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Europa - 10 Jahre nach dem Kalten Krieg

"Keine gleichgewichtige, sondern eine gleichwertige Rolle gegenüber den USA steht auf der Tagesordnung" - Egon Bahrs friedenspolitischer Revisionismus

Zum 10. Jahrestag der deutschen Vereinigung widmete die Ausgabe 40 der Wochenzeitung "Freitag" diesem Ereignis ein ganzes Heft. Aus friedenspolitischer Perspektive verdient darin insbesondere ein Aufsatz von Egon Bahr Interesse. Egon Bahr war nicht nur der Architekt der sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik der späten 60 und frühen 70 Jahre gewesen, der unermüdliche Verfechter eines deutsch-deutschen Dialogs (Stichwort: "Wandel durch Annäherung"), er profilierte sich später auch als Kritiker der Atomwaffenpolitik der USA und förderte - als Direktor des Hamburger Friedensforschungsinstituts IFSH - auch die bundesdeutsche Friedens- und Konfliktforschung.

Egon Bahrs Argumentation bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen europäischer Emanzipation aus der US-Vormundschaft und einer sicherheitspolitischen Bindung an die USA. Dabei ist die Emanzipation sowohl politisch als auch militärisch gemeint - allerdings nur auf konventionellem Gebiet. Was die Atomwaffen betrifft, so plädiert Bahr dafür, sich weiterhin unter dem "Protektorat" der USA einzurichten; eine Europäisierung wäre unsinnig und auch gar nicht zu machen. Insoweit stellen die Thesen Bahrs nicht besonderes dar.

Interessant wird es, wenn er auf die Rolle Deutschlands zu sprechen kommt. Ob es tatsächlich so ist, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung an weltpolitischem Gewicht, zumindest an geostrategischer Bedeutung für die USA (und damit die NATO) verloren hat, möchte ich dahingestellt sein lassen. Jedenfalls bemüht sich die Bundesregierung - nicht erst seit Schröder/Fischer, aber unter Schröder/Fischer besonders forciert - ihr politisches Gewicht in der Welt zu erhöhen. Und es ist zu befürchten (ja, zu befürchten, denn von einer starken weltpolitischen Stellung Deutschlands resultierte noch nie Gutes), dass die Bundesregierung dabei Erfolge erringt. Der Einzug in den Sicherheitsrat als ständiges Mitglied wird, sollte er gelingen, dabei nur der äußere Schlusspunkt einer höchst wirkungsvollen Kampagne zur Anmeldung "deutscher" wirtschaftlicher und politischer Interessen in einer "globalisierten" Welt sein. Bahr leistet hierzu ideologische Unterstützung und ermuntert Berlin ausdrücklich, in ihrem Drang nach mehr Macht auf europäische Partner wenig Rücksicht zu nehmen. Der Schulterschluss mit dem Erzfreund Frankreich sollte für's Erste reichen, andere - vielleicht irgendwann einmal auch Großbritannien - werden sich diesem Kern oder dieser Lokomotive Europas dann schon anschließen müssen. Großmachtambitionen, die dahinter vielleicht vermutet werden könnten, werden von Bahr verbal elegant abgewehrt. Deutschland wünscht er sich "stark genug, um Entscheidungen gegen seinen Willen unmöglich zu machen und zu schwach, um seinen Willen aufzwingen zu können, wenn es dafür keine ausreichende Unterstützung gewinnt". Besonders demokratisch - im europäischen Kontext - ist das allerdings nicht. Geht man in der künftigen politischen Europäischen Union von Mehrheitsentscheidungen aus (darauf drängt z.B. die Bundesregierung), dann muss sich auch Deutschland überstimmen lassen können. Will es das nicht, dann muss es jedem anderen Land ebenfalls das Recht auf eine Vetoposition einräumen.

