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"Was heute in der Euro-Zone geschieht, war voraussehbar"

Gespräch mit Wolfgang Däubler. Über die Ursachen der Krise in Europa, die Rolle der Gewerkschaftsspitzen bei den »Hartz-Reformen« und die Gefährdung der Tarifautonomie in Griechenland *



Die Euro-Krise ist in aller Munde. Inwiefern betrifft Sie als Arbeitsrechtler dieses Thema?

Ich persönlich kann diesem Problem nicht ausweichen. Wir haben uns zwar irgendwie daran gewöhnt, daß die Krise nicht uns, sondern andere betrifft, aber das ist eine trügerische Vorstellung.

Warum?

Die deutsche Wirtschaft hat einen wesentlichen Anteil daran, daß wir nicht mehr sicher sein können, ob es den Euro in einem halben Jahr noch gibt. Die Position der hiesigen Konzerne ist in den vergangenen zehn Jahren immer stärker geworden. Der Export läuft immer besser – und das heißt zugleich, daß man schwächere Anbieter aus anderen Euro-Ländern vom Markt verdrängt. Das hat nicht allein mit der Innovationskraft deutscher Unternehmen zu tun. Viel wichtiger ist, daß die Lohnstückkosten gesunken sind. »Wir« produzieren billiger als die andern. Zwischen 2000 und 2010 sind die Nettolöhne in Deutschland gesunken, wenn man nicht allein auf den Nominalbetrag, sondern auf die Kaufkraft abstellt. In anderen Euroländern gab es im gleichen Zeitraum einen Zuwachs zwischen 10 und 30 Prozent. Wir haben also – in Unternehmersprache ausgedrückt – den Gürtel enger geschnallt und deshalb stehen wir jetzt so gut da.

Wo ist der Zusammenhang zur Währungsunion?

Hätte jedes Land noch seine eigene Währung, wäre das alles nicht weiter schlimm. Die Drachme, die Peseta, die Lira würden abgewertet, und die Produktion in Griechenland, in Spanien, in Italien wäre wieder konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt. In den Ländern selbst würden die Importgüter teurer, und ein Grieche müßte mehr bezahlen, wenn er – aus welchen Gründen auch immer – seinen Urlaub in Deutschland verbringt. Aber sonst würde sich nicht viel ändern; man könnte zu den bisherigen Bedingungen Strom beziehen und den heimischen Rotwein genießen.

In einem einheitlichen Währungsraum gibt es keine Abwertung mehr. Doch auch hier stellt sich das Problem: Wie kann man die Waren billiger machen, um wieder konkurrenzfähig zu sein? Man muß die Herstellungskosten senken. Dabei setzt man bei den Löhnen an. Macht man dies unmittelbar, indem der Staat eine Lohnsenkung von 20 Prozent anordnet, stößt man auf erbitterten Widerstand und in einer Reihe von Ländern auch auf verfassungsrechtliche Hindernisse. Besser ist aus Sicht der Regierenden daher das Rezept der sogenannten Hartz-Reformen: Man baut massiv staatliche Leistungen ab und erhöht so den Druck auf die Arbeitenden. Diese sollen wissen, daß sie gewissermaßen ins Bodenlose fallen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Außerdem verringert man dadurch das staatliche Haushaltsdefizit, das die Folge wachsender Arbeitslosigkeit ist und auch daher rührt, daß man die Unternehmen nicht mehr wie früher besteuern kann – weil es sonst noch schlechter um ihre Konkurrenzfähigkeit bestellt wäre.

Was wäre die Alternative hierzu?

Schon bei der Einführung des Euro wurde vor einer solchen Entwicklung gewarnt. Langfristig denkende Politiker hätten von vorne herein darauf verzichtet, Länder mit ganz unterschiedlichem wirtschaftlichem Entwicklungsstand in einem Währungsgebiet zusammenzufassen. Theoretisch kann man das tun, aber man muß dann zugleich für einen umfassenden Finanzausgleich sorgen und daran war nicht ernsthaft gedacht. Im Fall Griechenlands hätte es sogar genügt, wenn man die eigenen Grundsätze ernst genommen hätte. Denn nach einiger Zeit stellte sich heraus, daß Hellas die Aufnahmekriterien gar nicht erfüllt hatte: Die Zahlen waren – nennen wir es höflich – geschönt. Die damalige griechische Regierung hoffte vermutlich, durch den Beitritt an eine Reihe lukrativer EU-Entwicklungsprojekte heranzukommen. Wann man nur in kurzen Zeiträumen denkt, war das gar nicht so falsch. Mittel- und langfristig gesehen ist ein solches Verhalten hingegen absolut unverantwortlich.

