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Mast- und Knochenbruch

Auf der "Gorch Fock" werden echte Kerle geformt – sogar aus Frauen

Von René Heilig *

Nach dem Tod der 25-jährigen Soldatin Sarah Lena Seele, die am 7. November 2010 im Hafen von Salvador da Bahia in Brasilien 27 Meter tief aus der Takelage des Schulschiffes »Gorch Fock« gefallen ist, schlagen die Wogen hoch. Doch nicht hoch genug, um jene zu erreichen, die Schuld daran tragen, dass der Segler unter Bundeswehrflagge zum Seelenverkäufer mutierte.

Nimmt man einmal den speziellen Untergang von U-Hai am 14. September 1966 aus der Statistik heraus, dann wird klar: Kein Schiff der Deutschen Marine ist so gefährlich wie die zur Bark getakelte »Gorch Fock«. In den 52 Jahren ihres Dienstes starben sechs Besatzungsmitglieder, vier allein in den vergangenen zwölf Jahren.

Ein Zufall? Experten bezweifeln das und bedenken nicht nur die Schiffsführung unter Kapitän Norbert Schatz mit Schuldzuweisungen. Einige sprechen vom »Macho- oder Angeber-Segler« und bezweifeln, dass die moderne Bundesmarine ihren fahrenden Nachwuchs wirklich nach Art des 18. Jahrhunderts ausbilden muss. Soll doch das Auswärtige Amt das Schiff betreiben, das in jedem fremden Hafen zum diplomatischen Party-Parkett erhoben wird. Über diese Kritik hat auch schon der Wehrbeauftragte des Bundestages nachgedacht.

Doch noch liegt die Verantwortung für die »Gorch Fock« beim Verteidigungsministerium und dem Marineamt. Von dort ist zu hören, dass man alles genau untersuchen wird. Voreiligkeit sei dabei nicht hilfreich. Man hört auch, dass die Sicherheitsvorschriften in den vergangenen Jahren immer wieder verschärft worden sind und dass sich die an Deck Verantwortlichen sehr genau anschauen, wen sie in die Takelage schicken. Doch, so sagt Immo von Schnurbein, der die »Gorch Fock« von 1986 bis 1992 als Kapitän geführt hat: Befehl ist Befehl. Wenn »einer dennoch nicht mag, dann wird’s schwierig«.

Sarah Seele wollte nicht mehr hinauf in die Wanten, sagte das wohl auch einem Vorgesetzten. Doch so ein Nein nennt man Gehorsamsverweigerung und jeder, der seine Karriere bei der Marine machen will, überlegt genau, was er tut. Aus Sicht der Kieler Staatsanwaltschaft liegt kein Hinweis »auf eine strafrechtliche Nötigungshandlung« vor. Logisch.

Unfug, sagt auch die Marine zu solchem Verdacht. Die Stammmannschaft des Ausbildungsseglers wehrt sich gegen mediale Verurteilungen. Sie protestierte sogar öffentlich gegen die Beurlaubung des Kommandanten. »Ein Kommandant, eine Besatzung, ein Kapitän« – wer etwas anderes sagt, ist ein Kameradenschwein.

Die Männer seien »zum Teil einfach strukturiert«, die machen »schon mal einen chauvinistischen Spruch«, aber sie haben »das Herz auf dem richtigen Fleck«. Der das sagt, ist ein verantwortungsbewusster Mann. Dr. Andreas Weskott heißt er, ist Chefarzt an einem Berliner Krankenhauses und fuhr als Reserveoffizier jüngst einen Törn auf der »Gorch Fock«. Er schwärmt davon, dass man in 45 Metern Höhe über dem Deck die Erdkrümmung sehen kann und ist überzeugt, dass es eine Reihe sehr strenger Tests gibt, bevor man so hoch hinaus darf. »Wer diese nicht erfolgreich absolviert, kommt nicht als Offiziersanwärter an Bord«, glaubt der Chirurg, der sich als Bordarzt natürlich auf Kollegen verlässt, die die Rekruten zur Offiziersausbildung zugelassen haben.

Wie aber kann es dann sein, dass es so gravierende Zweifel an der Diensttauglichkeit der im vergangenen Herbst zu Tode gekommene jungen Frau gibt? Intern soll die Marine davon ausgehen, dass die Offiziersanwärterin »auf Grund ihres Körpergewichts am Unfalltag nicht borddienstverwendungsfähig gewesen« sei. Bei ihrer Obduktion habe man ein Gewicht festgestellt, »welches in Relation zur Körpergröße eine Borddienstverwendungsfähigkeit ausgeschlossen hätte«. 83 Kilogramm Körpergewicht bei 1,58 Metern Körpergröße – ein ungutes Verhältnis. Es wird aber von oberster Marinestelle bestätigt und es gibt Gerüchte, dass es durch eine »intensivmedizinische Behandlung« entstanden sei. Der Anwalt der Familie behauptet dagegen, Sarah Seele habe maximal 62 Kilo gewogen. Staatsanwalt – was stimmt? **

Der sogenannte Body Mass Index, kurz BMI, berechnet das Gewicht im Verhältnis zur Größe. Männer haben in der Regel einen höheren Anteil von Muskelmasse an der Gesamtkörpermasse als Frauen. Deshalb sind die Unter- und Obergrenzen der BMI-Werte bei Männern etwas höher als bei Frauen. Als Faustregel kann man sagen: 20 bis 25 ist bei jungen Männern und 19 bis 24 bei jungen Frauen ist in Ordnung. Sarah Seele hatte – so der Obduktionsbericht stimmt – einen BMI zwischen 33 und 34, das wäre deutlich über dem Normalbereich. Nur zwei Prozent der weiblichen Offiziersbewerber weisen Übergewicht auf.

