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Die Gretchen-Frage:

Der Nord/Südkonflikt und die EU-Verfassung

Von Gudrun Chatterjee*

Vordergründig gelesen, fallen in dem vorliegenden Entwurf einer "Verfassung für Europa" ins Auge: Die Militarisierung und der über allem schwebende neoliberale Markt mit den vielfältigen Implikationen des entfesselten Kapitalismus. Sie stellen einen untrennbaren Problemkomplex dar. Deshalb sind beide im selben Atemzug zu kritisieren und sind auch in diversen Veröffentlichungen eingehend beleuchtet worden.

Da ich der Überzeugung bin, dass sie beide nur Symptome eines viel tiefer liegenden Übels sind, welches im vorliegenden Entwurf noch mehr Symptome erkennen lässt, sehe ich ebensolche Gefahren in der in ihren Grundzügen autoritär-antidemokratischen Konzeption. Zudem ist das Papier - ein weiteres Symptom des Grundübels - durchtränkt vom Sozialdarwinismus und - eine Jahrhunderte lang bekannte Erbkrankheit der Europäer - vom Nord/Süd-(West/Ost-)Darwinismus, der den Umweltaspekt einschließt. Diese Weichen-Neustellungen würden, wenn wir sie zuließen, unser deutsches Grundgesetz zum Teil aushebeln.

Da ich mich möglichst kurz fassen möchte, will ich hier nicht alle Stellen zitieren, die meine Thesen belegen; es ist genug von Berufenen veröffentlicht worden. Wer will, kann im Entwurf nachlesen.

Das Menschenbild in der entworfenen EU-Verfassung ist nicht das des emanzipierten Individuums mit Rechten, die über Jahrhunderte seit der von Politikern gerade im Zusammenhang mit den "Entwicklungsländern", insbesondere den islamischen, gern im Munde geführten Aufklärung unter schweren Opfern erkämpft worden sind. Dieses Menschenbild legt nicht Ebenbürtigkeit, platter gesagt: Gleichberechtigung in jeder Sphäre zu Grunde mit Entfaltungsmöglichkeiten, die Raum bieten für die autonome, nicht korrumpierbare reife demokratische Persönlichkeit mit aufgeklärten Grundrechten und global verbrieften Menschenrechten. Eine solche Verfassung dient nicht der Prävention von politisch erzeugten physischen und psychischen Zerstörungsleiden, wie wir sie bei einem großen Teil der Menschheit beobachten.
  • Wenn im Gefolge von Neoliberalismus, Militarismus und Plutokratie die Spielregel für die Menschen Repression nach innen (bis hin zu den Äußerungen von Herrn Beckstein über "Kategorien des Rechts" [im Kampf gegen den Terror] "die etwa den finalen Rettungsschuss regeln", während Herr Schily sinniert über die "sehr heikle Frage", ob "im äußersten Fall auch die Tötung einer Person als Notwehr zu rechtfertigen ist"; Äußerungen über Folter bzw. deren Androhung, die nicht nur von Daschner, Koch und Wolffsohn, sondern auch von Lafontaine berichtet werden) und Aggression nach außen ist,
  • wenn die Lebensallmende privatisiert (Carl Amery, [1]), an eine hauchdünne (Geld-)Macht-Elite verhökert wird,
  • wenn Heuchelei den geplanten Ressourcenraub und die Ausplünderung der Lebensgrundlagen der Menschen des Südens (und Ostens): Nahrung, Wasser, Transport, Banken, Bildung, Gesundheit, Alterssicherung, Umwelt ... (in dieser Hinsicht übertrifft die EU in ihrer Vorreiterrolle schon jetzt die USA!) als humanitär verkaufen will,
  • wenn uns weis gemacht wird, wir wollten mit Krieg Frieden "schaffen", nachdem wir selber den Nährboden für Verwerfungen und Konflikte bereitet haben,
dann meine ich, wir EuropäerInnen müssten mit mindestens solchen Demonstrationen, Aktionen und politischem Lobbying wie vor Beginn des Irak-Kriegs alles in unseren Möglichkeiten Liegende tun, um diesen Verfassungsentwurf zu verhindern.

Gerade hat anlässlich des Atomkongresses der IPPNW in Berlin Bernhard Lown [2], einer der Mitbegründer dieser Organisation, eindringlich den Nord-Süd-Konflikt neben der atomaren Bedrohung und dem US- Militarismus als vordringlichstes Aufgabenfeld für unsere zukünftige Arbeit bezeichnet.

