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Retten oder abschaffen

30-Stunden-Woche und Vollbeschäftigung: Kann Wunschdenken Auswirkungen der Euro-Krise beheben? Ein Debattenbeitrag

Von Pierre Lévy, Paris *

Professor Mohssen Massarrat plädierte vergangene Woche in der jungen Welt (25. Juli) für eine »sozialere und stabilere EU«. Zugleich wandet er sich gegen einen möglichen Euro-Austritt. Zwar räumte er ein, Oskar Lafontaines Analyse zu diesem Problem sei zutreffend. Dessen ursprünglicher Lösungsvorschlag jedoch – eine EU-Lohnkoordinierungspolitik, die jetzt vom Tisch ist – greife »zu kurz«. Lohndumping könne nur mit Vollbeschäftigung verhindert werden. Dafür werde, so Massarrat, die 30-Stunden-Woche benötigt. Diese muß kritisch hinterfragt werden. [Zum Artikel von Massarrat geht es hier!

Nehmen wir zuerst die 30-Stunden-Woche (übrigens: warum 30 und nicht 32,5 oder 25 oder sogar 20 Stunden?). Wenn das als soziale Forderung betrachtet wird, kann bezweifelt werden, daß sie die vorrangigen Hoffnungen der Arbeiter und Angestellten abbildet – sowohl in Deutschland als auch in Frankreich oder anderswo. Vielmehr dürfte deren Kampf auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen fokussiert sein. Und natürlich fürchten die Beschäftigten die weitere Prekarisierung, die Millionen von ihnen bedroht. Insofern stoßen Massarrats Wünsche auf ein grundsätzliches Problem: Soziale Errungenschaften sind Resultat sozialer Kämpfe. Sie werden der Arbeiterklasse sicher nicht »von oben« gewährt.

Wenn die 30-Stunde Woche aber als wirtschaftliches Mittel, Arbeitsplätze zu schaffen, betrachtet wird, sind auch hier Zweifel angebracht. Dahinter verbirgt sich wohl eher der unter Sozialdemokraten sehr verbreitete Glaube, je kleiner man die Teilstücke eines Kuchens macht, umso zahlreicher sind diejenigen, die einen Anteil bekommen können (ein unter dem Namen »Verteilung der Arbeit« bekannter Begriff). In dem Fall wird die Größe des Kuchens – die gesamte Beschäftigung – als konstant betrachtet. Was falsch ist. Im Gegenteil, die Erhöhung der Kaufkraft ist ein wichtiger Wachstumsfaktor und damit der Entwicklung der Vollbeschäftigung.

In Frankreich haben wir das erlebt: Als 1997 die »linke« Regierung unter Premier Lionel Jospin die Arbeitszeit verkürzt hat, um die 35-Stunden-Woche umzusetzen, hat das zur Intensivierung der Arbeit und zur Verdichtung und Flexibilisierung der Arbeitsprozesse geführt. Den »Arbeitgebern« wurden zudem so viel öffentliche Gelder wie nie zuvor gezahlt – angeblich um die »Lohnnebenkosten« auszugleichen. Von neuen Arbeitsplätzen war kaum etwas zu sehen.

Nehmen wir jedoch einmal an, die 30-Stunden-Woche wäre sowohl wünschenswert als auch im besagten Sinne wirksam. Dann bliebe nur ein Detail: Kann jemand ernsthaft glauben, daß sie, unter den heutigen Kräfteverhältnissen und in einer absehbaren Zukunft, in einem Land durchzusetzen ist? Massarrat schlägt nicht weniger vor, als sie … in der ganzen EU einzuführen. Das wäre »des Rätsels Lösung«. Aber auch wenn man das (vielleicht) bedauert, es ist trotzdem so: Eine »Lösung«, die nicht umgesetzt werden kann, ist in der Tat keine.

Politische Wahl

Ist das Wort »Lösung« hier also wirklich angebracht? Wer »Lösung« sagt, der sagt »Problem«. Die Einheitswährung Euro und die Folgen aus seiner Einführung sind tatsächlich kein wirtschaftliches »Problem«, sondern Resultat einer eine politischen Wahl. Für die großen Unternehmen (vor allem die deutschen, aber sicher nicht nur die) hat der Euro eine Menge zusätzlicher Profite gebracht. Für die Völker (vor allem in den Südländern des Währungsraumes, aber nicht nur dort) eine Menge sozialer Grausamkeiten. Das sind keine »Probleme«, sondern genau die Ergebnisse, auf die die Währungsunion von Anfang an abgezielt hat – natürlich nicht offiziell.

Um diesen Mechanismus zu verstehen, muß an das Motto der Euro-Befürworter erinnert werden: »Wenn etwas mit der EU schiefgeht, läge das nur daran, daß »wir nicht genug Europa haben«. Einzige Lösung: »Wir brauchen mehr Europa.«

Vor 55 Jahren wurde uns mit den Römischen Verträgen blühende Landschaften versprochen. Aber damit diese wirklich endlich erblühen konnten, wurde 1986 der Gemeinsame Markt umgesetzt. Glück und Fortschritt waren also nach vielen Jahren nicht zu sehen? Klar, es fehle uns eine Währungsunion, hieß es nun, und sie wurde eingeführt. Zwar funktioniert die nicht ganz wie versprochen. Doch gut, hieß es dann, das hatten wir schon bei der Schaffung der Einheitswährung geahnt: Der Euro habe einen »Geburtsfehler«. Der könne nur mit einer Einheitsregierung (»politischer Union«) behoben werden (dazu gehört die angestrebte Bankenunion), um endlich seine unvergleichlichen Vorteile zu zeigen.

Diese Art von »Pädagogik« wird immer noch praktiziert, und zwar von zwei Seiten. Die eine ist das Kapitallager. Dort weiß man genau, wohin der Euro gehen soll.

Die andere Seite ist das sogenannte linke Spektrum, das den Euro »retten« will. Diese Rettung bedürfe der Verringerung der Produktivitätsunterschiede zwischen den EU-Ländern und zwar durch »Ausgleichsmaßnahmen zur Technologie-, Wissenschafts- und Infrastrukturförderung in den Südstaaten der EU«, so auch Professor Massarrat. Eine Euro-Abschaffung prangert er deshalb in seinem Beitrag als »rückwärtsgewandt« an. Also gelte, vorwärts immer, rückwärts nimmer? Aber wohin?

* Unser Autor ist Chefredakteur der französischen Monatszeitung Bastille-République-Nations. Er arbeitet eng mit jW zusammen.

Aus: junge Welt, Dienstag, 30. Juli 2013


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