stellen sich Fragen. Ist unser Einsatz dort richtig? Ist dieser Einsatz auch gut verzahnt? Über diese wichtige Frage ist schon intensiv diskutiert worden. Das Afghanistan-Mandat der internationalen Gemeinschaft kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir die richtige Zielsetzung haben, wenn wir zivile und militärische Komponenten miteinander verzahnen und wenn wir mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft die richtige Verabredung, was Arbeitsteilung und Burden-Sharing betrifft, finden. Deshalb ist es richtig, keine Vorfestlegung zu machen, wie wir uns verhalten, wenn es eine Afghanistan-Konferenz Ende Januar gegeben haben wird, sondern jetzt das Afghanistan-Mandat zu verlängern und im Januar im Lichte der neuen Beschlüsse unsere Entscheidungen zu treffen. Das müssen wir an dieser Stelle deutlich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dass zur Selbstbestimmung der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen gehört, ist unbestritten. In Meseberg hat das Kabinett unter anderem beschlossen, dass die Zahl der deutschen Polizisten, die zur Ausbildung der afghanischen Polizei herangezogen werden sollen, von 70 auf 200 erhöht werden soll.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist zu wenig!)

Das ist notwendig. Natürlich wissen wir, dass wir noch einiges zu tun haben, wenn wir zu einem Aufbau staatlicher Strukturen kommen wollen. Zum Aufbau staatlicher Strukturen gibt es, wie wir wissen, keine Alternative. Deswegen denke ich, dass wir unsere Rolle dabei spielen müssen.

Wir brauchen an dieser Stelle aber auch den Dialog, den Wiederaufbau, die sichtbare Friedensdividende, wie Herr Niebel es genannt hat. An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Ich bin froh, dass der neue Minister als eine der ersten Maßnahmen verkündet hat, dass er durch Umschichtungen im Haushalt in diesem Jahr 52 Millionen Euro zusätzlich bereitstellt, damit mehr Wiederaufbau, mehr Entwicklungszusammenarbeit geleistet werden kann. Das ist ganz klar ein Zeichen dafür, dass wir erkannt haben, was für Afghanistan notwendig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn man sich die Kritik der Nichtregierungsorganisationen anschaut - diese Woche fand die VENRO-Konferenz statt -, wird man zugestehen, dass man über vieles diskutieren kann. Wer die Presseberichterstattung verfolgt, muss jedoch den Eindruck gewinnen, das alles sei niemals erkannt worden und nichts davon sei Teil deutscher Politik. Ich will ein Beispiel anführen. Wir müssen uns intensiv Gedanken darüber machen, wie wir nicht nur in den Städten und in den Gegenden rund um unsere PRTs Sicherheit schaffen und beim Wiederaufbau vorankommen, sondern auch in den ländlichen Räumen. Da ist Deutschland durchaus Vorreiter. Nehmen wir das Konzept der Provincial Development Funds. Da sitzen Afghanen, zivile Entwicklungshelfer und Militärs an einem Tisch und entscheiden gleichberechtigt darüber, wie beträchtliche Mengen an Geld zur Stärkung ländlicher Regionen verteilt werden. Das kommt in der Öffentlichkeit kaum zur Sprache; man hört immer nur Kritik. Mit diesem Konzept hat Deutschland aber eine Vorreiterrolle eingenommen; denn bisher gibt es kaum ein anderes Land, das in Afghanistan ebenfalls diese Politik verfolgt.

Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es notwendig ist, insbesondere drei entwicklungspolitische Ziele zu sehen.

Erstens. Wir müssen die Kapazitäten auf der afghanischen Seite ausbauen; dazu habe ich etwas gesagt. Das bedeutet, dass wir die größeren finanziellen Mittel, die uns jetzt zur Verfügung stehen, in den staatlichen Aufbau, in die Bildung und natürlich auch in den Aufbau entsprechender Sicherheitsstrukturen, einer Rechtsstaatlichkeit stecken.

Zweitens. Wir müssen die internationale Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung stärken. Ich denke, dass auf der Konferenz in London Ende Januar nächsten Jahres dafür gesorgt werden kann, dass dies geschieht.

Drittens. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen, dass die Mittel noch unmittelbarer bei der Bevölkerung ankommen. Es gibt einen dicken Bericht darüber, wie die internationale Gemeinschaft, wie das internationale Engagement in Afghanistan gesehen wird. Es ist vollkommen klar: Wenn die Bürgerinnen und Bürger, die Menschen in Afghanistan das Gefühl haben, dass die Hilfe bei ihnen ankommt, dann steigt auch die Akzeptanz und dann ist es möglich, mit dem Wiederaufbau nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen zu erreichen. Ich glaube, das muss unser entscheidendes Ziel sein.