Die Soldatin Seele hatte nur eine Borddienstverwendungsfähigkeit für die Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern«. Das ist jenes Kriegsschiff, das im März 2002 eine Ausnahmegenehmigung hatte, laut der es ohne funktionierendes Rettungsgerät an einer NATO-Übung teilnehmen durfte. Zwei Besatzungsmitglieder sind dabei ertrunken. Der Fall wurde zugunsten der Marine untersucht. Auch von der Staatsanwaltschaft in Kiel.

Die ist jetzt wieder zuständig und sollte sich nicht abermals auf interessengesteuerte Berichte der Marine verlassen. Auch den Kapitän oder weitere Mitglieder der Schiffsführung »Kiel zu holen«, wäre zu einfach. Die Ermittler sollten ein Bahnticket Kiel-Köln kaufen und sich im OPZ umsehen. OPZ bedeutet: Offiziersbewerberprüfzentrum. Jeder, der beim Bund Sterne oder Ärmelstreifen tragen will, muss vor der Ausbildung hier seine Tauglichkeit unter Beweis stellen.

Zu oft schon wurde der Begriff »Kölscher Klüngel« benutzt, wenn es am Rhein um die Verantwortung für einen öffentlich gewordenen Missstand ging. Ist er beim OPZ ebenfalls angebracht, trug mangelnde ärztliche Qualifikation dazu bei, dass ungeeignete Bewerber auch an Bord der »Gorch Fock« kamen? Den Vorwurf gibt es, sogar fachlich gestützt. Und durch Material aus der OPZ selbst.

Um die Eignung von Bewerbern zu erkennen, bedarf es fachärztlicher Kompetenz. Doch am OPZ gibt es nur einen Facharzt für Urologie. Die anderen fünf Stellen im Dezernat Ärztlicher Fachdienst sind offenkundig bis hoch zur Chefin mit Personen besetzt, die keine fachspezifische Aus- und keine entsprechende klinische Weiterbildung haben. Frisch von der Uni ab zur Bundeswehr. Motto: Dafür wird es schon langen. Oder? Obwohl nach der Qualifikation auf der untersten Stufe stehend, bezahlt man die Mediziner dennoch fürstlich: zumeist mit der Besoldungsstufe A15. Die Betreffenden bezeichnen sich wohlweislich nicht als Internist oder Orthopäde, man erdachte Bezeichnungen wie »Allgemeinmediziner H mit intern. oder orth. Schwerpunkt«.

Doch gerade bei der Einstellung von Führungskräften sollte Gründlichkeit gefordert sein. Pro Jahr durchlaufen etwa 6000 Bewerber die Prüfzentrale der Bundeswehr. 40 Prozent, das sind also 2400, brauchen laut OPZ eine fachärztliche Untersuchung. Die Hälfte dieser notwendigen fachärztlichen Untersuchungen werden im OPZ selbst gemacht. Da davon auszugehen ist, dass diese 1200 Bewerber nicht alle zum vorhandenen Facharzt für Urologie müssen, bleibt der Verdacht, dass viele bei Nicht-Fachärzten fachärztlich begutachtet werden. Diese Vorwürfe sind seit langem auch im Verteidigungsministerium bekannt. Dort sieht man offenbar keinen Handlungsbedarf.

Die Bundeswehr hat zudem offenbar die Lizenz, physiologische Gegebenheiten zu ignorieren. Dass immer weniger Bewerber sportlich topp sind, verheimlicht das Militär nicht. Soldatsein ist kein Zuckerschlecken. In einem Forschungsprojekt haben deutsche Militärmediziner herausgefunden, dass man zum Transport einer 75 Kilogramm schweren Person auf einer Trage pro Trageholm eine Greifkraft von 330 Newton braucht. Bereits ein einmaliger Transport kann zu einem länger anhaltendem Kraftdefizit führen. »Bis zu 72 Stunden vergingen, bevor die Testpersonen wieder ihr ursprüngliches Kraftniveau erreichten«, liest man in der Wehrmedizinischen Monatsschrift Heft 11-12/2010. Und nun stelle man sich die kleine und offenbar nicht borddiensttaugliche Sarah Seele vor, wie sie mehrmals in kurzen Abständen in die Takelage der »Gorch Fock« aufentern muss.

