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Die EU eine imperiale Großmacht?

Geoökonomische und geopolitische Dimensionen der europäischen Integration

Von Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater *

Der nachfolgende Text basiert auf einem Buch von Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater, das Ende 2007 unter dem Titel „Konkurrenz für das Empire – Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt“ im Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, erscheinen wird. Im ersten Kapitel, dem die nachfolgende Argumentation entnommen ist, geht es um die neue Rolle, die die erweiterte EU in der Welt zu spielen beabsichtigt. EU-Offizielle schreiben ihr einen „liberalen Imperialismus“ zu und knüpfen so an einer Tradition an, die schon im 19 und 20. Jahrhundert in Katastrophen geführt hat. Auch in den Diskursen wird die Rede von der geoökonomischen Globalisierung mehr und mehr durch geopolitische Begriffsraster ersetzt. Die Geopolitik, eine Disziplin, die wegen ihrer Verwicklung in imperialistische Abenteuer des 19. Jahrhunderts und der Rechtfertigung nationalsozialistischer Expansionspolitik Jahrzehnte im Verruf war, kehrt zurück.

Cecil Rhodes hatte mit entwaffnender Deutlichkeit im 19. Jahrhundert ausgedrückt: „Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen sie Imperialisten werden“. Man könnte heute das Wort ergänzen: Wenn Sie das soziale Europa mit neoliberaler Politik unterminieren, wenn Sie die Kräfte der Globalisierung weiter als Druckmittel auf die Arbeitseinkommen und -bedingungen instrumentalisieren, und wenn Sie die daraus resultierenden sozialen Konflikte vermeiden wollen, müssen Sie sie externalisieren und zu Imperialisten werden. Imperialismus ist so verstanden immer Sozialimperialismus.

Geoökonomie und Geopolitik

Geopolitik ist tatsächlich wenig dringlich, so lange Märkte expandieren und der Warenfluss weder an räumlichen Grenzen noch durch zeitliche Verzögerungen unterbrochen wird. Das Regelwerk der internationalen Institutionen und Organisationen (GATT, WTO, IWF etc.) hat die ökonomische Expansion (räumlich durch Ausdehnung des Weltmarktes und zeitlich durch Abbau aller institutionellen oder technischen Hindernisse der Beschleunigung) jahrzehntelang erfolgreich gefördert, ohne dabei die politische Kontrolle von Territorien durch souveräne Nationalstaaten grundsätzlich in Frage zu stellen. Die erweiternde und vertiefende Integration im Rahmen der EU war ein spezifisch europäischer Modus (in der Mischung von negativer und positiver Integration) der ökonomischen Expansion, und er war erfolgreich.

Die Geopolitik, also staatliche Machtentfaltung nach außen, um die ökonomische Expansion des Kapitals zu unterstützen, kommt dann ins Spiel, wenn der Geoökonomie doch Grenzen erwachsen. Denn Grenzen bedürfen der politischen Regulation, wenn sie nicht wie der gordische Knoten mit dem Schwert zerschlagen werden können. In dem Maße wie die Welt mit Pipelines, Schiffsrouten, Autobahnen und Eisenbahnlinien oder Flugverbindungen, mit Internet und Telekommunikation und vor allem durch gewaltige Finanzströme mit einem Umsatz von täglich zwei Billionen US-Dollar vernetzt (bzw. komprimiert) wird, wächst die Bedeutung des Territoriums sowohl für politische Herrschaft und Sicherheit, als auch wegen der Versorgung mit Energien und Rohstoffen für die ökonomische Entwicklung. Und so kommt es, dass die EU unversehens in einem geopolitischen Konfliktfeld agieren muss, in dem weniger die multiple Logik des Wettbewerbs oder diffuser biopolitischer Netzwerke, die Hardt und Negri in ihrer Empire-Konzeption ins Zentrum rücken, als die binäre Logik der Auseinandersetzung um die Herrschaft über Raum und Zeit gelten. Die Finanzströme können noch aus einem der „schwarzen Löcher“ der globalisierten Welt, von den Offshore-Finanzzentren auf idyllischen Karibik- oder Pazifikinseln dem Renditegefälle entsprechend gelenkt werden und daher noch der Vorstellung eines „virtuellen Kapitalismus“ nahe kommen. Die Transportsysteme hingegen bewegen alle möglichen Stoffe und sie transportieren Menschen. Sie benötigen dazu viel Energie und müssen die Territorien so umgestalten, dass die Mobilisierung des Waren-, Kapital- und Menschenverkehr und daher die Kompression von Raum und Zeit gelingen.

