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EU rüstet Todesgrenze auf

"Eurosur" baut Abschottung aus / Flüchtlingsabwehr in Europa stößt auf Kritik *

"Eurosur" baut Abschottung aus / Flüchtlingsabwehr in Europa stößt auf Kritik / "Lampedusa in Hamburg" weiter präsent An diesem Montag startet das europäische Grenzüberwachungssystem Eurosur. Die EU will damit ihre Abschottungspolitik an den Außengrenzen perfektionieren. Über Eurosur teilen die EU-Länder Informationen miteinander. Als verdächtig bezeichnete Bewegungen sollen die Grenzschutz-Agentur Frontex sowie nationale Polizeien und Küstenwächter in allen EU-Ländern beinahe in Echtzeit erkennen. Behörden sollen auf diese Weise schneller gegen Flüchtlinge aktiv werden können.

Schon vor der Einführung des »European Border Surveillance System« hatte es scharfe Kritik gegeben. Die Linksfraktion im EU-Parlament nannte das System ein »Investitionsprogramm für die Rüstungsindustrie«. Die Grünen wandten sich gegen den Ausbau der Festung Europa. Die Europaabgeordnete der Partei, Ska Keller, sagte dem »Kölner Stadt-Anzeiger«, bei Eurosur gehe »es nicht in erster Linie und Rettung von Flüchtlingen, sondern um deren Abwehr«.

Asylgruppen und Menschenrechtsorganisationen beklagen die Abschottungspolitik seit langem. Dokumentiert sind mehr als 18 000 Todesfälle aus den vergangenen 20 Jahren. »Die meisten starben im Mittelmeer und immer wieder gibt es den Vorwurf unterlassener Hilfeleistung«, erklärten am Wochenende mehrere Flüchtlingsorganisationen.

Sie verwiesen auch darauf, dass bei dem Untergang von zwei Flüchtlingsbooten vor Lampedusa im Oktober dieses Jahres mit über 200 Toten den Schiffbrüchigen offenbar eine rechtzeitige Rettung verweigert worden war. Demnach sei die italienische Küstenwache tatenlos geblieben, was mit dem Verweis gerechtfertigt worden war, die Behörden von Malta seien zuständig. »Left to die, das Sterbenlassen auf See, gehört offensichtlich nach wie vor zur EU-Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen«, sagte Helmut Dietrich von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration. Nach einem anderen Flüchtlingsdrama vor Lampedusa hatte das EU-Parlament Anfang Oktober der Einführung von Eurosur zugestimmt. Nur wenige Tage zuvor war ein Flüchtlingsboot vor der italienischen Insel gekentert, mindestens 360 Menschen starben. Kurz darauf sanken weitere Flüchtlingsboote.

Derweil haben in Hamburg am Samstag erneut rund 1000 Menschen für das Bleiberecht von Flüchtlingen demonstriert, die über die italienische Insel Lampedusa in die Bundesrepublik gekommen waren.

* Aus: neues deutschland, Montag, 2. Dezember 2013


Adventszeit ist Demozeit

»Lampedusa in Hamburg« bleibt vor Weihnachten mit Protesten präsent

Von Folke Havekost, Hamburg **


Für die Bläserkapelle auf der Brüstung des Alsterhauses bot der Demonstrationszug eine Verschnaufpause. Unablässig intonierten bis dahin die Musikanten leicht verfrüht den Wunsch nach »Merry Christmas and a Happy New Year«. Dann kam der Lautsprecherwagen, gefolgt von etwa 1000 Menschen, und verbreitete eine weniger konventionelle Vorweihnachtsbotschaft über den Jungfernstieg. »Der Senat weigert sich, das Recht anzuerkennen«, rief ein Flüchtling der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«, für deren Bleiberecht am Sonnabend in der Hansestadt demonstriert wurde.

»Wir sind nicht zufällig hier«, sagte der Redner, »etwas hat uns hierher gebracht: der Krieg und die Macht der westlichen Staaten.« Die erste Adventsdemonstration für die etwa 300 afrikanischen Flüchtlinge, die aus Libyen über Lampedusa nach Hamburg gekommen sind, führte wegen eines »Nutzungskonflikts« rund um die Binnenalster. Der beabsichtigte Parcours über die Konsummeile Mönckebergstraße war wegen einer dort stattfindenden Weihnachtsparade des City Managements gerichtlich untersagt worden. Die Adventsdemonstrationen sollen die wöchentlichen Mittwochdemos ablösen und den Kampf der Geflüchteten um ein Bleiberecht im öffentlichen Bewusstsein halten. Für den Donnerstagvormittag ist zusätzlich ein Schulstreik vorgesehen.

