Europa in schlechter "Verfassung"
Stellungnahmen von Attac Deutschland und der "Europäischen Demokratischen Anwälte" zum "Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa"
Stellungnahme von Attac Deutschland zum „Entwurf
des Vertrags über eine Verfassung für Europa“
Attac Deutschland widersetzt sich dem
Verfassungsentwurf und ruft alle Menschen
dazu auf, das Inkrafttreten dieses
Vertragwerkes zu verhindern. Dieser Entwurf erfüllt nicht
die grundlegenden Anforderungen an eine demokratische
Verfassung. Er schreibt konsequent und alternativlos
das neoliberale Wirtschaftsmodell mit unbeschränktem
Wettbewerb in den EU-Staaten fest. Daran hat die deutsche
Bundesregierung maßgeblichen Anteil.
Auch das grundlegende Demokratiedefizit der EU
wird mit dem neuen Vertrag nicht beseitigt. Auf EU-Ebene
werden immer mehr und weitreichendere Entscheidungen
ohne ausreichende demokratische Kontrolle getroffen. Ist
eine Entscheidung erst mal gefallen, ist es fast unmöglich,
sie wieder umzukehren. Der Entwurf gefährdet die in den
Mitgliedsstaaten über Jahrhunderte erkämpften sozialen
und demokratischen Grundrechte, statt sie ausreichend
zu schützen. Während die „unternehmerische Freiheit”
ein vertraglich geschütztes Grundrecht werden soll (II-16),
das durch die Bestimmungen zum Binnenmarkt und zur
Handelspolitik fast überall Vorrang genießt, gibt es keinen
gleichwertigen Schutz für die sozialen Rechte der in der EU
lebenden Menschen. Oft werden weitreichende Liberalisierungsvorschriften
im Handel mit Gütern und Dienstleistungen
in allen Lebensbereichen, insbesondere der öffentlichen
Versorgungseinrichtungen, mit qualifizierten Mehrheiten
herbeigeführt. Die Festlegung von sozialen und steuerlichen
Mindeststandards wird durch die zumeist geforderte Einstimmigkeit
faktisch blockiert.
Die komplette Verlagerung der Kompetenz in Fragen
der Handels- und Investitionspolitik auf EUEbene führt zu
einer weiteren Entdemokratisierung der Handelspolitik (III-
217). Schon heute stehen die Verhandlungspositionen der
EU in der Welthandelsorganisation WTO und in bilateralen
Handelsabkommen im direkten Widerspruch zu den Anrechten
vieler Menschen im Norden und Süden auf gerechte
Teilhabe am erwirtschafteten Wohlstand. Wenn die nationalen
Parlamente die Handelsverträge in Zukunft nicht mehr
ratifizieren müssen, hat die Zivilgesellschaft noch weniger
Möglichkeiten, diese Politiken mitzugestalten.
Die gemeinsamen außenpolitischen Handlungsfelder
werden den Zielen der Europäischen Außen und Sicherheitspolitik
untergeordnet. Mit dem Vertrag über eine
Verfassung werden die Mitgliedsstaaten darauf verpflichtet,
ihre „militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern”
(I-40). Durch die vertragliche Festschreibung der bereits
beschlossenen Rüstungsagentur wächst in der EU ein
militärisch-industrieller Komplex heran, der sich zudem einer
demokratischen Kontrolle weitgehend entzieht.
Der Name „Verfassung für Europa” ist eine Anmaßung
gegenüber allen Menschen in Europa, die nicht in einem
Mitgliedsstaat der EU leben. Nach wie vor würde es mit
dieser Verfassung keine hinreichenden Rechte für alle in den
Grenzen der EU lebenden MigrantInnen geben. Die Festung
EU wird ausgebaut.
Deshalb fordert Attac:
-
Die Verhandlungen über die EU-Verträge müssen unter
breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft ergebniso. en
neu aufgenommen werden.