Das ist ja nun Vergangenheit.

Richtig. Und man kann nicht nach zehn Jahren kommen und einen Staat mit dem Argument aus der Euro-Zone hinauswerfen, er habe sich die Mitgliedschaft erschlichen. Außerdem geht es heute nicht nur um Griechenland, sondern auch um Länder, die in völlig korrekter Weise beigetreten sind. Das Problem liegt in Wahrheit auch ganz woanders. Um es zugespitzt zu formulieren: Die deutsche Politik des »Immer besser, immer schneller, immer billiger« ist falsch. Wenn man Unternehmen aus anderen Euro-Staaten niederkonkurriert, ist das in Wirklichkeit ein Pyrrhussieg, weil man die Folgen selbst zu spüren bekommt. Sogar der Export in die geschwächten Regionen geht deutlich zurück, weil es an kaufkräftiger Nachfrage fehlt.

Also müßte die deutsche Exportindustrie gezügelt werden?

Nein, natürlich nicht. Das hätte verheerende Konsequenzen. Aber es war falsch, die Arbeitskraft hierzulande künstlich zu verbilligen. Die Regierung Schröder und ihre Nachfolger haben Sozialleistungen gekürzt, die Gewerkschaften geschwächt, die Öffentlichkeit gegen Streiks und andere Formen der Interessenvertretung mobilisiert. In Form von Leiharbeit haben sie eine Billigkonkurrenz zu den Stammbeschäftigten im eigenen Land geschaffen. Konzerne konnten ganz offen mit Verlagerung drohen – dies als Nötigung oder Erpressung zu qualifizieren, wäre als Argument von keinem Entscheidungsträger ernst genommen worden. Freie Fahrt auch und gerade für besonders rücksichtslose Unternehmer. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn bei Tarifverhandlungen nicht einmal mehr der Reallohn gesichert bleibt. Hätten die Bedingungen auch in Deutschland Lohnzuwächse von 10 bis 30 Prozent in zehn Jahren ermöglicht, wären die Unternehmen anderer Länder nicht in dieselben Schwierigkeiten geraten.

Also müssen wir heute ausbaden, was uns Schröder mit den Hartz-Reformen eingebrockt hat?

In der Tat, so ist es. Bei der damaligen Regierung liegt die Verantwortung. Die 2005 gebildete Große Koalition unter Merkel hat nur das fortgeführt, was schon vorher festgelegt war.

Wie beurteilen Sie das Verhalten der Gewerkschaften in dieser Frage?

Das ist ein Punkt, an dem ich gründlich zu kauen habe. Um es klar zu sagen: Nach meinem Eindruck haben sie nicht genug getan, sondern im Gegenteil die Bundesregierung noch unterstützt. Man hat bei der Leiharbeit durch Abschluß von Tarifverträgen mitgemacht und so einen Lohnabstand zu den regulär Beschäftigten von durchschnittlich 30 Prozent festgeschrieben. Man wolle das Feld nicht den »Christen« überlassen, war die Parole. Doch gewann man durch die DGB-Verträge praktisch keine Mitglieder, weil sie ja auch nicht viel besser waren als die Tarife der »Christen«. Ob die Ausbeutung auf der Basis eines von der »christlichen« Tarifgemeinschaft CGZP oder vom DGB ausgehandelten Vertrags erfolgt, ist für die Betroffenen ziemlich gleichgültig. Man hat nie ernsthaft in Erwägung gezogen, wegen der fehlenden Tariffähigkeit der »Christen« zu klagen, obwohl das auch schon vor vielen Jahren gute Chancen gehabt hätte. Das ist im Grunde erstaunlich, weil die hiesigen Gewerkschaftsspitzen traditionell viel Vertrauen in die Arbeitsgerichtsbarkeit setzen und lieber einen Prozeß als einen Streik führen. Man kann vermuten, daß es da einige Zusagen gegenüber der Bundesregierung gab. Erst nach Jahren, als deutlich wurde, daß Leiharbeit auch die Arbeitsplätze der eigenen Mitglieder gefährdet, hat man sich um eine Korrektur bemüht. Selbst jetzt hatte man noch Schwierigkeiten, das Verfahren gegen die CGZP mit zu betreiben.