Dazu gehört am Ende auch, dass wir uns im internationalen Bereich über den regionalen Ansatz einig werden. Pakistan ist von einer ganz entscheidenden Bedeutung für Afghanistan; denn wenn es dort zu einer instabilen Lage kommt, wird es sehr schwierig. Das betrifft aber auch viele andere Staaten wie China, Indien, den Iran und die zentralasiatischen Staaten. All das muss in unserer Entwicklungszusammenarbeit auch eine Rolle spielen.

Fazit ist: Ich glaube, wir haben eine gute Strategie, mit der wir weiter gut voranschreiten können. Wir müssen unsere Entscheidungen im Lichte der Konferenz von London betrachten. Wenn wir das machen, dann, so glaube ich, können wir trotz der schwierigen Lage in Afghanistan am Ende auch Erfolg haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Karin Evers-Meyer (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unterstützen den ISAF-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Dieser Einsatz ist richtig und notwendig; denn ein sicheres Afghanistan liegt im deutschen Interesse und im Interesse der Menschen dort.

Für den Einsatz unserer Armee ist das Parlament verantwortlich; ich betone das heute ganz besonders. Herr Minister zu Guttenberg, deswegen haben Sie mit der Zuweisung der Verantwortung an Herrn Staatssekretär Wichert und den Generalinspekteur Schneiderhan zwar schnell, unserer Meinung nach aber längst nicht ausreichend gehandelt. Es geht hier um politische Verantwortung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie, Herr Minister zu Guttenberg, haben die tragischen Ereignisse in dieser Nacht, den Bombenabwurf auf zwei Tanklaster und die Menschenmenge, noch bis gestern als angemessen bezeichnet, und der frühere Verteidigungsminister Jung hat nach Presseberichten sowohl das Parlament als auch die Staatsanwaltschaft nicht korrekt informiert. In diesem Zusammenhang haben wir heute mit besonderem Interesse verfolgt, wie er von der Regierungsbank daran gehindert wurde, an das Rednerpult zu treten. Wenn das, was wir gerade gehört haben, wirklich richtig ist, dass er nämlich im Anschluss an die Parlamentssitzung bei Phoenix zu diesem Thema Stellung nimmt, dann halten wir das für eine Respektlosigkeit ohnegleichen dem Parlament gegenüber.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Jung, ich fordere Sie hier in aller Ernsthaftigkeit auf, hier vor dem Parlament Stellung zu nehmen und nicht zuerst vor den Medien.

Nun zurück zu unserem Thema. An der Begründung für den deutschen Afghanistan-Einsatz hat sich nichts geändert. Ich muss sagen: Leider hat sich daran noch nichts geändert, weil die Lage in Afghanistan eben nicht so stabil ist, wie wir uns das wünschen. Wir wollen einen Rückfall Afghanistans in die Zeiten des Bürgerkriegs und in die Zeiten der Talibanherrschaft verhindern. Deswegen sind deutsche Soldaten in Afghanistan und leisten dort anspruchsvolle Arbeit - eben auch unter Einsatz ihres Lebens. Sie unterstützen vor Ort die internationalen Bemühungen und die Bemühungen Afghanistans zur Stabilisierung des Landes. Dieses Ziel - ein stabiles Afghanistan für die Menschen Afghanistans - ist und bleibt richtig.

Aber ohne die Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten wird dieses Ziel in weite Ferne rücken, nicht zuletzt deshalb, weil unser Einsatz auch die afghanische Regierung und die internationalen Partner auffordert, aktiver beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Frage, wie lange dieser Einsatz noch dauert, noch länger unbeantwortet lassen können. Es ist sogar höchste Zeit, dass wir uns über die zeitliche Perspektive dieses Einsatzes verständigen. Das erwartet nicht nur die deutsche Öffentlichkeit von uns; das schulden wir vor allen Dingen auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken.

Am Ende unseres Einsatzes muss die Regierung in Afghanistan selbst in der Lage sein, Verantwortung für die Sicherheit im Land zu übernehmen. Damit das gelingt, müssen wir Afghanistan eine klare Perspektive geben: Auch Afghanistan braucht einen Zeitplan und damit eine konkrete Zielvorgabe, eine Perspektive für die Entwicklung des Landes, eine Perspektive für das internationale Engagement und vor allem auch eine Perspektive für die Soldatinnen und Soldaten, die uns zu Recht immer häufiger fragen, wie lange der Einsatz in Afghanistan wohl dauern wird. Deswegen muss jetzt im Interesse Afghanistans und in unserem Interesse die Grundlage für einen durchdachten Abzug geschaffen werden.

