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Gegenwehr in Athen

Gegen die Zerstörung des Sozialstaates: Gewerkschaften und Aktivisten aus sozialen Bewegungen aus der EU kommen in Griechenland zum "Altersummit" zusammen

Von Wolfgang Pomrehn *

In Athen treffen sich an diesem Wochenende soziale Bewegungen und Gewerkschaften aus nahezu allen EU-Ländern, um auf einem Alternativgipfel, auch »Altersummit« in einer Mischung aus Französisch und Englisch genannt, über eine gemeinsame Antwort auf den Kahlschlag sozialer und gewerkschaftlicher Rechte zu diskutieren, der derzeit in Südeuropa vorgenommen wird. Eröffnet wird das Treffen bereits am heutigen Freitag mit einer Frauenversammlung. Im Anschluß wird es verschiedene Vernetzungstreffen für Aktivisten zu den Themen Bildung, Gesundheit, Migration und Wohnen geben. Der Abend wird mit einem gemeinsamen Plenum beschlossen. Am Samstag sind weitere Versammlungen zu Themen wie Schuldenstreichung, Rechtsextremismus, Kampf gegen Wasserprivatisierung, Militarisierung der europäischen Außengrenzen, Angriffe auf die Arbeiterrechte und Verarmung der Bevölkerung geplant. Den Abschluß soll am Samstag abend eine internationale Großdemonstration durch das Zentrum der griechischen Hauptstadt bilden.

Den Organisatoren schwebt nicht weniger vor, als eine »paneuropäische Bewegung gegen die neoliberale Zerstörung der Sozialstaaten und der Demokratie« zu schaffen, wie es im Aufruf zu der Konferenz heißt. Seit Monaten wird dafür in europäischen Gewerkschaftskreisen ein Manifest diskutiert, das in Athen der europäi­schen Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Dieses etwas ungewöhnliche Verfahren wird von manchen sozialen Bewegungen kritisiert. Teile der griechischen Linkspartei Syriza halten es für nicht besonders demokratisch. Deren Basis und die sozialen Bewegungen Griechenlands seien nicht einbezogen worden. Dennoch will man das Beste aus dem »Altersummit« machen.

Diverse soziale Initiativen wollen entsprechend am Rande des internationalen Treffens ein Solidaritätsdorf errichten, in dem sie ihre Arbeit und Kämpfe koordinieren und sich zugleich mit ähnlichen Gruppen aus anderen EU-Ländern austauschen. In Griechenland hat sich in den vergangenen zwei Jahren eine Bewegung der Selbstorganisation gebildet, meist aus der Not heraus. Viele haben keine Krankenversicherung mehr, Familien können sich oft kaum noch Lebensmittel oder die in Griechenland fast unerläßliche Nachhilfe für die Kinder leisten. Deshalb wurden in vielen Stadtteilen kostenlose Ambulanzen, Nachhilfeschulen, Netzwerke, die direkt bei Bauern einkaufen und ähnliches gegründet. Die Organisatoren dieser Gruppen verbinden meist ihre Arbeit vor Ort mit dem Kampf gegen die von Troika erzwungenen Kürzungen und den aus Berlin und Brüssel verordneten Abbau demokratischer Rechte.

Unterstützt werden der »Altersummit« und das Manifest auch von der Partei der Europäischen Linken (EL), einem lockeren Zusammenschluß kommunistischer bis linkssozialdemokratischer Parteien, dem auch verschieden nationale Bündnisprojekte wie Syriza sowie Die Linke aus der BRD angehören. Syriza-Sprecher Alexis Tsipras ist Mitunterzeichner des Aufrufs für den Alternativgipfel. Besonders die Franzosen hatten innerhalb der EL auf ein möglichst baldiges Treffen in Athen gedrängt. Andere Mitgliedsorganisationen hatten eher Vorbehalte. Die deutsche Linkspartei wird vom stellvertretenden Vorsitzenden und saarländischen Landtagsabgeordneten Heinz Bierbaum vertreten. Die übrigen Vorstandsmitglieder kommen zu einer Sitzung zusammen und bereiten unter anderem den Parteitag in Dresden (14. bis 16. Juni) vor.

