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Vorbild Kosovo?

Separatistische Herde im modernen Europa

Ein Hintergrundbericht der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti *

Sollte es eine Entscheidung zugunsten der Abtrennung des Kosovo von Serbien geben, so wäre das ein Präzedenzfall und eine Verletzung der völkerrechtlichen Grundsätze. Gegenwärtig sind in Europa sowohl integrationsfördernde als auch separatistische Prozesse im Gange. Nach Schätzungen von Experten können in der Alten Welt im 21. Jahrhundert theoretisch mehr als zehn neue Staaten entstehen.

Das traditionellste Beispiel für europäischen Separatismus ist das Baskenland. In Spanien leben circa zwei Millionen Basken, die drei Provinzen der als Baskenland bekannten Region bevölkern. Es hat die weitesten Rechte im Vergleich zu den anderen spanischen Regionen, das Lebensniveau liegt über dem spanischen Durchschnitt, die baskische Sprache ist als Staatssprache anerkannt. Doch diejenigen, die eine Abspaltung von Spanien und einen Anschluss der von Basken bevölkerten Region in Frankreich fordern, wollen noch mehr.

Grund für den steigenden Separatismus war die Politik von Francisco Franco. Damals war es den Basken verboten, Bücher und Zeitschriften zu veröffentlichen, Unterricht in ihrer Sprache Euskera zu erteilen, den Kindern baskische Namen zu geben und die nationale Flagge zu hissen. Die 1959 geschaffene Organisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna - Baskenland und dessen Freiheit) hatte ursprünglich den Kampf mit dem Frankismus als Ziel. Franco ist seit langem tot, das Baskenland ist autonom, doch davon lassen sich die baskischen Terroristen nicht abhalten. Im Kampf für „Unabhängigkeit“ mussten bereits mehr als 900 Menschen ihr Leben lassen.

Auch Katalonien bereitet Madrid Kopfschmerzen, eine autonome Provinz in Nordostspanien, die ihre Nationalsprache und ihre Kultur hat. Die Katalanen haben ihren Unterschied zu den Bewohnern der anderen spanischen Regionen immer betont. Die Provinz genießt unter der Herrschaft der spanischen konstitutionellen Monarchie weitgehende Autonomie. Die Beziehungen zur Zentralregierung in Madrid werden durch eine besondere Charta geregelt. In der Neubearbeitung der Charta von 2005 werden die Katalanen als separate Nation anerkannt. Doch in der Region gibt es Dutzende Parteien und öffentliche Organisationen, größtenteils linksorientierte, die sich für eine Abspaltung von Spanien einsetzen. Ihr Ziel ist ein Referendum über die Unabhängigkeit, das sie bis 2014 versprechen.

Auch eine andere spanische Provinz, Valencia, hat im Juli 2007 einen autonomen Status erhalten.

Frankreich hat langjährige Erfahrungen bei der Bekämpfung von Separatismus und Extremismus im eigenen Land, vor allem auf der Mittelmeerinsel Korsika. Die korsikanischen nationalistischen Gruppierungen ließen Mitte der 1970er Jahre bei Zusammenstößen mit Einheiten der französischen Armee von sich hören. Die größten und einflussreichsten sind die „Nationalistische Vereinigung“ und „Die Bewegung für Selbstbestimmung“, die beide über Kampfgruppen verfügen. Der Status der Insel wurde in den letzten 25 Jahren zweimal, 1982 und 1990, erweitert. Dabei bekamen die korsischen Behörden immer mehr Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Verkehr, Bildung und Kultur. Vor einigen Jahren hat das französische Parlament die Existenz eines korsischen Volkes anerkannt. Doch später wurde diese Entscheidung als verfassungswidrig rückgängig gemacht.

Und in der nordwestfranzösischen Provinz Bretagne ist seit Anfang der 1970er Jahre die Bretonische Revolutionäre Armee aktiv. Die Nachfahren der Kelten, die einst von den britischen Inseln zur französischen Küste zogen, empfinden sich nicht ganz als Franzosen oder als besondere Franzosen. Bei den Volkszählungen bezeichnen sich viele als Bretonen, obwohl sie Französisch als Muttersprache angeben. Die Bretonische Revolutionäre Armee, die ihren Namen offensichtlich im Einklang mit der Irischen Republikanischen Armee gewählt hat, gehört zum extremistischen Flügel der nationalistischen Bewegung Emgann, die gegen die „französischen Unterwerfer“ kämpft.

In Italien sind separatistische Stimmungen in den industriellen Regionen des Nordens stark. Die einflussreiche „Liga des Nordens“ hat vorerst auf die Abspaltungsforderung verzichtet und besteht auf der Umgestaltung Italiens zu einer Föderation. Auch Stimmen, die eine Wiedervereinigung Südtirols mit Österreich nach dessen Übergang an Italien nach dem Ersten Weltkrieg fordern, sind zu hören.