Bei Hartz IV sah es nicht viel besser aus. Die Gewerkschaftsführer haben zwar protestiert, aber dies doch nicht so, daß jemand ernsthaft beeindruckt worden wäre. Ich kann hier ausnahmsweise eine unmittelbare eigene Erfahrung beisteuern. Ich hatte für eine Abteilung des DGB-Bundesvorstands ein Gutachten über die Verfassungsmäßigkeit von Hartz IV geschrieben, in dem viele der Argumente enthalten waren, die später im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wieder auftauchten. Das Papier hat sich der DGB nicht zu eigen gemacht und wollte es in der Schublade verschwinden lassen. Es ist dann trotzdem veröffentlicht worden – in meinem Alter ist es nicht mehr so wichtig, ob ein DGB-Vorsitzender »sauer« ist oder nicht. Man kann von der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auch gegen dessen Willen Gebrauch machen.

Nach meiner Einschätzung haben die DGB-Spitzen bei weitem nicht genug getan.

Die »Hartz-Reformen« hatten auch für die Gewerkschaftsführer einen Machtverlust zur Folge. Warum haben sie dennoch nichts getan, um sie zu verhindern?

Ein wichtiger Grund war sicher, daß sie die Beziehungen zur SPD-geführten Bundesregierung nicht belasten wollten. Gegenüber einer Regierung Kohl wären sie vermutlich massiver aufgetreten. Außerdem hatten sie im Grunde die These akzeptiert, daß in Deutschland zu teuer produziert werde. Dies war innerhalb der SPD-Fraktion der Fall, und intern hat man wohl bei den DGB-Gewerkschaften genauso gedacht. Schließlich hat es ja auch eine ver.di-Vertreterin in der Hartz-Kommission gegeben, die nicht etwa protestiert hat, als sie sah, wohin der Hase läuft. Wenn man also schon billiger produzieren mußte, dann war es einfacher, die Leiharbeit zu fördern und die staatlichen Sozialleistungen zurückzufahren anstatt Nullrunden in der Tarifpolitik einzulegen. Das »hinterlistige« Vorgehen der Herrschenden kam auch den eigenen organisatorischen Interessen entgegen. Natürlich war man nicht mit Begeisterung bei der Sache, aber man hat eben mitgespielt.

Außerdem birgt ein »Nein«, ein Weg des Widerstands, immer Risiken, die man nicht öffentlich diskutiert, die aber intern umso größere Bedeutung haben. Würde man wirklich eine große Demo zustande bringen? Die Rahmenbedingungen für Gewerkschaftsarbeit waren nicht gut, die Mitgliederzahlen gingen zurück; was würde geschehen, wenn man öffentlich als Papiertiger dastehen würde? Man wäre noch schlechter dran, als wenn man nur als Lobbyorganisation wirkt und bewußt im dunkeln läßt, ob man vielleicht auch die Massen mobilisieren könnte. Je geringer die Aktionserfahrung umso größer die Angst. Meines Erachtens hätten sich genügend Leute innerhalb, aber auch außerhalb der Gewerkschaften mobilisieren lassen. Und niemand hat die Gewerkschaften gezwungen, die Regierungspolitik wie bei der Leiharbeit und Hartz IV sogar noch positiv zu unterstützen.

Was kann man daraus lernen?