Die Zeit dafür ist doppelt günstig. Nach den Präsidentschaftswahlen gibt es jetzt Gelegenheit, Defizite beim Wiederaufbau offen anzusprechen. Hinzu kommt, dass der aktuelle Afghanistan-Compact im nächsten Jahr ausläuft. Das können wir nutzen, um auch unserem Engagement in Afghanistan eine neue Perspektive zu geben.

Was die SPD-Fraktion will, ist ein verbindlicher Fahrplan, der gemeinsam mit der afghanischen Regierung und unseren internationalen Partnern erarbeitet wird. Am Ende des Fahrplans muss stehen, dass die Afghanen alleine für die Sicherheit ihres Landes sorgen können. Das Ziel ist ambitioniert, aber wir sollten den Anspruch haben, dieses Ziel zu erreichen. In den vergangenen Jahren gab es Fortschritte bei der Zusammenarbeit mit den afghanischen Sicherheitskräften. An 90 Prozent aller ISAF-Einsätze sind mittlerweile afghanische Armeeeinheiten beteiligt. Das ist ein Fortschritt. Ich weiß aber, dass zur Wahrheit auch gehört, dass nur knapp die Hälfte der afghanischen Bataillone in der Lage ist, auch eigenständige Operationen durchzuführen. Das macht deutlich: Wir bewegen etwas, aber wir können und müssen noch etwas mehr tun, insbesondere in Sachen militärischer und polizeilicher Ausbildung.

Deswegen fordern wir von der Bundesregierung heute verlässliche Aussagen darüber, mit welchen Zielen sie in die Gespräche mit der afghanischen Regierung geht. Wir fordern klare Konzepte und deutliche Forderungen in Richtung Afghanistan-Konferenz. Das ist die Voraussetzung dafür, dass konkrete Ziele vereinbart werden können. Das Gleiche gilt für den neuen Afghanistan-Compact. Das Engagement der internationalen Partner muss mehr als bisher zielgerichtet koordiniert werden. Der neue Pakt muss tragfähige Ziele für den Aufbau des Landes benennen, und dazu gehört eben auch ein konkreter Zeitplan.

Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, sich noch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei zu bemühen. Sicherlich können wir die Wirkung unseres Engagements noch erhöhen, wenn wir uns mehr auf Brennpunkte konzentrieren und die Zusammenarbeit mit den zivilen Helfern und Organisationen weiter ausbauen. Ich erinnere daran: Die Grundlage des ISAF-Einsatzes ist ?Keine Sicherheit ohne Aufbau und kein Aufbau ohne Sicherheit?. Das muss heute mehr gelten denn je.

Es liegt jetzt an der Bundesregierung, ein entsprechend klares Konzept vorzulegen. Ein klares "Weiter so wie bisher!" reicht einmal mehr nicht aus.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung Herrn Kollegen Oppermann.

Thomas Oppermann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsminister hat heute Morgen hier erklärt, dass er uns als Parlament direkt darüber informiert, dass der Generalinspekteur militärisch Verantwortung übernommen hat und dass der Staatssekretär administrativ Verantwortung übernommen hat. Uns wurde aber nicht erklärt, wer die politische Verantwortung trägt.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr richtig!)

Der amtierende Verteidigungsminister war noch nicht zuständig, als sich die Luftangriffe in Afghanistan ereigneten. Aber der damals zuständige und verantwortliche Minister ist heute hier im Plenum. Wenn wir jetzt hören, dass ein Interview mit dem Verteidigungsminister a. D. Jung bei Phoenix bevorsteht, dann finde ich, dass das Parlament den Anspruch und das Recht hat, vorher persönlich Herrn Jung zu hören.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Herr Jung als nicht mehr zuständiger Minister hier nicht reden darf, dann muss allerdings jemand anderes die politische Verantwortung übernehmen und über die politische Verantwortung reden. Wenn Herr Jung es nicht tun kann, dann kann es nur die Person tun, die damals im Amt war und heute im Amt ist; das ist die Bundeskanzlerin.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU): Ein bisschen billig, Herr Oppermann!)

Ich beantrage zunächst, dass der Informationsanspruch des Parlamentes dadurch erfüllt wird, dass jetzt Verteidigungsminister a. D. Jung das Wort erhält.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau! Das wird auch über Phoenix übertragen!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat der Kollege Altmaier.