* Aus: junge Welt, Freitag, 7. Juni 2013

Manifest für Europa

Im Vorfeld des Alternativgipfels wurde von Vertretern diverser europäischer Gewerkschaften unter anderem aus Norwegen, Frankreich, Großbritannien und Italien sowie des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC ein Manifest ausgearbeitet, das in Athen vorgestellt werden soll. Unter dem Titel »Unsere gemeinsamen Prioritäten für ein demokratisches, soziales, ökologisches und feministisches Europa – Die Austeritätspolitik zurückweisen und wirkliche Demokratie fordern!« enthält es eine kurze Einschätzung der Krise in Europa sowie eine Reihe von Forderungen, um die herum eine gemeinsame, grenzüberschreitende Bewegung entwickelt werden soll.

Europa stehe am Abgrund, die Austeritäts-, das heißt, die Sparpolitik treibe die Menschen in die Armut, Frauen und Jugendliche seien am meisten betroffen. Die Ungleichheit wachse, und die Zerstörung der Umwelt würde die soziale Krise noch verschärfen. Dennoch reagierten die europäischen Oligarchien mit immer autoritäreren Maßnahmen, um das versagende neoliberale System zu stützen. Dadurch gerate inzwischen die Existenz der Europäischen Union in Gefahr.

Die Memoranden, das heißt, die Spardiktate der Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank (EZB) müßten sofort aufgehoben werden, die Banken ihren Teil der Verluste übernehmen, die Reichen eine einmalige Krisenabgabe zahlen, die EZB Kredite an die Krisenländer ausgeben und die Schuldendienste solange ausgesetzt werden, bis die Bevölkerungen gegen Verarmung und Arbeitslosigkeit abgesichert sind.

Schließlich soll das Recht auf Streik und das Führen von Tarifverhandlungen wieder hergestellt werden, das auf Druck der Troika in Griechenland und Spanien weitgehend eingeschränkt wurde. Die Löhne müßten erhöht und ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden.

(wop)


Zu Besuch in der Krise

Kein Aufschwung in Griechenland in Sicht **

Griechenland habe das Schlimmste hinter sich, der Aufschwung stünde kurz bevor, werden Premierminister Antonis Samaras und sein Finanzminister Giannis Stournaras nicht müde zu betonen. Zum Beispiel Ende April, bei der Feier zur angeblichen Wiederaufnahme der Arbeiten an der Olympia-Schnellstraße, die von Athen über Korinth nach Patras und Olympia führt. Doch Wirklichkeit und harte Zahlen sprechen eine andere Sprache.

Mehr als 27 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind ohne Broterwerb, bei den Jugendlichen bis 25 sind es sogar 62 Prozent. Etwa 400 000 Familien verfügen über keinen einzigen »Ernährer«, hier sind alle Familienmitglieder arbeitslos. Das im sechsten Jahr in Rezession steckende Mittelmeerland hat seit 2008 bereits ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung eingebüßt. Selbst die Staatsverschuldung ist nicht geschrumpft, sondern auf 179 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gestiegen. Vor Inkrafttreten des ersten Schuldnerabkommens mit der Gläubigertroika aus EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank lag sie noch bei etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Und auch die Aussichten sind entgegen den Versuchen des griechischen Premiers, Optimismus zu verbreiten, alles andere als rosig. Einen erneuten Rückgang der Wirtschaftsleistung um 4,8 Prozent in diesem und 1,2 Prozent im nächsten Jahr erwartet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Auch die Arbeitslosigkeit sieht sie weiter steigen, 2014 werden im Schnitt 28,4 Prozent der Bevölkerung keinen Job mehr haben.

Die von der Regierung mit großem Medienpomp verbreiteten Nachrichten einer angeblich wieder anfahrenden Bauwirtschaft sind bei diesen Aussichten nicht glaubhaft. Einen Beleg lieferten jüngst die Gewerkschaftsorganisationen der Baubranche. Die Wiederaufnahme der Bauarbeiten an der Olympia-Schnellstraße entlarvten sie als schlecht inszeniertes Schauspiel. Die Straßenraupen seien eigens für den Kameraauftritt vor Ort geliehen gewesen und die Arbeiter mit dem Versprechen gelockt, sie, wenn es tatsächlich weiterginge, bei den Einstellungen zu bevorzugen, klagten Gewerkschaftssprecher die Regierung an.