Damit nicht genug. »Insbesondere mit Blick auf den politisch vorgegebenen Frauenanteil (50 Prozent) im Sanitätsdienst lieferten Reihenuntersuchungen von über 2000 Männern und Frauen im Alter von 20 bis 25 Jahren ein weiteres brisantes Ergebnis: Es konnte wissenschaftlich valide belegt werden, dass etwa 60 Prozent der jungen und gesunden Frauen aufgrund zu geringer Greifkraft nicht in der Lage sind, diese einsatzrelevaten Aufgaben erfolgreich auszuführen.« Um ganz sicher zu gehen, hat man sogar Spitzenathletinnen aus dem Bereich Judo und Handball getestet. Das Ergebnis blieb das selbe. Wer zweifelt, sollte den Verfasser des wehrmedizinischen Artikels direkt befragen. Der ist Facharzt, Prof. Dr. med, Dr. Sportwiss. Dieter Leyk vom Zentralen Institut des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Koblenz.

Auch ohne Mediziner zu sein, liegt jenseits jeder Diskriminierung der Schluss nahe: Frauen sind im Allgemeinen nicht geeignet, um in gleicher Weise wie ihre männlichen Kameraden in der Takelage von Schiffen zu arbeiten oder im Sanitätsdienst Verletzte zu bergen. So gesehen war Jenny Böken doppelt ungeeignet. Die junge Frau fuhr wie Sarah Seele auf der »Gorch Fock«. Sie wollte Sanitätsoffizier bei der Marine werden. Kurz vor ihrem 19. Geburtstag ging sie am 3. September 2008 während ihrer Nachtwache über Bord. Bei ruhiger See. Das Schiff lag mit einer Neigung von 20 Grad im Wind. Jenny Böken hätte also bergauf laufen müssen, um steuerbords über die Reling zu fallen, die der Frau bis zu Brust reichte.

Die Fülle von Ungereimtheiten trieben weder Marine noch Staatsanwälte zu gründlicher Nachforschung. Und auch jetzt scheint es, als müsste man die Ermittler zur vorurteilslosen Arbeit zwingen.

Die Deutsche Marine im Einsatz

  • Die Deutsche Marine wurde 1956, damals noch als Bundesmarine, aufgestellt. Sie ist mit derzeit 19 000 Angehörigen die kleinste Teilstreitkraft. Doch sie ist weltweit präsent unter anderem bei
  • Active Endeavour: Nach den Anschlägen des 11. 9. 2001 beschloss der NATO-Rat zum ersten Mal das Inkrafttreten des Bündnisfalls. Dazu gehört die Operation im Mittelmeer.
  • UNIFIL: Seit September 2006 hat die Bundeswehr Marinesoldaten zur Absicherung der libanesischen Grenze entsandt. Angeblich soll Waffenschmuggel verhindert werden. Bislang wurde kein einziger Fall bekannt.
  • Atalanta: Die EU begann Ende 2008 am Horn von Afrika eine Anti-Piraterie-Mission. Deutschland beteiligt sich mit bis zu 1400 Mann.
  • Ausbildungsfahrten: Die Deutsche Marine beteiligt sich alljährlich an zahlreiche Manövern rund um den Erdball.
Die »Gorch Fock«

Das 1958 gebaute Schiff ist weitgehend baugleich mit der 1933 in Dienst gestellten »Gorch Fock«. Benannt sind die Schiffe nach dem Pseudonym des deutschen Schriftstellers Johann Wilhelm Kinau. In der Seeschlacht am Skagerrak ging er 1916 mit dem Kreuzer SMS »Wiesbaden« unter. Seine Werke, darunter der Roman »Seefahrt in Not«, wurden von den Nazis zur Kriegsverherrlichung genutzt



* Aus: Neues Deutschland, 11. Februar 2011

** Neueste Meldung zum Körpergewicht der verunglückten Sarah Seele

Das Rätsel um das Körpergewicht der am 7. November vergangenen Jahres auf dem Segelschulschiff "Gorch Fock" tödlich verunglückten Seekadettin Sarah Lena Seele scheint gelöst zu sein, meldete am 10.Februar die Nachrichtenagentur dapd. Die Leiche von Sarah Lena wurde im Krankenhaus der brasilianischen Hafenstadt Salvador da Bahiamit mit 20 Kilo Formaldehyd versehen. Damit werden Leichen präpariert. Diese Präparierung hätten die brasilianischen Ärzte vorgenommen, um die Leiche für den Flug in die Heimat transportfähig zu machen. Das Flugzeug habe nämlich über keine Tiefkühleinrichtung verfügt. Marineinspekteur Axel Schimpf hatte am 9. Feb. im Verteidigungsausschuss erklärt, er wisse nicht, wie die Meldungen zustande gekommen sind, wonach die Kadettin bei einer Größe von 1,58 Meter 83 Kilo und damit Übergewicht gehabt haben soll und deswegen dienstuntauglich für den Dienst auf der "Gorch Fock" gewesen sei.
Die Mutter der 25-jährigen Soldatin hatte immer wieder behauptet, ihre Tochter habe vor Dienstantritt auf keinen Fall mehr als 60 Kilo gewogen. Schimpf hatte als Obduktionsergebnis der Leiche 83 Kilo genannt.

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