Bezüglich des Nord/Süd- (wie auch bezüglich des West/Ost-)-Themas kommen wir angesichts dieses Verfassungsentwurfs um die Gretchenfrage nicht herum:
"Nun sag, wie hast du´s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub´, du hältst nicht viel davon... ."
Nun müssen wir sagen, wie haben wir´s mit der Ebenbürtigkeit, wenn es um das Nord/Süd- (und West/Ost)-Gefälle des Wohlstands geht, das uns, verglichen mit den Menschen des Südens (und Ostens) nach Jahrhunderte langer Ausbeutung durch uns (West-)Europäer (siehe Noam Chomsky [3], S.65 ff), auf einer Insel der Seligen leben lässt. Wenn es darum geht, das Gefälle nicht nur ein wenig zu verringern, sondern aufzuheben, vielleicht halten wir dann nicht viel davon, obgleich wir eigentlich herzlich gute, humanitäre Menschen sind. Denn die Ressourcen unseres Globus sind endlich, und teilen, um Frieden zu ermöglichen, bedeutet bekanntlich, etwas aus der einen Waagschale in die andere legen.

Wenn wir von Ebenbürtigkeit reden, kann es keine neoliberale EU-Verfassung geben, sondern nur vollkommen gleiche Bedingungen in Nord und Süd (Ost und West), einschließlich des dann wirklich freien Marktes. Dann werden keine Almosen und keine "humanitären" Mininukes, Folterknechte und Bulldozer nötig sein. Es sei denn, die Saat geht auf, die wir auch jetzt täglich legen, die Saat des Anthropo-Darwinismus, beispielsweise mit unserer aufgeklärten Unterstützung der völkerrechtswidrigen Kriege der USA, zuletzt im Irak und in Afghanistan mit Kriegsverbrechen noch und noch, mit Folter und DU-Verstrahlung auf Jahrtausende und mehr. Beispielsweise auch mit der Unterstützung der verbrecherischen Politik der israelischen Regierung in Palästina: Dauerbesatzung, Landraub, Lynchjustiz und Sippenhaft.

Es sei denn, diese Saat geht auf trotz unserer verspäteten Rückbesinnung auf das, was nach dem 2. Weltkrieg zu dem humanen, demokratischen deutschen Grundgesetz führte, das jetzt auf dem Spiel steht. Doch wenigstens diese verspätete Rückbesinnung fordere ich ein!

Noch immer bin ich bei den Symptomen. Und nun meine Verdachtsdiagnose bezüglich der diesen allen zu Grunde liegenden Krankheit.

Wenn ich mich nicht irre, ist das Charakteristikum des Nazi-Faschismus die Herrenmenschen-Ideologie mit ihren logischen Folgen: Begünstigung der "Werten" auf Kosten der "Unwerten", d. h. Selektion, Militarismus und Expansionismus, die Gewalt als erste Option, Autoritarismus der Mächtigen, Repression nach innen, eine Propaganda, die den schweigenden oder jubelnden Massen das Nötige einhämmert mittels Lüge und Populismus, der bis ins Religiöse gehen kann, Primat "werter" Einzelner und ihrer Endziele unter eventueller Opferung des Individuums, das ohnehin in der Masse von Pflastersteinen untergeht.

Der vorliegende Verfassungsentwurf impliziert Opferung des Gemeinwohls zu Gunsten ideologischer Ziele einer (Geld-)Macht-Elite. Es graust mich auszusprechen: Aber sind nicht als Grundkrankheit faschistoide Züge zu erkennen in dem, was von den Politikern weithin mit Schweigen übergangen wird und was uns eilig übergestülpt werden soll? Werden wir später sagen können, wir hätten nichts gewusst?

Schon vor Jahren schreckte mich das gespenstisch-überzeugende Buch "Hitler als Vorläufer" von Carl Amery [4] auf. Amery beschreibt Hitlers Konzept als ein "Programm, das einerseits dem Herrenvolk Macht und Wohlstand durch permanente Aggression versprach, andererseits die Begrenztheit der globalen Ressourcen durch die entsprechende Unterdrückung und Dezimierung der Sklavenvölker hintanhalten würde... ." Vielleicht tröstlich, mit Sicherheit aber aufscheuchend, stellt uns sein Buch im Hinblick auf diesen Verfassungsentwurf umso mehr vor die Entscheidung: "War Hitler ein Vorläufer? Ob er es werden kann, liegt an uns..."

Literatur
  1. Carl Amery: "Global Exit" Luchterhand, 2002
  2. Bernard Lown: "American Militarism, the New World Order and IPPNW" http://www.ippnw.org/NeverWhisper.html
  3. Noam Chomsky: "Year 501:The Conquest Continues" South End Press, Boston, 1992
  4. Carl Amery: "Hitler als Vorläufer", Sammlung Luchterhand, 1998, 2002
* Gudrun Chatterjee ist Mitglied der IPPNW, Arbeitskreis Nord/Süd


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