- Stellung des Europäischen Parlaments gestärkt werden,
als ersten Schritt durch ein allgemeines Initiativ- und
Mitentscheidungsrecht.
- Alle Kompetenzen der Union müssen konsequent darauf
überprüft werden, ob sie nicht besser auf kommunaler,
regionaler oder nationalstaatlicher Ebene getroffen
werden können.
- Es müssen EU-weite anspruchsvolle Mindeststandards
für Steuern und Sozialleistungen eingeführt werden.
Auch höhere Standards in einzelnen Mitgliedsstaaten
dürfen durch die Politik der EU nicht gefährdet werden.
- Die Militarisierung der EU im Rahmen der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik muss sofort
gestoppt und durch Maßnahmen der zivilen Krisenprävention
und Kon. iktbearbeitung ersetzt werden.
- Der Euratom-Vertrag muss aus dem Entwurf gestrichen
werden. Die EU muss sich stattdessen zu einer nachhaltigen
Energiepolitik unter Nutzung erneuerbarer Energien
und unter Verzicht auf Atomenergie einsetzen.
- Die Ziele der deutschen EU-Politik müssen Frieden, die
Bewahrung sozialer Grundrechte und ökologische Nachhaltigkeit
sein.
- Keine politischen Erpressungsversuche der Bundesregierung
gegenüber allen Staaten, die diesem untauglichen
Verfassungsentwurf nicht zustimmen wollen.
Attac tritt ein für ein friedliches, soziales, ökologisches und demokratisches Europa!
* Verabschiedet auf dem Attac-Ratschlag in Essen, 7.-9.5.2004
Für die Eröffnung einer Debatte über den „europäischen Verfassungsvertrag
Resolution des Verband „Europäische Demokratische Anwälte“ vom 18. Juni 2004
1. Am 18. Juni 2004 haben die Staats- und Regierungschefs
auf dem Gipfel in Brüssel den Text der europäischen
Verfassung verabschiedet, nachdem ein Entwurf
durch den Europäischen Konvent am 18. Juli 2003 angenommen
worden war. Schon die Methode des Konvents
und der Regierungskonferenz ermangelten einer wirklichen
demokratischen Legitimität, um eine europäische
Verfassung auszuarbeiten. Darüber hinaus debattierten
die Staats- und Regierungschefs vor allem fast
ausschließlich über die Stimmgewichte im Rat. Auf dem
Brüsseler Gipfel wurde ein neoliberales Europa mit
einer unkontrollierten Exekutive und der Programmatik
eines „Binnenmarkt(s) mit freiem und unverfälschtem
Wettbewerb“ (I-3) gestärkt.
2. Die Aufnahme der europäischen Grundrechtecharta
und damit auch der justiziellen Rechte (II-47-50) sowie
die Stärkung des Europaparlaments sind zu begrüßen.
Ein besserer Grundrechtsschutz für die EU könnte, durch
die Möglichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention
beizutreten, gewährleistet werden. Allerdings
werden die sozialen Rechte im vorliegenden Text weiter
abgeschwächt (II-52) und das Recht auf „Unternehmerische
Freiheit“ (II-16), dass nicht in allen Verfassungen
der Mitgliedstaaten existiert, wird eingeführt.
3. „Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“
soll aufgebaut werden, aber nicht ausgehend von den
Bürgerinnen und Bürgern, sondern „durch operative
Zusammenarbeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten“
(I-41) nach dem Modell Europol. Auf dem
Gebiet des Strafrechts wird kein einheitlicher Rechtsraum
mit Mindeststandards angestrebt. Stattdessen
schreibt der europäische Verfassungsvertrag die
äußerst fragwürdige Entwicklung der wechselseitigen
formellen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen
der Mitgliedstaaten (III-171) fort, wie sie beim
europäischen Haftbefehl bereits Realität ist. Mit dem
„ständigen Ausschuss für operative Zusammenarbeit“
(III-162), droht zudem die Errichtung eines vom Europäischen
Parlament unkontrollierten und damit faktisch
allmächtigen europäischen „Innenministeriums“.