Die global ausgreifenden infrastrukturellen Systeme sind verletzlich und bedürfen des Schutzes, der immer mehr zur vorrangig militärischen Angelegenheit wird. Dabei sind die USA als „einzige Weltmacht“ führend, und aus der Wahrnehmung dieser Rolle erklären sich die Kriege, die seit den 1990er Jahren gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak geführt worden sind, und in Zukunft vorbereitet werden, wenn die globale Friedensbewegung sie nicht verhindern kann. An den geopolitisch begründeten Kriegen haben sich auch EU-Länder und die NATO mit ihren militärischen Eingriffspotentialen beteiligt, die überall auf dem Globus einsetzbar sein sollen.

Aber die Kriege, insbesondere „the 2003 American war on Iraq was also, in part, an indirect war on the European Union“ (so Thomas McCormick). Denn von den USA sind zur Aggression gegen den Irak „Allianzen der Willigen“ geschmiedet worden, die auch der Spaltung Europas in ein „neues Europa“ im Bündnis mit den USA und in die Mächte des „alten Europa“, die sich am Überfall auf den Irak nicht beteiligt haben, dienen sollten. Das ist die Anwendung der alten „divide et impera - Regel“. Es ist allerdings fraglich, ob die USA ihre Hegemonie mit dem Krieg gegen den Irak zurückgewinnen können, nachdem sich der Krieg immer mehr als ein Desaster für die USA herausstellt.

Ein „liberaler Imperialismus“ der Europäischen Union?

Imperialistischer Politik erwachsen immer wieder Grenzen; Souveränität ist innerhalb des „Pluriversums“ von Nationalstaaten und regionalen Blöcken selbst dann nicht absolut, wenn ihr ein „unipolar moment“ (so der Neokonservative Charles Krauthammer in einem berühmt gewordenen Artikel aus dem Jahre1991) unterstellt wird. Die Grenzen werden von neuen Konkurrenten mitbestimmt, die als global players im global play mitmachen wollen. Das sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem China, Indien oder einige lateinamerikanische Staaten, die noch vor einem Jahrzehnt als Entwicklungs- und bestenfalls als Schwellenländer geführt wurden, also als eine Klasse unterhalb den führenden global players der „Triade“. Es gibt aber auch im Zuge der Erweiterung der EU neue Außengrenzen mit Mächten, die zuvor keine gemeinsame Grenze mit der EU hatten, z.B. Russland (oder die Kaukasus-Region am östlichen Ufer des Schwarzen Meeres, an dessen westlichem Ufer die EU mit Bulgarien und Rumänien inzwischen „angekommen“ ist). Diese Seite der imperialen Geschichte endet also auch im 21. Jahrhundert nicht: Imperien besetzen und beherrschen Territorien und nicht-territoriale Räume, sie setzen auf diese Weise Grenzen, schaffen Schutz für die Inkludierten (oder zumindest die Illusion der Sicherheit) und grenzen alle anderen aus. So entsteht der Limes zwischen den Bürgern des Imperiums und den „Barbaren“ außerhalb. Diese Denkfigur hat die Jahrhunderte überdauert.