Auch wenn Bahr auf eine sehr sympathische Weise den militärischen Faktor herunterspielt und sich sogar darüber beklagt, dass im gegenwärtigen Prozess die "Sicherheitspolitik" immer vor der "Außenpolitik" rangiert, bleibt diese Kritik ohne Folgen. Im Gegenteil: Er unterstützt implizit den gegenwärtigen Umbau der deutschen und europäischen Streitkräfte, stellt sie allerdings - wider besseres Wissen - unter das Label "Verteidigung". Ein "Schild Europas" sollen sie darstellen, "aber nicht das Schwert Amerikas". Als Nebeneffekt stellt sich dabei die militärische Stärkung der USA ein: "Dann wäre Amerika weniger behindert, aber gedeckt, weil seine Kraft in Europa weniger gebraucht würde." Deutlicher kann man die Weltpolizistenrolle der USA nicht mehr rechtfertigen!

Bahrs Analyse enthält aus meiner Sicht eine gefährliche Portion friedenspolitischen Revisionismus': Die geforderte Veto-Stellung Deutschlands in Europa widerspricht demokratischem Denken, die Überlegung, den USA den Rücken für weltweite Interventionen militärisch frei zu halten, widerspricht dem geltenden Völkerrecht.

P. Strutynski


Nicht das Schwert Amerikas

EUROPA ZEHN JAHRE NACH DEM KALTEN KRIEG

Von Egon Bahr
Bei der Betrachtung Europas nach zehn Jahren der deutschen Einheit fällt mir die Frage des sowjetischen Außenministers Gromyko ein, die er mir Anfang Februar 1970 nach einem Essen in der Residenz des deutschen Botschafters gestellt hat. »Wann ist mit der politischen Union Europas zu rechnen?« Er fragte nicht, wann sie zu befürchten ist, aber so war es wohl gemeint. Meine ehrliche Antwort: »Wiedervorlage in 20 Jahren« mag ihn beruhigt haben oder nicht, sie löste jedenfalls in Bonn bei meinem Bericht den Tadel des Bundeskanzlers aus: »Du bist ein Defätist«. Inzwischen sind 30 Jahre vergangen und ich hoffe, dass Europa in zehn Jahren eine politisch handlungsfähige Union sein wird. Die USA haben sich von den entschlossenen Bekundungen während dieser 30 Jahre nicht beeindrucken lassen, dass Europa nun endlich mit einer Stimme sprechen will. Sie werden auch heute nicht wirklich beunruhigt sein, wenn es um die Debatte über den Reformbedarf der EU geht. Dass Kissinger die Telefonnummer Europas nicht kannte, wird auch der Nachfolger Clintons nicht als schmerzliche Wissenslücke empfinden.

Nur konventionell kann Europa souverän werden, atomar bleibt es Protektorat

Der Jugoslawien-Krieg hat wie jeder Krieg die realen Machtverhältnisse offengelegt. Alle konnten sehen, dass es keine Beleidigung, sondern Beschreibung der Realität darstellt, wenn Amerika sicherheitspolitisch Europa als Protektorat sieht. Nun soll in drei Jahren ein europäisches Korps stehen, das in Stärke von 60.000 Soldaten innerhalb von 60 Tagen in ein Krisengebiet verlagert werden und dort mindestens ein Jahr lang seiner Aufgabe nachkommen kann. Was zu Recht als Riesenaufgabe erscheint, zeigt - was Umfang und Zeitbedarf angeht - den Riesenabstand zu Amerika. Wenn diese Truppe in drei Jahren stehen sollte, wird sie weitaus weniger können als Amerika vor 20 Jahren konnte. Es kann deshalb keine Rede davon sein, dass damit »eine gleichgewichtige Rolle für die Fes ti gung europäischer Sicherheit« (Scharping) geschaffen werden könnte. Eine »gleichberechtigte Rolle« gegenüber den USA ist ein bescheideneres Ziel. Um die postulierte eigene Handlungsfähigkeit zu erreichen, braucht es eigene Kommando- und Führungsstrukturen, die nicht von der Zustimmung Amerikas, sprich: davon abhängen, was die NATO genehmigt. Eine eigene sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stößt auf das Interesse der Supermacht, sich nicht durch Kleinere majorisieren, in diesem Falle in keine Lage zwingen zu lassen, in der es ungewollte Verantwortung übernehmen müsste, falls die Sache schief läuft. Bisher haben die USA ein Einspruchsrecht, das man auch Veto nennen könnte.

