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Gretchen-Frage

Frieden muss gestiftet werden - gerade gegen Rechtsbrecher

Von Jürgen Rose

Auslöser unserer Freitag-Debatte war in der Ausgabe 39/05 ein Text des Völkerrechtlers Norman Paech, der sich gegen die These von Ex-Verteidigungsminister Struck (SPD) verwahrte, wonach Deutschland "auch am Hindukusch verteidigt" werde, und die Bundeswehr weltweit einsatzfähig sein müsse. Diese Selbstermächtigung zur Intervention wertete Paech als Verstoß gegen das Grundgesetz wie auch gegen das Gewaltverbot der UN-Charta. - In einer Replik verwies Torsten Wöhlert im Freitag 43/05 ausdrücklich auf das UN-Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Paech und der Linkspartei warf er vor, mit ihrem Nein auch zu solchen Auslandseinsätzen quasi das Gewaltmonopol der UNO abzulehnen. Wenn ein Völkermord wie in Ruanda nur noch durch UN-Truppen zu verhindern sei, könne die Linke nicht sagen: "Aber keine deutschen Soldaten."

Wolfgang Gehrcke (MdB/Linkspartei) hielt im Freitag 46/05 dagegen, eine Linke könne heute nur eine Antikriegslinke sein. Sie dürfe nicht dazu beitragen, "dass Gewalt und Krieg wieder zum Mittel der Politik werden". Das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates heiße nichts anderes, "als dass kein Staat es stattdessen für sich in Anspruch nehmen kann". Wir setzen die Diskussion mit Beiträgen von Jürgen Rose und noch einmal Torsten Wöhlert fort.

Die im Freitag entfachte Debatte kreist nicht zuletzt um die pazifistische Programmatik der Linken oder - anders formuliert - um die sicherheitspolitische Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Fortsetzung von Politik mit anderen - sprich: militärischen - Mitteln?

Jede Antwort hierauf muss sowohl die Legalität wie auch die Legitimität militärischer Gewaltanwendung berücksichtigen. Bezogen auf die Bundesrepublik sind daher zwei Fragen zu klären. Auf welcher völker- und verfassungsrechtlichen Grundlage operiert die Bundeswehr - wofür darf sie eingesetzt werden? Und: Welchen Interessen und Werten dient diese Armee, wofür also soll sie, wenn überhaupt, eingesetzt werden? Grundsätzlich gilt, dass nicht alles, was rechtlich erlaubt sein mag, auch politisch sinnvoll und zweckmäßig sein muss. Umgekehrt stellt die rechtliche Zulässigkeit die Conditio sine qua non für jegliche Politik dar, ganz im Sinne Immanuel Kants, der 1798 im Streit der Fakultäten schrieb: "Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepaßt werden".

Norman Paech zieht insofern den rechtlichen Aktionsradius der Bundeswehr zu eng. Er schreibt, "bereits das Grundgesetz widerspricht einem weltweiten Einsatz der Bundeswehr". Schließlich definiere Art. 115a den "Verteidigungsfall" eindeutig als Folge eines Angriffs auf das Bundesgebiet, zudem nähme Art. 26 GG das absolute Verbot von Angriffskriegen aus der UN-Charta auf.

Letzteres trifft zweifellos zu - und ist dennoch zu kurz gegriffen. Getreu althergebrachter Juristenweisheit erleichtert neben dem Blick ins Gesetzbuch auch die Kenntnis höchstrichterlicher Rechtsprechung die Rechtsfindung ungemein. Zwei solchen Urteilen kommt - mit Blick auf die Auslandseinsätze - elementare Bedeutung zu. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 entschieden: "Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtlicher Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund ›Streitkräfte zur Verteidigung‹ auf; nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte ›außer zur Verteidigung‹ nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der ›Verteidigung‹ und des ›Einsatzes‹ auszulegen sind, und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte ›nach innen‹ regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung".

Die damals ausdrücklich offen gelassene Interpretationslücke, wie denn nun der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes nach Art. 87a genau zu verstehen sei, hat (bislang kaum beachtet) das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil vom 21. Juni 2005 in der Sache Major Pfaff eindeutig gefüllt. Die Leipziger Richter stellen zur Reichweite des Verteidigungsbegriffs im Grundgesetz fest: "Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von ›Verteidigung‹, jedoch - anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung - nicht von ›Landesverteidigung‹ spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass ›Verteidigung‹ alles das umfassen soll, was nach dem geltenden Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen ... zu rechnen ist." - Höchstrichterlich widerlegt ist hiermit der mitunter gepflegte Mythos, das Grundgesetz begrenze den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung des Territoriums der Bundesrepublik sowie des NATO-Vertragsgebiets.