Im Unterscheid zum frühen 20. Jahrhundert versteht sich der EU-Imperialismus des 21. Jahrhunderts als „liberal“ (Javier Solana), zivilisiert und postmodern, weil er nicht versucht, die Geopolitik des späten 19. Jahrhunderts oder die Geopolitik bis zum Zweiten Weltkrieg fortzusetzen. Dieses Konzept und die Wissenschaft, die es begründet, haben sich als Rechtfertigungslehre des nationalsozialistischen Eroberungskriegs so sehr desavouiert, dass sie aus den um Seriosität bedachten Diskursen weitgehend eliminiert wurde. Gleichwohl wurden im Zeichen eines „neuen Imperialismus“ der USA immer wieder geopolitische Zeichen unmissverständlich gesetzt. Die Monroe-Doktrin, die die geopolitische Suprematie der USA auf dem amerikanischen Doppelkontinent schon 1823 deklariert hat, wurde nie aufgegeben und mit ihr werden auch heute noch geo-strategisch wichtige Militärstützpunkte in Lateinamerika und politische, ja militärische Interventionen auf dem Subkontinent gerechtfertigt. Im Januar 1980 erließ Präsident Carter in seiner damaligen Rede zur „Lage der Nation“ die „Carter-Doktrin“, die besagt, dass jeder Versuch einer dritten Macht, Kontrolle über die Region des Persischen Golfes zu erringen, als Angriff auf die USA interpretiert und entsprechend beantwortet werde. Auch diese Doktrin hatte die Errichtung von Militärstützpunkten in der Region und die Bildung des Centcom für die Region des Mittleren und Nahen Ostens zur Folge. Die Kriege zwischen Iran und Irak, gegen den Irak 1991 und später die Dauerbombardements in den 1990er Jahren bis zum zweiten Irakkrieg 2003 wurden durch Centcom koordiniert.

Auch Zbigniew Brzezynski hat sich eindeutig geopolitischer Argumente bedient, als er schon Mitte der 1990er Jahre für den US-amerikanischen Zugriff auf Zentralasien plädierte. Das heartland in der geopolitischen Argumentation eines Mackinders gilt als das Zentrum der terrestrischen Fläche des Planeten. Es befindet sich dieser Vorstellung gemäß in Zentralasien, und pivotal states, also jene Staaten mit besonderer Bedeutung für die Beherrschung einer Weltregion, müssen entweder in die Verpflichtungen eines Bündnisses, also in ein hegemoniales Projekt der „einzigen Weltmacht“ integriert oder aber unterworfen bzw. zu einem regime change durch aktive Intervention in die inneren Angelegenheiten von Staaten veranlasst werden. Im Empire gibt es das Außen nicht mehr, und regime change ist demnach eine Angelegenheit der „Weltinnenpolitik“. Dieser bemächtigen sich die dazu aufgerufenen Mächte des charming circle, um der unfriedlichen Welt Frieden aufzuherrschen. Mit Waffen, versteht sich, wie denn sonst? Die Frage nach den Ursachen des Unfriedens verschwindet hinter dem Hurra-Imperialismus der „Weltinnenpolitiker“ eines Empire, das ja kein „außen“ mehr kennt, aber offenbar auch keine (ökonomischen) Krisen, innere (politische) Widersprüche und (soziale) Konflikte. In dieser Vorstellungswelt eines Imperialismus, dem das Attribut „liberal“ gegeben wird, bewegen sich auch viele grüne Politiker und Intellektuelle. Sie ist also bis weit über die militaristischen Zirkel, die Rosa Luxemburg in ihrer Imperialismus-Analyse beschreibt, attraktiv.

Osteuropa und Zentralasien

Mackinders Logik lässt sich als eine Empfehlung zur Häutung der Zwiebel lesen: Wer Osteuropa beherrscht, kontrolliert auch das zentralasiatische heartland. Die Macht, die dieses beherrscht, übt Kontrolle über den euro-asiatischen Landkomplex, das world island aus. Und wer diese Weltinsel beherrscht, hat die Weltherrschaft inne. Die Einbeziehung osteuropäischer EU-Mitgliedsländer in das US-gestützte Raketensystem, die Unterstützung des Regimewechsels in Georgien, in der Ukraine und der entsprechende Versuch in Weißrussland sowie die Nutzung rumänischer und polnischer Basen für die CIA-Terrorflüge können als Akte des Mackinder-Drehbuchs verstanden werden. Da die USA inzwischen tatsächlich alle Transportrouten für Öl auf dem Seeweg kontrollieren und mit ihren Militärbasen rund um das Kaspische Meer auch die zweitwichtigste Förderregion für Öl und Gas unter ihre Kontrolle gebracht haben, lassen sich sowohl der Afghanistan- wie der Irak-Krieg als eine klare Vorentscheidung dafür deuten, dass die US-Adminstration entschlossen ist, die kommende Energiekrise vorzugsweise militärisch zu lösen – auch wenn dies eine kurzsichtige und nicht einmal im ökonomischen Sinne effektive „Lösung“ darstellt.