Wer selbstständig handlungsfähig ist, ist auch verweigerungsfähig. Wenn Europa sich sicherheitspolitisch auf Europa konzentriert, Amerika auf seine globale Verantwortung, dann wird Europa auch weniger disponibel für globale Interventionswünsche mit dem Instrument der NATO. Dann wäre Amerika weniger behindert, aber gedeckt, weil seine Kraft in Europa weniger gebraucht würde. Falls Europa sicherheitspolitisch Subjekt werden will, müssen die Grenzen seiner Rolle, seiner Möglichkeiten und Absichten definiert werden.

Das beginnt damit, dass Europa nur konventionell souverän werden kann, atomar bleibt es Protektorat. Es wäre eine sinnlose Energieverschwendung, eine europäische Nuklearmacht anzustreben. Die Abschreckungswirkung Frankreichs und Großbritanniens reicht, zumal es den Verbündeten USA gibt. Das Interesse Europas sollte es sein, das Gewicht des atomaren Faktors politisch ständig zu verringern, es nicht etwa abschaffen zu wollen, weil das nicht in seiner Macht steht, sondern es langfristig überflüssig werden zu lassen. Europa erstrebt überdies keine selbstständige globale Handlungsfähigkeit. Es wird über das Gebiet seines definierten Interesses hinaus militärisch nur tätig, falls es einer Bitte der OSZE entspricht, unter Umständen dann auch ohne NATO-Beteiligung.

Ein europäisches Krisen-Reaktions-Korps stellt unter dem Gesichtspunkt der eigenen Handlungsfähigkeit den Kern einer europäischen Armee dar, die nicht den Ehrgeiz hat, global interventionsfähig zu werden, sondern fähig ist, von jedem konventionellen Angriff abzuschrecken. Sie sollte so modern ausgerüstet und so dislozierbar sein, dass sie keinen Vergleich zu den Nachbarn zu scheuen braucht, aber sich nicht an den militärischen Fähigkeiten der USA messen will: ein Schild Europas, aber nicht das Schwert Amerikas. Sie würde so zum Instrument einer europäischen Politik, doch nicht das Instrument entscheidet über die Handlungsfähigkeit Europas. Die Aufgabe, die politische Selbstständigkeit herzustellen, ist größer und dringlicher als die Struktur einer Armee.

Wer sich heute allerdings in der EU umsieht, kann den Eindruck gewinnen, als würde mehr Energie auf die Sicherheit und weniger auf die Außenpolitik verwendet, obwohl doch in der Buchstabenkombination GASP das A zu Recht vor dem S rangiert. Solana trägt den Hut des Generalsekretärs der WEU häufiger als den des außenpolitischen Koordinators. Noch immer gibt es nicht einmal die Ansätze einer gemeinsamen Kosovo-Politik der EU. Sie könnte zum Modellfall einer Führungsrolle werden, annehmbar für Amerika wie Russland und die anderen dort Beteiligten.

Heute ist die Türkei geostrategisch für die USA wichtiger als Deutschland

Gewaltverzicht war in der Zeit der Teilung eine deutsche Idee, der Amerika zustimmte, weil sie schließlich nicht schaden konnte, solange sie seinen starken Arm nicht belastete. Als ich kürzlich ein Mitglied des Planungsstabes im State Departement fragte, ob die USA heute einem Gewaltverzichtsvertrag beitreten würden, erhielt ich die kopfschüttelnd-fröhliche Antwort: »Natürlich nicht! Das käme uns abstrus vor«.