In Artikel I-42, III-162 und III-231 fehlt die notwendige
Gewaltentrennung zwischen Polizei, Militär und
Geheimdiensten. Mit Artikel III-167 und III-168 wird das
Schengenregime noch verstärkt, verbunden mit einer
Rechtsangleichung nach unten.
4. Die Mitgliedstaaten müssen dem Verfassungsvertrag
zufolge aufrüsten und ihr Militär ständig modernisieren,
denn sie „verp. ichten sich, ihre militärischen
Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Art. I-40). Ein
„Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische
Fähigkeiten“ soll „zweckdienliche Maßnahmen zur
Stärkung der industriellen und technologischen Basis
des Verteidigungssektors“ durchsetzen (Art. III-212).
Die Verfassung wird so die vertraglichen Voraussetzungen
für die Union als weltweit intervenierender Militärmacht
schaffen (Art. III-210).
5. Der Neoliberalismus erhält Verfassungsrang. In den
„Zielen der Union“ ist zwar beschönigend noch von die
Rede einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen s o z i a l e n Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und
sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an
Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“
(I-3) erreichen soll. Diese Programmatik bleibt aber
unverbindlich. Verbindlich ist stattdessen die konkrete
Politik der verfassungsrechtlichen „Festlegung“ auf den
„Grundsatz der o f f e n e n Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb“ (Art. III-69). Die einzelstaatlich gewährleisteten
Leistungen der ö. entlichen Daseinsvorsorge
werden - ganz im Sinne von WTO und GATS – fortschreitend
relativiert (Art. III-55).
6. Die Beschäftigungspolitik wird den „Grundzügen
der Wirtschaftspolitik“ untergeordnet (Art. III-100),
geprägt durch die einseitige Orientierung der Zentralbank
am Ziel der „Preisstabilität“ (Art. I-29) und durch
den unveränderten „Stabilitätspakt“ (Art. III-76). Nur
die indirekten Steuern werden harmonisiert (Art. III-
62). Die Angleichung der direkten Steuern ist nicht vorgesehen.
Die Folge wird der anhaltende ruinöse „Wettbewerb
nach unten“ bei staatlichen Einnahmen und der
Finanzierung öffentlicher Aufgaben sein.
Im Zuge der Ratifizierung des Verfassungsvertrages
sollen die Bürgerinnen und Bürger an der Debatte beteiligt
werden.
Der Verband „Europäische Demokratische Anwälte“
(EDA), der sich am gerade am Tag der Verabschiedung des
Verfassungstexts, am 18. Juni 2004 in Madrid getroffen hat,
verlangt von den nationalen Parlamenten, wenn nötig durch
Referenden, der Kritik von Bürgerinnen und Bürgern Gehör
zu schenken und die Staats- und Regierungschefs dazu aufzufordern,
den vorliegenden Text neu zu verhandeln sowie
zu verändern und zu verbessern.
Sollte dies nicht geschehen, muss im Bezug auf eine
Ratifizierung des Verfassungsvertrages NEIN gesagt werden.
Bemerkung: Die Nummerierung der Artikel im Resolutionstext erfolgt nach der des Entwurfs des Europäischen Konvents
(CONV 00850/03). Die zitierten Artikel wurden auch im Dokument (CIG
0085/04 und CIG 0050/03 inklusive der Korrigenda, Addenda und revidierten Fassungen) auf das sich die Staats- und Regierungschefs
am 18. Juli 2004 geeinigt haben, bis auf eine rein sprachliche
Korrektur nicht verändert. Eine unterschriftsreife konsolidierte Fassung des Verfassungsvertrages soll erst zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegt werden.**
** Dies ist inzwischen geschehen. Die konsolidierte Fassung vom 6. Augfust 2004 kann hier heruntergeladen werden:
EU-Verfassung (pdf-Version, August 2004)
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