Wozu die Kontrolle einer Region mit mehreren Staaten und hunderten Millionen Bewohnern? Wozu das Streben nach Weltherrschaft? Das sind noch Überlegungen aus der Zeit des traditionellen Imperialismus des frühen 20. Jahrhunderts. Selbstverständlich geht es auch heute noch um die politische Sicherung von Märkten für den Absatz der Produkte des imperialen Staates, um den Zugang von „Investoren“ in die dem Weltmarkt geöffneten Regionen und um den Zugang zu Rohstoffen. Der Chef der Coalition Provisional Authority (CPA), also die Verwaltung des Irak durch die US- Besatzer, Paul Bremer, erklärte bereits im Mai 2003 den Irak als „open for business“, und dieser Zustand wurde durch die „Orders“ der CPA zementiert.

Viele Absatzmärkte sind allerdings entsprechend den Regeln der WTO bereits weit geöffnet und die Finanzmärkte sind liberalisiert und dereguliert. Hier hat das geoökonomische Prinzip einen unbestreitbaren Vorrang und macht gewissermaßen geopolitische Anstrengungen der Beherrschung eines Territoriums überflüssig. Der Zugang zu Rohstoffen – der dritte Grund für imperialistische Expansion, den Lenin angibt - jedoch ist umstritten und er lässt sich mit marktmäßigen Transaktionen allein nicht immer gewährleisten, insbesondere wenn die Grenzen der Verfügbarkeit von Ressourcen nach dem Höhepunkt der Förderung (Peakoil) offensichtlich werden. Die Warnungen des Club of Rome aus den frühen 1970er Jahren bleiben berechtigt, auch wenn einige Ressourcengrenzen später erreicht werden als vorausgesagt. Besonders beim Öl ist der Höhepunkt der Förderung von größter Bedeutung, erstens weil Öl der wichtigste Energieträger ist, auf den die modernen kapitalistisch-fossilistischen Ökonomien angewiesen sind, und zweitens weil nach dem Peakoil die Angebotskurve des Öls aus physikalischen und nicht nur aus ökonomischen Gründen nach unten neigt, während die Nachfragekurve aus verschiedenen Gründen steigt. In einer solchen Situation ist es ausgeschlossen, die Ölversorgung dem „freien“ Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen; das Angebot kann ja gar nicht in dem Maße erhöht werden, wie die Preise steigen. So kommt die Geopolitik erneut ins Spiel, als ein „new great game“, als oil imperialism oder auch als Geopolitik von Öl, Gas und Uran. Darin sind auch die EU und einzelne (nicht alle) Mitgliedsstaaten aktiv involviert, in Afrika, im Nahen und mittleren Osten und vor allem im Kaukasus-Gebiet und in den Beziehungen zu Russland. Denn die „zentral-asiatische Region mit ihren bedeutenden Energiereserven kann eine wichtige Rolle spielen in der langfristigen Energieversorgung Europas“ so der deutsche Bundesaußenminister Franz-Walter Steinmeier (2007). Doch Russland ist nach dem Einknicken der politischen Statik in der Jelzin-Ära wieder eine ökonomische Macht und diese ist nicht zuletzt infolge von Peakoil und der Preissteigerung der Kohlenwasserstoffe stark genug, um eigene strategische Optionen als politische Weltmacht zu entwickeln und durchzusetzen, auch gegen die EU.

Die Vergangenheit ist europäisch, die Gegenwart US-amerikanisch und die Zukunft asiatisch?