Gewaltverzicht war die vertragliche Umsetzung einer Erkenntnis: Die Stärke des Schwachen ist das Recht, das auch für Stärkere verbindlich ist. Es erscheint als Königsweg, wenn Europa seine Schwäche zu seiner Stärke macht, indem es durch Verträge, durch Kooperation, durch präventive Diplomatie eine Stabilität schafft, in der das Gewicht des Militärischen geringer wird, indem es von einer Abschreckungsfähigkeit immer mehr zu einer Garantiefähigkeit des Politischen entwickelt wird. Wenn Gewaltverzicht die Qualität eines Grundgesetzes für Gesamteuropa erhält, wird es für die EU möglich, sich auf Vertiefung und Erweiterung wie die Pflege seiner Wirtschaftskraft im globalen Rahmen zu konzentrieren. Ähnliches gilt für Russland und dessen ökonomische Erholung. Schließlich würde das Netz aus NATO-Russland-Akte, EU und OSZE mit den KSE-Vereinbarungen (*) bedeuten, dass praktisch jeder Staat in Europa gleiche Sicherheit erhält, ob er Mitglied der NATO ist oder nicht. Gewaltverzicht und gemeinsame Sicherheit galten übrigens seit Helsinki aus guten Gründen für alle Staaten - für demokratisch, weniger demokratisch, autoritäre und diktatorisch verfasste, plan- und marktwirtschaftlich regierte. Das gilt nicht nur im Blick auf Serbien noch immer, wenn Frieden und Stabilität prioritär sein soll.

Gesamteuropäische Stabilität ist ein Stück wachsender europäischer Unabhängigkeit. Auch deshalb könnten die USA es vorziehen, auf der Dominanz der von ihnen dominierten NATO zu beharren und nicht böse zu sein, wenn das Schutzbedürfnis der Europäer etwa durch Spannungen mit Russland wächst. Hier zeigen sich unterschiedliche Interessen. Während des Ost-West-Konflikts war Deutschland für Amerika von erstrangiger Bedeutung. Heute ist die Türkei geostrategisch für die USA wichtiger als Deutschland. Vor wenigen Jahren lehnte Verteidigungsminister Rühe jeden Bundeswehreinsatz in einem Land ab, in dem einmal die Wehrmacht gewesen ist - heute findet ein deutscher General, der die KFOR-Streitkräfte kommandiert hat, Anerkennung im Kosovo. Damals bot Präsident Bush Bonn partnership in leadership an - heute denkt niemand daran, Gleiches gegenüber Berlin zu tun. Und ein politisches Europa, auf das ein solches Angebot übertragen werden könnte, gibt es nicht.

Nun da Amerika die einzige Supermacht ist, hat Henry Kissinger zum Dilemma erklärt, »dass wir das überlegenste Land sind, das je existiert hat: militärisch, wirtschaftlich und kulturell«. Das ist wahr - auch in dieser Reihenfolge. Überheblichkeit und Arroganz, die daraus auch resultieren, sollten Europa nicht davon abhalten, seine unterschiedlichen Stärken der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Kultur zu behaupten. Es wäre töricht, ausgerechnet auf militärischem Gebiet »Amerika-ähnlicher« werden zu wollen. Europa ist nicht militärisch durch Amerika bedroht. Zu welchen Zwecken sollte es der überwältigenden Stärke der USA ein wachsendes Eigenpotenzial bloß hinzufügen? Während Amerika eine militärische Kulisse aufbaut, bleibt Europa nur, eine politische Kulisse zu entwickeln, damit die militärische nicht benutzt werden muss. Die Selbstbestimmung Europas schrumpft, wenn die Spannungen wachsen, und verschwindet mit dem Ausbruch offener Gewaltanwendung. Krieg ist der Feind Europas.

Kein vitales außenpolitisches Interesse Europas, das dem deutschen widerspricht

Doch so wie ein Volljähriger, der sich emanzipiert, nicht zum Feind seiner Eltern wird, hat Europa die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Nicht gegen Amerika, aber eben eigenständig. Dafür ist Frankreich zum wichtigsten Partner Deutschlands geworden. Genauer: Die mögliche Selbstbestimmung Europas hängt davon ab, ob diese beiden Länder ihre Interessen zu gemeinsamer außenpolitischer Handlungsfähigkeit bündeln und dann vereinen können. Keine Regel der EU verbietet das. Wenn die Lenker der beiden Wagen, die heute zum Teil auf unterschiedlichen Wegen fahren, sich auf ein Doppelgespann verständigen, wird daraus bald ein Vierer- oder Sechser-Zug werden. Es ist nicht zu empfehlen, auf eine Troika zu warten - also darauf: ob Großbritannien sich Amerika oder Europa näher fühlt oder wann der Dauerspagat zu schmerzhaft wird. Das deutsch-französische Gespann würde nicht einmal entbehrlich, wenn in einigen Jahren die EU vertieft und erweitert ist.