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es handelt sich bei den Vorwürfen, über die wir heute Morgen diskutiert haben, um einen ernsten Vorfall. Der Bundesminister der Verteidigung hat in angemessener, umfassender und klarer Weise dem Parlament Rechenschaft darüber abgelegt. Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion dafür ganz herzlich bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde es, Herr Kollege Oppermann, mit Verlaub gesagt, der Situation nicht angemessen, wenn Sie versuchen, bei der Ernsthaftigkeit dieses Themas mit Geschäftsordnungsanträgen und mit Vorwürfen, die durch nichts begründet sind,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was?)

eine Debatte, die in angemessener Art und Weise geführt worden ist, für parteipolitische Zwecke auszuschlachten.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch ungeheuerlich!)

Mir ist nicht bekannt, dass der Bundesminister für Arbeit und Soziales in nächster Zeit ein Phoenix-Interview geben wird.

(Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fragen Sie ihn doch einmal!)

Mir ist auch kein Argument bekannt, das dafür spricht, Ihrem Geschäftsordnungsantrag zuzustimmen.

Deshalb beantragen wir, diesen Geschäftsordnungsantrag abzulehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir können das Parlament ja nach Hause schicken! Machen wir alles über Phoenix!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Antrag zur Geschäftsordnung gestellt worden. Eine Gegenrede ist ermöglicht worden. Es besteht nach unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, darüber abzustimmen.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Weitere Reden!)

- Nicht zwingend.

Ich verweise auf § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung:

Der Präsident kann die Worterteilung bei Geschäftsordnungsanträgen, denen entsprochen werden muss ..., auf den Antragsteller, bei anderen Anträgen auf einen Sprecher jeder Fraktion beschränken.

(Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Jeder Fraktion!)

Ich hätte also die Worterteilung auf den Antragsteller beschränken können. Ich habe aber mehr zugelassen.

(Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, nein! - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Es gab schon eine Gegenrede! Das kann doch nicht sein! - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen Sie die Fraktionen doch reden!)

- Der Präsident entscheidet. Ich entscheide so, weil es in der Sache nicht mehr bringt, sondern nur die Zeit verlängert.

Ich bitte deshalb jetzt um Abstimmung.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Ich habe einen Geschäftsordnungsantrag!)

- Die Kollegin will einen weiteren Geschäftsordnungsantrag stellen. Wir sind aber in der Abstimmung über den vorliegenden Geschäftsordnungsantrag.

Der Kollege Oppermann hat einen Geschäftsordnungsantrag gestellt, und über diesen Antrag lasse ich abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! -

(Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Weniger! - Zurufe von der SPD: Wir haben die Mehrheit!)

Wir sind uns nicht einig. Deshalb muss ausgezählt werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen. - Darf ich darum bitten, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die nicht Schriftführer sind, den Saal definitiv verlassen? - Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze an den Türen einzunehmen. Darf ich um ein Zeichen bitten, ob die Schriftführer ihre Plätze eingenommen haben? - Ja, das ist der Fall.

Der Saal ist derzeit leer. Ich weise noch einmal darauf hin, dass wir über den Geschäftsordnungsantrag der SPD-Fraktion abstimmen. Ich bitte nun, mit dem Auszählen zu beginnen.

Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die zunächst vor der Tür standen, im Saal? - Dann bitte ich Sie, Platz zu nehmen. Die Auszählung ist geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag bekannt: Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 293 Abgeordnete, Enthaltung keine.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE), an CDU/CSU und FDP gewandt: Das ist kein Grund für Beifall!)

Der Geschäftsordnungsantrag ist damit abgelehnt.

Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag hat Herr Bundesminister Jung angeboten, eine Stellungnahme abzugeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister, bitte.

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeit und Soziales:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen, dass ich es gerade in dieser wichtigen und ernsten Debatte für notwendig erachte, dass Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit die Grundlage sind für Vertrauen und dass dies auch und gerade für mich im Hinblick auf die Information für das Parlament gilt.

(Zurufe von der SPD und der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU), an SPD und LINKE gewandt: Seien Sie ruhig!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte allerdings Folgendes erbitten: Sie haben von diesen Vorwürfen, von diesen Berichterstattungen und von dem gesprochen, was hier alles im Einzelnen behauptet worden ist. Ich möchte die Chance haben, diese Unterlagen zu überprüfen, auch den Sachverhalt zu überprüfen, um dann korrekt Ihnen gegenüber, vor dem Parlament, Stellung nehmen zu können, und zwar im Laufe des heutigen Tages. Dies halte ich für ein sachgerechtes Vorgehen. Ich bitte diesbezüglich um Ihre entsprechende Zustimmung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 17/39 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Quelle: Website des Deutschen Bundestags; http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/vorlaeufig/17007.html


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