Stattdessen stellen die Bundesverwaltungsrichter klar, dass der Verteidigungsbegriff im Grunde genommen schon immer, spätestens aber seit dem UN-Beitritt der BRD im Jahr 1973, alle Maßnahmen umfasst, die nach der UN-Charta erlaubt sind. Aber eben auch einzig und ausschließlich jene, wie der Wehrdienstsenat im selben Atemzug ausführt. Denn "Art. 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das - auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte - Recht zur ›individuellen‹ und zur ›kollektiven Selbstverteidigung‹ gegen einen ›bewaffneten Angriff‹, wobei das Recht zur ›kollektiven Selbstverteidigung‹ den Einsatz von militärischer Gewalt - über den Verteidigungsbegriff des Art. 115a GG hinausgehend - auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z. B. ›Bündnisfall‹). Der Einsatz der Bundeswehr ›zur Verteidigung‹ ist mithin stets nur als Abwehr gegen einen ›militärischen Angriff‹ (... nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt, jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen".

Wofür die Bundeswehr eingesetzt werden darf, liegt demnach klar zutage: einerseits zur Verteidigung auf Grundlage von Art. 87a GG und Art. 51 UN-Charta, andererseits zu Einsätzen im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems gemäß Art. 24 GG und den Kapiteln VI und VII der UN-Charta.

Damit ist freilich nur die notwendige (rechtliche) Bedingung des Gebrauchs militärischer Macht geklärt, nicht aber die hinreichende, die politische. Das übergeordnete Ziel jeder vernunftgemäßen Sicherheitspolitik kann nur lauten, alles zu tun, was einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen Vorschub leistet und zugleich alles zu unterlassen, was diese behindert.

Daher springt Wolfgang Gehrcke argumentativ zu kurz, wenn er sagt: "Die Linke ist heute eine Antikriegslinke - oder sie ist nicht links." Denn den archimedischen Punkt einer linken Position bildet die Verpflichtung auf das Völkerrecht. Daraus erst folgt - auf Grund des völkerrechtlich verankerten Gewaltverbots nämlich - die Ablehnung von Krieg als eines Mittels der Politik, um beliebige Interessen nach Gutdünken durchzusetzen. Zugleich aber resultiert aus der völkerrechtlichen Fundierung die Pflicht, an der Verrechtlichung des internationalen Systems aktiv mitzuwirken - in vollem Umfang, wie es die UN-Charta vorsieht. Demzufolge hat bei ihrem UN-Beitritt die Bundesrepublik (und notabene auch die DDR) vorbehaltlos alle aus der Charta erwachsenden Verpflichtungen akzeptiert und sich mit Signatur der Beitrittsurkunde "feierlich verpflichtet", diese zu erfüllen.

Nun enthält die UN-Satzung bekanntlich ein Kapitel VII, das in 13 Artikeln akribisch regelt, welche "Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen" der UN-Sicherheitsrat ergreifen darf, um die internationale Sicherheit zu garantieren. Zugleich stellt die Charta dem Sicherheitsrat als der einzigen vom Völkerrecht zum Gebrauch militärischer Gewalt legitimierten Autorität ein umfangreiches militärisches Arsenal zur Verfügung, um notfalls gegen Völkerrechts(ver)brecher vorzugehen. Ohne Recht aber kann es keinen Frieden geben - weder im Inneren noch nach außen. Ohne (Durchsetzungs-)Macht wiederum, also ohne das UN-Gewaltmonopol auch anzuwenden, bleibt Recht pure Fiktion, wie die Zustände in vielen der so genannten "failed states" belegen.

Die Geltung des Rechts in der Welt sicherzustellen - und zwar mit allen erforderlichen Mitteln -, muss daher vornehmstes Gebot internationaler Solidarität gerade im Selbstverständnis von Linken sein. Dann erst kann auch der Friede gedeihen - ganz im Geiste Kants, der in seinen Vorlesungen einst konstatiert hatte: "Wenn nie eine Handlung der Gütigkeit ausgeübt, aber stets das Recht anderer Menschen unverletzt geblieben wäre, so würde gewiß kein großes Elend in der Welt sein."

* Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Aus: Freitag 48, 2. Dezember 2005


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