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"Ein ganz besonderer Tag"

Volksbegehren könnten künftig zur europäischen Politik gehören. Noch aber gibt es mehr Fragen als Antworten. Auch in Brüssel.

Von Uwe Sattler, Brüssel *

Die Festlegungen zu »Europäischen Bürgerinitiativen« sind aus der gescheiterten EU-Verfassung in den Vertrag von Lissabon gerettet worden. Mit diesen Volksbegehren sollen die »europäischen Bürger« deutlich mehr Mitsprache in Brüssel erhalten. Noch allerdings fehlen Regelungen für die Umsetzung der Initiative. Darüber berieten in der vergangenen Woche Europaabgeordnete mit Vertretern der Zivilgesellschaft.

Am Ende waren alle zufrieden: Der SPD-Politiker und Vorsitzende des konstitutionellen Ausschusses Jo Leinen, der ins Brüsseler Europaparlament eingeladen hatte, die Delegierten von Nichtregierungsorganisation und Abgesandte von europäischen Verbänden, die Abgeordneten, Rechtswissenschaftler und nicht zuletzt die Berichterstatterin zum Thema »Europäische Bürgerinitiative« – die Europaabgeordnete der deutschen LINKEN Sylvia-Yvonne Kaufmann.

Festlegung im Konvent durchgeboxt

»Heute ist ein ganz besonderer Tag«, leitete Kaufmann ihre Rede an die etwa 100 Gäste im weiträumigen Auditorium Anna Lindh – benannt nach der im September 2003 ermordeten schwedischen Außenministerin – ein. Schließlich sei es fast genau fünf Jahre her, dass der Konvent zur Ausarbeitung der EU-Verfassung, dem Vertreter der »offiziellen« Politik aus Regierungen, Parlamenten und EU-Institutionen ebenso wie jene der Zivilgesellschaft angehörten und in dem auch die Linkspolitikerin saß, den Paragrafen zu den Volksbegehren in den Textentwurf schrieb. In allerletzter Minute und nach hartem Ringen übrigens: Erst in der Schlusswoche der Konventsberatungen konnten sich die Mitglieder der »Informellen Arbeitsgruppe Bürgerbegehren« mit ihrem Vorschlag durchsetzen. »Regierungen neigen dazu, sich zwischen den Wahlen von ihrer Bevölkerung gestört zu fühlen«, erklärte der Europarechtler Prof. Jürgen Meyer, der auch heute noch den konstitutionellen Ausschuss des EU-Parlaments in Sachen Volksbegehren berät, das Desinteresse in Europas Hauptstädten gegenüber der Initiative.

Dabei wären aber gar nicht die Regierungen die Adressaten der nach ihrer englischen Bezeichnungen European Citizens' Initiative auch ECI abgekürzten Bürgerbegehren. »Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen«, heißt es in Artikel 11 des Lissabonner EU-Vertrags. Praktisch hieße das, dass eine Million Menschen in der Gemeinschaft mit ihrer Unterschrift die Brüsseler Kommission zwingen könnte, Vorschläge für »europäische Gesetze« vorzulegen, mit denen beispielsweise das Lohndumping bekämpft oder Spekulationsgeschäfte an den Börsen besteuert werden könnten. Bisher steht das Initiativrecht für Verordnungen und Richtlinien ausschließlich der Europäischen Kommission zu, die natürlich letztlich im Dienste der Regierungen handelt und die politischen und wirtschaftlichen Vorgaben der EU-Gipfel umsetzt. Das Quorum von einer Million Unterschriften, um den Hebel in Brüssel anzusetzen, ist dabei gar nicht so hoch, wie es im ersten Moment scheint: Die Zahl entspricht gerade einmal 0,2 Prozent der EU-Bevölkerung.

Eine kaum zu beherrschende »Masseninitiative«, wie von einigen Kritikern behauptet, ist die ECI damit nicht. Und auch mit dem Recht jedes Bürgers und von »juristischen Personen«, sich mit einer Petition an das Europäische Parlament zu wenden, darf sie nicht verwechselt werden. »Da gibt es noch viele Missverständnisse, auch hier im Parlament«, räumte Sylvia-Yvonne Kaufmann ein. Denn anders als bei den Beschwerden, die nicht selten folgenlos bleiben, handele es sich bei den Volksbegehren um ein völlig neues und länderübergreifendes Rechtsinstrument in der Europäischen Union. »Die ECI ist ein Türöffner zu mehr direkter Demokratie in der EU und es geht darum, diese Tür möglichst weit aufzustoßen«, so Kaufmann.