Anke Stefan, Athen

** Aus: neues deutschland, Freitag, 7. Juni 2013


Richtige Forderungen, schleppender Protest

Einige DGB-Gewerkschaften mobilisieren nach Athen

Von Jörg Meyer ***


Revolte oder Resolution? DGB-Gewerkschaften wissen um die Krise und kämpfen ums richtige Bewusstsein.

Während in Athen der Alternativgipfel sich seinem Höhepunkt nähert – der Präsentation des Manifests – läuft durch Düsseldorf eine Demonstration mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, an der Spitze. Parallel zum Alternativgipfel in Athen haben die europäischen Gewerkschaften zu Aktionstagen aufgerufen.

In Deutschland sind fürs Wochenende Infotische und Kundgebungen angekündigt. Funktionäre von GEW, ver.di, IG Metall und DGB-Jugend veröffentlichten eine Sympathieerklärung für den Gipfel. »Europa braucht dringend Signale der Zusammengehörigkeit und Solidarität«, heißt es darin – der Gipfel sei so ein Signal. Jeder, der könne, solle hinfahren.

»Der Alter Summit will Alternativen zum politischen Triumph der Finanzmärkte über die Politik diskutieren, jene Kräfte in Europa bündeln, die in Opposition zur herrschenden EU-Politik stehen und ein Zeichen der Solidarität mit den Lohnabhängigen, insbesondere Südeuropas, setzen«, sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske am Mittwoch in Berlin.

Die Diskussion läuft, doch nach wie vor hat man das Gefühl, anderswo ist mehr Protest, bringen die Gewerkschaften Menschen auf die Straßen.

Die Delegation der DGB-Gewerkschaften besteht aus einem guten Dutzend Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – aus Frankreich kommen 200. »Explizite Beschlüsse zu Aufrufen gab es von ver.di, der GEW und der DGB-Jugend«, sagt Martin Beckmann, ver.di-Sekretär , Abteilung Politik beim Vorstand. Die IG Metall habe sich nicht auf einen Aufruf einigen können, aber Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban wird in Athen sprechen. »Die Versuche, auf europäischer Ebene zu mobilisieren, waren aus gewerkschaftlicher Sicht bislang nicht sehr erfolgreich«, sagt Beckmann. Nach dem letzten Europäischen Sozialforum (ESF) im Jahr 2010 in Istanbul sei der ESF-Prozess an einem Endpunkt angekommen. »Die Sozialforen waren nicht so konkret wie das, was jetzt in Athen passiert«, sagt DGB-Bundesjugendsekretär Florian Haggenmiller. »Es geht uns in erster Linie darum, konkrete Verbesserungen für die junge Generation, auch für die jungen Gewerkschaftsmitglieder, zu erreichen.« Die im Resolutionsentwurf aufgestellten Forderungen gingen in die richtige Richtung.

Manfred Brinkmann, Referent für Internationales bei der Erziehungsgewerkschaft GEW, betont: »Die GEW versteht sich als eine Gewerkschaft, die den Kontakt zu sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen sucht«, sagt er. »Diese Krisenpolitik der Regierung hat verheerende Folgen«, aber Krisenbetroffenheit und ein Krisenbewusstsein gebe es in Deutschland längst nicht in dem Maße wie in anderen EU-Staaten, so Brinkmann. »Ich glaube aber nicht, dass sich Deutschland langfristig raushalten kann.«

Doch unterschiedliche Realitäten in Dienstleistung oder öffentlichem Dienst und Industrie stehen sich hier gegenüber. Während der öffentliche Dienst von krisenbedingten Kürzungen besonders betroffen ist, steht in Deutschland die exportorientierte Wirtschaft gut da. Krise gibt's hier nicht! Das zu durchbrechen wird schwer.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 7. Juni 2013


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