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Erschreckend leise

Schweden ändert seine Verteidigungspolitik und beteiligt sich an EU-Kampftruppe

Nach einem tumultarischen Abstimmungsprozess nahm der Reichstag die Verteidigungsvorlage an. Schweden ändert seine Verteidigungspolitik von einer Verteidigung gegen eine Invasion hin zu internationalen Einsätzen.

Die Verteidigungsdebatte hat sich jedoch nicht geändert. Sie wird immer noch mehr von dem regionalpolitischen Kampf für einzelne Regimenter geprägt als von einer Gesamtsicht auf die Sicherheitspolitik. Deshalb fallen interessante, prinzipiell wichtige Fragen unter den Tisch. Tatsache ist, dass der Verteidigungsbeschluss zu zwei ernsthaften Veränderungen der schwedischen Sicherheitspolitik führt:
  • Die allgemeine Wehrpflicht existiert in der Praxis nicht mehr. Es soll größtmögliche Freiwilligkeit gelten.
  • Schweden beteiligt sich an einer nordischen Kampftruppe in der EU, die ohne UNO-Mandat agieren kann.
Kann in einen Krieg gegen den Terrorismus hinein gezogen werden

Aftonbladet hat während des letzten Jahres vor den sicherheitspolitischen Kursänderungen gewarnt, an denen sich die Regierung im Zusammenhang mit der EU beteiligt hat. Was wir vor allem in Frage stellen, ist das völlige Fehlen von Bürgerbeteiligung bei diesen großen Veränderungen.

Vor kurzem hat die Regierung einer Solidaritätsklausel für die Mitgliedstaaten bei einem Terrorangriff, und zwar schon vorbeugend, zugestimmt. Das hat große Ähnlichkeit mit der Nato-Doktrin über gegenseitige Verteidigungsgarantien. Das könnte dazu führen, dass, wenn Großbritannien das nächste Mal gegen den Terrorismus in den Krieg zieht und die EU dazu bringt mitzumachen, schwedische Soldaten dabei sind, obwohl der Operation ein UNO-Mandat fehlt.

Das UNO-Mandat ist nicht wichtig

Die Militarisierung der EU geschieht. Leider hat sich Schweden nicht der Logik des Krieges widersetzt, sondern Formulierungen im Vorschlag für eine neue EU-Verfassung zugestimmt, die darauf abzielen, dass die EU eine gemeinsame Verteidigung entwickelt.

Und jetzt soll sich Schweden an einer EU-Kampftruppe beteiligen, die ohne UNO-Mandat agieren kann. "Es muss ein Mandat der UNO geben, sodass alles im Rahmen des Völkerrechts geschieht", sagte Ministerpräsident Göran Persson in (der Nachrichtensendung des schwedischen Fernsehens) "Rapport" noch am 4. Oktober. Er betonte besonders, das sei "schrecklich wichtig." Trotzdem gibt es keine derartige Formulierung in dem Verteidigungsbeschluss. So wichtig war das UNO-Mandat.

Gegengewicht zu den USA

Es ist verblüffend leise um diese neue sicherheitspolitische Doktrin. Wo sind all die zornigen UNO-Freunde innerhalb der Sozialdemokratie?
Schwedische Soldaten haben an vielen gelungenen friedensbewahrenden Einsätzen teilgenommen. Die EU wird als ein internationaler friedensbewahrender Akteur und als Gegengewicht zur Machtpolitik der USA gebraucht. Leider scheinen die verteidigungsindustriellen Interessen die Union in Richtung einer stärkeren Militarisierung zu lenken, weg von humanitären Einsätzen und Rettungsdiensten. Im Krieg gegen den Terrorismus dominiert all zu oft gerade das militärische Denken. In einer Zeit, wo die einzige noch vorhandene Supermacht USA außerdem einen Präsidenten hat, der sich ständig damit beschäftigt, das UNO-System zu verleumden, und gegen den Willen des Sicherheitsrates einen Krieg beginnt, brauchen wir alternative Stimmen, die für das internationale Recht und die UNO eintreten. Schweden war früher eine solche Stimme.

Es ist beklemmend, dass diese Stimme jetzt verstummt ist - ohne irgendeine größere öffentliche Diskussion.

Helle Klein*

* Helle Klein ist Leiterin der Leitartikelredaktion des Aftonbladet, des größten - sozialdemokratisch orientierten - schwedischen Boulevardblattes.

Aftonbladet, Stockholm 19. Dezember 2004

Aus dem Schwedischen: Renate Kirstein



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