Damit wird auch der Standort der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik überschaubar. Es gibt kein vitales außen- und sicherheitspolitisches Interesse Europas, das dem deutschen widerspricht - die deutschen Interessen können europäisch definiert werden. Für die vorhersehbare Zukunft wird damit die deutsche Politik zuverlässig und berechenbar.

Was das Gewicht des vereinten Deutschland angeht, so ist Sorge deshalb nicht mehr zu spüren, weder vor einer wirtschaftlichen Dominanz, nachdem die DM im Euro aufgeht, noch vor einer militärischen Bedrohung, nachdem die Bundeswehr NATO-gebunden ist. Die Frage der vergangenen 100 Jahre, wie die unheimliche Kraft dieser Deutschen beherrschbar wird, existiert nicht mehr. Es mutet fast antiquiert an, wenn Kissinger 1994 eine Aufgabe darin sah, Frankreich und Großbritannien zu unterstützen, ein Gegengewicht zu Deutschland aufzubauen, um seine Macht einzuhegen. Nur im Blick auf das vergangene Jahrhundert ist noch die Gefahr erkennbar, dass eine deutsch-russische Fixierung aufeinander die Furcht vor einem Kondominium schüren oder ein Streit zwischen beiden Europa in eskalierende Krisen verwickeln würde. Das ist Vergangenheit - Gegenwart und Zukunft werden darüber entscheiden, ob und wie Europa im Spannungsfeld zwischen Amerika und Russland Handlungsfähigkeit gewinnt.

Dabei fällt auch ins Gewicht, dass Europa die deutsche Einheit »verdaut« hat. Das beweist nicht zuletzt die bemerkenswerte Tatsache, dass die Bundeswehrreform kein Thema ist, das irgendeinen Nachbarn beunruhigt. Im Ausland würde niemand nervös werden, wenn Berlin zu dem Ergebnis käme: So klein, so gefährdet und so souverän wie Schweden sind wir nicht, das seine Streitkräfte halbiert, die Landstreitkräfte um zwei Drittel, um die Luftwaffe in voller Stärke zu erhalten und die notwendige Modernisierung auf zehn Jahre zu planen. Das entspricht der Bedrohungsanalyse eines EU-Landes, das nicht Mitglied der NATO ist und durch diese Reform nichts an Sicherheit verlieren wird. Ob Berlin die Bundeswehr reformiert, angepasst an NATO-Perspektiven oder an Aufgaben der europäischen Sicherheitsunion, in Tuchfühlung mit Washington oder Paris, das wird politisch viel interessanter sein als militärisch.

Die gewachsene Verantwortung Deutschlands definiert sich in seinem politischen Einfluss in Europa: Stark genug, um Entscheidungen gegen seinen Willen unmöglich zu machen und zu schwach, um seinen Willen aufzwingen zu können, wenn es dafür keine ausreichende Unterstützung gewinnt. Beispiele für beides gab der Krieg gegen Jugoslawien. Zum einen: Die deutsche Entscheidung, keine Bodentruppen zur Verfügung zu stellen, ohne Furcht vor einem Alleingang getroffen, aber klugerweise nicht plakativ verkündet, war praktisch vetoähnlich. - Zum anderen: Allein die deutsche Regierung hatte den Mut, ungeachtet der beschlossenen Bündnisstrategie, die auf die Kapitulation von Belgrad ausgerichtet war, einen Fünf-Punkte-Plan vorzuschlagen, der Russland wieder ins Boot holte, von China akzeptiert wurde, ein Mandat der UN dafür erreichte und ein verhandeltes Ende des Krieges brachte. Amerika ist - warum auch immer - der europäischen Methode von Diplomatie und Gewaltverzicht nicht in den Arm gefallen. Jedenfalls ist Deutschland frei und unbelastet genug, europäischen Interessen zu folgen. Ob es dazu mutig und klug, selbstbewusst und geschickt genug sein wird, dürfte spannend zu beobachten sein.
(*) Vertragswerk über die konventionelle Abrüstung in Europa

Aus: Freitag Nr. 40, 29.09.2000


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