Belgien kann sich mit einiger Wahrscheinlichkeit in einen nördlichen, flämischen Teil, dessen Bewohner niederländisch sprechen und sich eher nach den Niederlanden hingezogen fühlen, und einen südlichen, französischsprachigen wallonischen Teil spalten. Die tiefen Quellen der Konfrontation zwischen den beiden Sprachgemeinschaften, dem französischsprachigen Wallonien und dem flämischsprachigen Flandern, liegen in den Anfängen der Geschichte des unabhängigen Belgiens, als sich die Wallonen und Flamen zu einer Union gegen die Niederlande vereinigten. Einst im Namen der Freiheit vereint, versuchen sie seit knapp 200 Jahren auseinanderzugehen. Aufrufe zur Spaltung werden im Land immer häufiger laut: Das wirtschaftlich höher entwickelte Flandern will Wallonien nicht „füttern“. Nach den Ergebnissen von Umfragen schließen mehr als 60 Prozent der Flamen und mehr als 40 Prozent der Wallonen eine Spaltung Belgiens nicht aus.

In Großbritannien hat sich der Mittelpunkt der separatistischen Stimmungen aus Ulster nach Schottland verschoben. Bei der letzten Parlamentswahl ging in Schottland die Nationale Partei als Sieger hervor, die einen neuen unabhängigen Staat fordert. Regierungschef Alex Salmond sagt voraus, dass es im kommenden Jahrzehnt dazu kommen könnte. Allerdings unterstützen nur 23 Prozent der Schotten die Idee der Unabhängigkeit ihres Landes (vor einem Jahr waren es noch 30 Prozent). Dennoch hat der jetzige Premier Gordon Brown, damals noch Finanzminister, in der Presse eine Warnung veröffentlicht: Wenn der vor 300 Jahren geschlossene Bund zwischen England und Schottland schwächer werden sollte, so droht Großbritannien eine „Balkanisierung“.

Die Färöer-Inseln, die zu Dänemark gehören, sind halb autonom und leben dank Fördergeldern der Regierung in Höhe von fast 170 Millionen US-Dollar im Jahr. Das hält die Separatisten zurück, obwohl sie vor fünf Jahren versucht haben, ein Referendum über die Unabhängigkeit in die Wege zu leiten.

Auch in der stillen Schweiz gibt es Separatisten. Die Befreiungsfront von Jura fordert seit mehr als 30 Jahren die Unabhängigkeit des Kantons Jura von der Eidgenossenschaft. Einst wurde das von französischsprachigen Katholiken bevölkerte Jura dem Kanton Bern angegliedert, der größtenteils von deutschsprachigen Protestanten bevölkert ist. Doch die Anführer der Front sehen ein, dass die Chancen auf einen Sieg äußerst gering sind.

Die Assoziation der Magyaren von Vojvodina, einer autonomen Region in Serbien, die nur 35 Kilometer von Belgrad entfernt, fordert für Vojvodina den Status einer Republik, danach einen Volksentscheid über eine Abspaltung von Serbien und eine Konföderation mit Ungarn. Die Vertreter der Assoziation regieren fast 70 Prozent der Region. Ende März 2007 hat sich die Assoziation an die EU mit der Bitte gewandt, eine Mission „zur Analyse der Situation“ zu entsenden. Der ungarische Anteil der Bevölkerung von Vojvodina beträgt gegenwärtig über 40 Prozent.

Ein ähnliches Szenario entwickelt sich auch im rumänischen Transsilvanien, wo der Anteil der Ungarn mehr als 45 Prozent beträgt. 1940 bis 1945 war Transsilvanien ein Teil von Ungarn, 1919 bis 1939 gehörte es zu Rumänien und davor zu Österreich-Ungarn. Die Union für die Wiedergeburt des Ungarischen Transsilvaniens, die noch zu Ceausescus Zeiten geschaffen wurde, hat bereits Volksentscheide über die Autonomie veranstaltet, die zum Beispiel Ende März 2007 in drei transsilvanischen Landkreisen stattfanden. Die dortigen Ungarn haben für eine größtmögliche Autonomie von Bukarest und selbständige Beziehungen der Region zu Budapest gestimmt.

Auch auf der italienischen Insel Sardinien sowie in den hauptsächlich von Kroaten und Slowenen bevölkerten österreichischen Provinzen Steiermark und Kärnten sind „antikoloniale“ Zwischenfälle häufiger geworden. Die südalbanischen Griechen und die Bewohner der portugiesischen Azoren fordern auch aktiver Autonomie.

* Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 22. Dezember 2007


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