Lernen kann man in der Tat auch aus negativen Erfahrungen. Eine Wiederholung dessen, was nach 2002 geschah, darf es nicht geben. Von den Inhalten einer verfehlten Politik ganz abgesehen: Man darf nicht nur für heute und morgen entscheiden, sondern muß auch an die langfristigen Folgen denken. Was heute in der Euro-Zone geschieht, war voraussehbar, aber die Warnungen blieben folgenlos.

In den südeuropäischen Ländern wird aktuell massiver Sozialabbau betrieben, ohne daß dies hier wirklich zur Kenntnis genommen wird. Die Auflagen der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds sind eben erfüllt oder nicht erfüllt, so liest man. Was sich genau dahinter verbirgt, wissen die meisten nicht. Ein Beispiel, was gerade in Griechenland passiert: Dort bestehen in vielen Branchen Flächentarifverträge, auch in kleinen und mittleren Unternehmen, in denen die Gewerkschaft gar nicht präsent ist. Die Arbeitgeber wollen sich nun mit Unterstützung der Regierung aus diesen Bindungen befreien, indem sie schlechtere Firmentarife abschließen. Doch was macht man, wenn es im Betrieb gar keine Gewerkschaft gibt, die einen solchen Kollektivvertrag abschließen könnte? Der Gesetzgeber kommt zu Hilfe: Wenn sich auf betrieblicher Ebene eine »Arbeitnehmervereinigung« gründet, kann sie als solche einen Firmentarif abschließen, der dem Verbandstarif vorgeht. Das ist eine Art gesetzlicher Ermächtigung zur Gründung von Werkvereinen und »gelben Organisationen«, denn es ist wenig wahrscheinlich, daß eine solche Vereinigung anders als auf Initiative des Arbeitgebers zustande kommt. Der Sache nach ist dies ein Rückfall in Verhältnisse, wie wir sie vor 1918 hatten – das sollte man auch bei uns nicht mit Stillschweigen übergehen. Spätestens hier wird eine Schwelle überschritten, bei der die internationale Solidarität einsetzen sollte.

Ist ein solcher Systemwechsel auch für Deutschland vorstellbar?

Zunächst sicherlich nicht. Aber da unsere Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik keine langfristige Perspektive haben, lassen sich Prognosen schwer treffen. Unterstellt, der Euro bricht auseinander und die wieder eingeführte D-Mark wird hoch bewertet: Um den Export zu fördern, wird man dann womöglich gezwungen sein, billiger als bisher zu produzieren, also die Löhne zu senken. Oder unterstellen wir, daß der Sozialabbau in den Südländern »Erfolg« hat und man anschließend eine Art Marshall-Plan auf den Weg bringt. Plötzlich ist die Konkurrenzfähigkeit wieder hergestellt, und wir müssen uns in Deutschland auf eine neue Hartz-Runde einstellen, damit wir nicht zu den Verlierern gehören. Das wird nie zum Thema gemacht, aber kann man es wirklich ausschließen? Eine Spirale nach unten im Euro-Raum – auch davor ist schon vor Einführung der gemeinsamen Währung gewarnt worden.

Wie auch immer künftig Herausforderungen aussehen werden: Die Gewerkschaften müssen in der Lage sein, sich wirksam zu wehren. Die deutsche Wirtschaft braucht kooperative Arbeitskräfte – ohne sie würde kein Profit mehr fließen. Dieser Stärke sollte man sich sehr viel stärker bewußt sein. Ohne Ingenieure, Krankenschwestern und Piloten, aber auch ohne Reinigungskräfte und ohne Polizisten läuft bei uns nichts. Selbst hierzulande wird die Geduld der abhängig Beschäftigten irgendwann ein Ende haben.

Interview: Daniel Behruzi *

* Wolfgang Däubler ist Professor für deutsches und europäisches Arbeitsrecht, bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen sowie Herausgeber vieler arbeitsrechtlicher Standardwerke.
Aktuelle Veröffentlichung:
Reinhard Alff / Wolfgang Däubler: Alles in Butter. Irrwitzige Stories aus dem Alltag eines Betriebsrats, 109 Seiten, gebunden, 14,90 Euro, ISBN 978-3-766-3-6178-3, erscheint am 12. September 2012.

Aus: junge Welt, Samstag, 8. September 2012



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