Es gibt Entwicklungsphasen, in denen die geoökonomische Dynamik dominiert, und es gibt Epochen, in denen die Geopolitik den Vorrang hat. Dies lässt sich auch in der europäischen Geschichte entdecken. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die geoökonomische Konkurrenz wesentlich wichtiger als die geopolitische Balancierung von Macht. Diese hatte die Gestalt der Blockkonfrontation, eines (wegen der atomaren Hochrüstung) “Gleichgewichts des Schreckens“ mit „exterministischem“ Bedrohungspotential für die gesamte Menschheit, ja das Leben auf Erden, wie Edward P. Thompson auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte zu Beginn der 1980er Jahre schrieb. Die Blockkonfrontation ist vorüber, und doch wird nach dem geoökonomischen Zwischenspiel während der 1990er Jahre die plurale Welt der Globalisierung erneut zweigeteilt: in das „Lager westlicher Freiheiten“ und in die Welt der seit dem 11. September 2001 in einem globalen Krieg bekämpften „Terrornetzwerke“ und „Schurkenstaaten“, in die „zivile Welt“ des charming circle und die von Thomas P.M. Barnett im Jahre 2003 so bezeichnete „Lücke“, worunter das schwarze Loch einer angeblich nicht vorhandenen Zivilität verstanden wird.

Die Freiheiten der freien Welt sind vor allem Marktfreiheiten, verbunden mit formellen politischen Freiheiten einer formellen Demokratie. Jene Marktteilnehmer können sich mehr Freiheiten herausnehmen, die über viel Geld verfügen, als jene, die keines oder nur wenig haben. Denn Märkte sind immer die Orte, auf denen mit Geld Waren eingetauscht werden, so dass diejenigen ohne Geld gar nicht auf den Markt zu gehen brauchen, um dort an den zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne teilzunehmen. Sie können es nicht.

Territoriale Grenzen der Nationalstaaten oder die Schengen-Grenzen der EU dienen der Kontrolle zwischen innen und außen und setzen so die „Innerhalb/ außerhalb-Dichotomie“ fort. Die Grenzen werden also nicht als eine durchlässige Membran konzipiert, sondern eher als „flexibler Filter“. Sie spielen eine besonders wichtige Rolle bei der Regelung der Migration und bei der Sicherung des homeland gegen irgendwelche Bedrohungen, die häufig abstrakt bleiben und nicht konkretisiert werden. Je diffuser sie sind, desto abschreckender wirken sie. Auch im ureigensten Bereich des Handels von Waren und des Verkehrs von Kapitalien ist politische Kontrolle trotz Freihandel und Marktliberalisierung nicht beseitigt, im Gegenteil; sie wird zu Gunsten der Akkumulation des Kapitals funktionalisiert. In Gestalt einer neomerkantilistischen Politik der staatlichen Förderung von nationalen bzw. europäischen Kapitalgruppen gegen die Konkurrenz kommt sie wieder. Wenn das Kapital in seiner Dynamik der Akkumulation diese Grenzen mit ökonomischer Macht überschreitet oder osmotisch durchdringt, werden sie neu gezogen und angepasst. Die Territorialität ist also keine fixe Größe, und daher ist es auch deren politische Ausdrucksform nicht: die nationale und europäische Staatlichkeit. Auch das Verhältnis von „außen“ und „innen“ im Empire ist nicht ein für alle Mal definiert. Es verändert sich, da die Politiken der Inklusion und Exklusion sich wandeln. Die strategische Konzentration der Macht ist das Projekt der US-amerikanischen Neokonservativen, die davon träumen, mit formeller und informeller Macht des Imperiums auch die Geschichte anhalten zu können. Europa erscheint ihnen als Macht der Vergangenheit, daher die abfällige Rede vom „alten Europa“. Die Gegenwart gehört den USA, und diese versuchen sie in die Zukunft zu verlängern. Doch „if the past is ‚European’ and the present ‚American’, it seems the future is ‚Asian’ (James Anderson im Jahre 2007).

Dies ist der Grund, warum auch die EU in Konkurrenz zu den USA gerät, und inzwischen auch mit China, Indien und anderen Ländern aus der ehemaligen Dritten Welt zu rechnen hat, weil dort mittelfristig potente Konkurrenten heranreifen. Im Empire verschwinden die Netzwerke der politischen und ökonomischen Macht nicht und sie diffundieren nicht im Raum eines Empire ohne imperialistische Zentren der Macht, wie Hardt und Negri unterstellen. Geoökonomie und Geopolitik gehen eine Symbiose der territorialen Ausdehnung von Kapitalexport, Arbeitsmigration und politischer Regulation zu deren „Filterung“ ein. Auf diese Weise wird auch die Grenze zwischen formellem und informellem Imperialismus, zwischen formeller und informeller Ökonomie und Politik gesteuert. Dies geschieht in den USA ebenso wie in der EU und in den aufkommenden neuen Mächten.

