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"Tritt ein Staat aus, isoliert er sich"

Die Richterin Renate Jaeger über Diplomatie als Druckmittel


Renate Jaeger wurde 1940 in Darmstadt geboren. Sie studierte Rechtswissenschaft, war Sozial-, dann Verfassungsrichterin und wurde 2004 zur Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt. Dort endet ihre Amtszeit am 31. Dezember 2010. Antje Stiebitz sprach mit ihr für das "Neue Deutschland" (ND) über die Möglichkeiten und Grenzen des Gerichtshofs.

ND: Im Europarat wird viel diskutiert und beschlossen, aber politisch hat er keine Handhabe. Welche Möglichkeiten hat der Gerichtshofs für Menschenrechte?

Jaeger: Der Europarat ist ein völkerrechtliches Gremium, und da zählen diplomatische Druckmittel. Dazu gehört unter anderem die Prangerwirkung. Wenn Staaten beispielsweise aufgefordert werden, zu Berichten der Folterkommission Stellung zu nehmen, hat das durchaus Wirkung.

Der Gerichtshof ist hinsichtlich der Vollstreckung genauso auf internationalen Druck angewiesen. Das Ministerkomitee überwacht, ob die Urteile angemessen umgesetzt werden. Die Botschafter der Mitgliedstaaten beim Europarat, in Vertretung der jeweiligen Außenminister, fordern, wenn sie ein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, den betreffenden Staat auf, das Komitee zu informieren, welche Maßnahmen er zur Umsetzung getroffen hat.

Der Gerichtshof hat praktisch keine exekutive Gewalt?

Nicht im Sinne von Polizeigewalt und Gerichtsvollziehern. Aber wenn der Gerichtshof beispielsweise eine Abschiebung stoppt, dann halten sich die Staaten daran. Im Augenblick werden Abschiebungen von Flüchtlingen und Asylbewerbern nach Griechenland durch vorläufige Maßnahmen nach Artikel 39 der Verfahrensordnung in den entsprechenden Fällen ausgesetzt. In vielen Fällen werden Rückführungen nach Irak ausgesetzt. Wir können davon ausgehen, dass sich die Staaten an solche Anordnungen halten.

Das heißt, Sie appellieren an den guten Willen der Staaten?

Daran, dass die vertragliche Verpflichtung eingehalten wird. Wenn ein Staat völlig ausschert, kann er aus dem Europarat ausgeschlossen und es können ihm Stimmrechte entzogen werden. Tritt er aus dieser Menschenrechtsgemeinschaft aus, isoliert er sich. Das hat außenpolitische Folgen und jeder Staat überlegt es sich gut, ob er er das tut. Warum wollte Russland beispielsweise beitreten? Die Staaten sehen einen Vorteil in ihrer Mitgliedschaft.

Was passiert, wenn es zu einer Kollision zwischen nationalem Recht und der Rechtsprechung des Gerichtshofs kommt – wie im Fall der Sicherheitsverwahrung in Deutschland?

Die Verurteilung eines Staates ist ein Zeichen dafür, dass etwas nicht funktioniert. Die Gesetze, eine bestimmte Verwaltungspraxis oder einzelne Gerichtsurteile kollidieren mit der Konvention in der Auslegung durch den Gerichtshof. Das ist die Basis jeder Verurteilung und nichts Besonderes im Falle der Sicherungsverwahrung.

Das heißt, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs wiegt schwerer?

Nach Artikel 1 der Konvention sind die Staaten verpflichtet, die Urteile des Gerichtshofs umzusetzen. Das heißt, sie selbst haben einen Teil ihrer Souveränität abgegeben. Die Frage ist, ob diese Urteile über den Einzelfall hinaus Bindungswirkung haben. De facto haben sie das in sehr vielen Fällen, de jure kann man in manchen Fällen darüber streiten. Aber in jedem Einzelfall, den der Gerichtshof entschieden hat, muss das Urteil befolgt werden.

Sie verlassen den Gerichtshof bald.

Ja, und ich bin angesichts der Arbeitslast auch froh darüber. Aber ich wünsche mir, dass der Gerichtshof trotz der vielen Verfahren überlebt. Am Allerwesentlichsten finde ich, dass in den einzelnen Staaten Verfassungsgerichte installiert werden, die auf Individualbeschwerde Menschenrechtsprüfungen vornehmen können. Dass also in jedem Land selbst eine Kontrolle der Menschenrechte stattfindet. Denn es kann nicht sein, dass der Gerichtshof für 800 Millionen Menschen den Rechtsschutz sicherstellt. Es kann nur darum gehen, dass er überprüft, ob in den Ländern im jeweiligen Fall im Einklang mit der Konvention entschieden wurde. Dazu ist eine Verfassungsgerichtsbarkeit nötig, doch die fehlt in vielen Staaten noch. In anderen können sich die Menschen nicht direkt an das Verfassungsgericht wenden.

Warum gibt es in vielen Ländern kein Verfassungsgericht?

Es gibt Widerstand, weil sich die Fachgerichte nicht kontrollieren lassen wollen. Oder die Parlamentarier wehren sich dagegen, dass es ein Gericht gibt, das Gesetze für nichtig erklären kann. Auch von Regierungen gibt es Widerstand. Macht zu teilen, fällt immer schwer.

Lexikon

Der Europarat hat seinen Sitz in Straßburg und umfasst 47 Mitgliedstaaten. Er wurde 1949 gegründet, um für ganz Europa demokratische Prinzipien zu entwickeln und den Zusammenhalt der Ländern zu stärken. Angegliedert ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Ebenfalls mit Sitz in Straßburg, hat der Gerichtshof erst seit 1998 ständigen Charakter. Er ist das einzige Rechtsprechungsorgan, das auf der Grundlage der europäischen Menschenrechtskonvention geschaffen wurde. Die Masse der Fälle, rund 50 000 Eingänge pro Jahr, machen Individualbeschwerden aus. Jeder, der sich in einem der 47 Staaten von einer Menschenrechtsverletzung betroffen fühlt, kann am Gerichtshof für Menschenrechte gegen diesen Staat vorgehen. Das gilt nicht nur für Staatsbürger, sondern für jeden, der durch die Hoheitsgewalt eines dieser Staaten betroffen ist. Staatenbeschwerden gibt es, sind aber selten. Momentan gibt es wegen Völkerrechtsverletzung eine Beschwerde Georgiens gegen Russland. ND



* Aus: Neues Deutschland, 3. Dezember 2010


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