Unterschriftenlisten verstauben in Archiven

Ganz so leicht, wie dies alles klingt, ist die Sache aber nicht. Der Europäische Behindertenverband hat schon einmal geübt. Zu Beginn des vergangenen Jahres, dem von der EU ausgerufenen Europäischen Jahr der Chancengleichheit, startete das Forum die Kampagne »Eine Million für Behinderte«, berichtete Carlotta Besozzi in der Anhörung. Auf einer Internetseite und in »Straßensammlungen« in allen EU-Mitgliedsländern konnten die Bürger mit ihrer Unterschrift die Forderung nach Gleichberechtigung von Behinderten in allen gesellschaftlichen Bereichen unterstützen. »Am Jahresende waren es sogar 1,3 Millionen Signaturen, die wir der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Margot Wallström, unter großer Aufmerksamkeit der Medien übergeben konnten«, erklärte Direktorin Besozzi stolz. Inzwischen lagern die Pakete jedoch in den Archiven der Generaldirektion Beschäftigung und Soziales der Kommission. »Als wir nachfragten, was denn nun mit den gesammelten Unterschriften geschehen würde, sagte man uns: ›Wollen Sie die Listen zurück?‹«

Rechtsfolgen noch ungeklärt

Tatsächlich sind die Rechtsfolgen der Unterschriftenaktionen eines der ungelösten Hauptprobleme im Zusammenhang mit den ECI. Die Formulierung, die Kommission müsse »geeignete Vorschläge« unterbreiten, lässt Deutungen offen. Auf keinen Fall reiche es aus, meinte die Brüsseler Runde, dass die Kommission das Bürgeranliegen nur diskutiere und dann in der Schreibtischschublade »versenke«. »Brüssel« müsse schon entsprechende Handlungsvorschläge unterbreiten. Der Ausschussvorsitzende Jo Leinen warnte allerdings vor Illusionen: »Die Kommissions-Empfehlungen werden nicht hundertprozentig mit der jeweiligen Initiative übereinstimmen. Die ECI ist ein qualifiziertes Vorschlags- und kein Entscheidungsrecht.«

Selbst wenn die im Anna-Lindh-Saal anwesenden Nichtregierungsorganisationen nur einen kleinen Teil der europäischen Zivilgesellschaft vertraten, war die von ihnen zusammengetragene Liste offener Fragen lang. Sie verwiesen auf die Kosten der Unterschriftenaktionen – in Spanien zahlt der Staat zehn Cent Aufwandsentschädigung pro Signatur –, auf die Notwendigkeit der Listenprüfung – Meyer empfiehlt nur bei konkreten Anhaltspunkten für Missbrauch eine Einzelfallprüfung –, auf die Schwierigkeiten, das Bürgerbegehren publik zu machen – parallel zu nationalen Medien könnte dies auch über die Webseiten beispielsweise des EU-Parlaments geschehen. Ungeklärt ist ebenso, was sich hinter der Festlegung einer »erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten«, aus der die Unterzeichner kommen müssen, verbirgt. Die Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer ging von vier bis sechs Ländern aus – beim jetzigen Stand von 27 EU-Mitgliedern. Ewoud Roes sah noch ein ganz anderes Problem: »Die Altersgrenze für die Kampagnen sollte nach unten offen sein«, meinte der Vertreter des Europäischen Jugendforums. »Viele Fragen der europäischen Bildungs- und Beschäftigungsstrategie betreffen ganz direkt die Jugendlichen. Dann sollten die auch mitentscheiden können.«

Auf ein Problem allerdings haben weder die Zivilgesellschaft noch das Europäische Parlament Einfluss: Was wird geschehen, wenn der Lissabonner Vertrag nach dem Nein der irischen Bevölkerung gar nicht in Kraft tritt? Dann wäre wohl ein weiterer Rettungsversuch für das Volksbegehren fällig – im Interesse der »europäischen Bürger.

* Aus: Neues Deutschland, 23. September 2008


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