Die EU in imperialistischer Konkurrenz

Die EU ist in die Globalisierung hineingewachsen und sie ist eines ihrer unverzichtbaren Elemente. Sie befindet sich heute in einer Situation imperialistischer Konkurrenz. Der Erfolg der vertiefenden und erweiternden Integration ist dafür verantwortlich, dass auch die EU eine Weltmacht geworden ist und die binäre Logik der territorialen Herrschaft zu Gunsten der ökonomischen Akteure der EU ausspielen kann. Dies wird von interessierten Kreisen in der EU als eine „gute Gelegenheit“ genutzt, um Europas Einfluss in der Welt zu steigern und europäische Wirtschaftsinteressen außenpolitisch und militärisch, also durch (supra)staatliche Machtentfaltung, zu festigen. Dazu dient die neue handelspolitische Strategie von „Global Europe – competing in the world“, dazu dienen auch die GASP, die Errichtung einer europäischen schnellen Eingreiftruppe und von battle groups, die der Kern einer europäischen Armee werden könnten. Der Gegensatz zwischen „dem ökonomischen Riesen und dem politischen Pygmäen“ soll überwunden werden.

Es vermischen sich also geoökonomische und geopolitische Dimensionen der europäischen Integration. Europas geopolitische Bedeutung ergibt sich in erster Linie aus seinem ökonomischen Gewicht in der globalisierten Geoökonomie. Was passiert aber, wenn dieses Gewicht die geopolitische Vormacht der USA gefährdet, z.B. durch die Ablösung des US$ als Ölwährung durch den Euro? Das ist eine Herausforderung, die möglicherweise bedeutsamer ist als die in der US-amerikanischen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ von 2002 genannten Fälle, dass die US-Vorherrschaft in den Kernregionen des US-amerikanischen Interesses - im Nahen und Mittleren Osten, in Zentralasien, Ostafrika und Osteuropa - politisch oder gar militärisch durch nicht-staatliche „Terror-Netzwerke“ oder Schurkenstaaten in Frage gestellt wird, die den westlichen Mächten „asymmetrische Kriege“ aufdrängen.

Zwei Logiken

Neben der kapitalistischen Logik der Akkumulation in der Geoökonomie gewinnt die territoriale Logik der Geopolitik erneut Bedeutung und diese beiden Logiken sind nicht unabhängig voneinander, im Gegenteil. Wenn die Kapitalakkumulation floriert, kann das Kapital auf die Politik gut und gern verzichten, freilich nicht auf die repressive Seite von Politik zur Aufrechterhaltung von „Ruhe und Ordnung“ im Innern wie nach außen. In der Krise und an den Grenzen der sicheren Energieversorgung freilich wächst die Bedeutung geopolitischer Unterstützung der geoökonomischen Strategien des Kapitals. Dafür sorgen in erster Linie die Nationalstaaten, aber immer deutlicher auch eine regionale Macht wie die Europäische Union.

Literatur
  • Harvey, David (2003): The New Imperialism, Oxford (Oxford University Press); dt. Der neue Imperialismus, Hamburg (VSA)
  • McCormick, Thomas (2005): American Hegemony and European Autonomy, 1989-2003: One Framework for Understanding the War in Iraq, in: Gardner, Lloyd C./ Young, Marilyn B. (eds.): The New American Empire, New York/ London (The New Press): 75-112
  • Krauthammer, Charles (1991): The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs, 1991, Vol. 70, 1: 23-33
  • Mackinder, Halford (1919): Democratic ideals and reality, New York (Henry Holt)
  • Steinmeier, Franz-Walter (2007): Die Seidenstrasse neu beleben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Juni 2007
  • Barnett, Thomas P. M. (2003): Die neue Weltkarte des Pentagon, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H.5 (2003): 554-564
  • Anderson, James (2007): Singular Europe: An empire once again? in: Armstrong, Warwick/ Anderson, James (ed.): Geopolitics of European Union enlargement. The fortress empire, London/New York (Routledge): 9-29
* Quelle: Website von Attac Österreich; http://sandimgetriebe.attac.at


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