Viele Flüchtlinge sind inzwischen in Wohncontainern nahe dreier Hamburger Kirchen untergebracht. Einige unterziehen sich, wie vom Senat gefordert, einer Einzelfallprüfung. Die Gruppe und ihre Unterstützer bleiben jedoch bei der Forderung nach Anerkennung und Erteilung von kollektiven Aufenthaltsgenehmigungen nach Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes. »Von Subjekten, die selbstbewusst die ihnen zustehenden Rechte einfordern, werden wir zu harmlosen Bittstellern gemacht, die blind auf die Gutmütigkeit der Herrschenden hoffen«, heißt es in einer Erklärung der Gruppe. »Duldung ist Gift«, bekräftigte ein Lampedusa-Redner auf der Demonstration.

»Kein Mensch ist illegal – Bleiberecht überall!«, skandierten die Teilnehmer zwischen Schmalzgebäckbuden, zeitweise wurde der Zug von einem Weihnachtsmann mit Glöckchen angeführt – durchaus angemessen, wo doch die Lampedusa-Gruppe Hamburg die Frage beschert hat, wie es wäre, Weltstadt zu sein. »Hamburg, das Tor zur Welt. Geschlossen für: politisch Verfolgte, Menschen ohne Pass, (Bürger-)Kriegsflüchtlinge«, zählte ein Transparent am Lautsprecherwagen auf.

Konflikte um den Aufenthaltsstatus

Mit der Plakataktion »Wir sind Lampedusa« hatten sich im November zahlreiche Hamburger Künstler, unter anderem Fatih Akin und Jan Delay, mit den Flüchtlingen solidarisiert. Auch die Kirchen sind stark engagiert, wenngleich sich hier rund um die kritische Frage einzelner Duldung oder gemeinschaftlichem Aufenthaltsrecht auch Konflikte zeigen. So beklagte die Lampedusa-Gruppe in einem Offenen Brief an die evangelische Landeskirche: »Der evangelische Pressedienst veröffentlichte die falsche Information, dass die 80 von uns in der St.Pauli-Kirche bei der Behörde eine Duldung beantragen werden. Das hat viel Konfusion und Misstrauen erzeugt.«

** Aus: neues deutschland, Montag, 2. Dezember 2013


Lampedusa in Berlin

Berliner Grüne verabschieden Resolution für eine bessere Asylpolitik des Senats

Von Sarah Liebigt ***


Der Bundesvorstand stärkt den Berliner Grünen den Rücken in Sachen Asylpolitik. Per Resolution wird der Senat dazu aufgefordert , sich für die Abschaffung der Residenzpflicht einzusetzen.

»Lampedusa in Berlin« – unter diesem Titel verabschiedeten die Berliner Grünen auf der Landesdelegiertenkonferenz (Ldk) am Samstag eine Resolution, die den Senat unter anderem dazu auffordert, sich im Bundesrat für Flüchtlinge einzusetzen. Und zwar für die Abschaffung der Residenzpflicht, des Asylbewerberleistunsgesetzes und des Arbeitsverbotes. Die Flüchtlinge am Oranienplatz in Kreuzberg sind zum Symbol des Protests gegen die Asylpolitik der Bundesregierung wie auch der Europäischen Union geworden. Die Lage der hier campierenden Menschen ist immer noch prekär und das Räumungsultimatum von Innensenator Frank Henkel (CDU) steht immer noch Raum. »Was ist ein Asylrecht wert, wenn es keinen Zugang dazu gibt«, fragte die Europaabgeordnete Ska Keller auf der ersten Landesdelegiertenkonferenz nach der Bundestagswahl. Flüchtlinge müssten Stacheldraht und Meere überwinden, ehe sie vor Europas Grenzen stünden.

Den Auftakt zur gut besuchten Landesdelegiertenkonferenz bestritt die neue Bundesvorsitzende Simone Peter. Sie holte zum Rundumschlag gegen den Ende der Woche vorgelegten schwarz-roten Koalitionsvertrag aus. Der sei »nur dünnes Eis für die nächsten vier Jahre« und stelle ein mutloses, visionsloses Verwalten der Zukunft dar. In Sachen Bleiberecht gehe diese Koalition nur Trippelschrittchen. Das Sterben vor Europas Küsten werde hingenommen, so Peter. Sie bedankte sich bei Monika Herrmann dafür, in ihrer Arbeit deutlich zu machen, dass die Grünen diese Asylpolitik des Bundes nicht mittragen. »Wir stehen hinter Dir«, betonte Peter.

»Unsere Forderung ist und muss bleiben, die Residenzpflicht abzuschaffen«, sagte Herrmann in ihrer Rede zur Resolution. Sie verwies noch einmal darauf, dass der Runde Tisch mit den Kirchenverbänden dringend notwendig sei. Doch der Umgang mit den Flüchtlingen sei nicht allein Sache von Bezirken, Verbänden und Initiativen. Der Senat sei ebenfalls in der Pflicht.

Unter dem Titel »Aufbruch 2016« beschlossen die Grünen anschließend ihre Kernthemen zur Programmdebatte. Bezirksbürgermeisterin Herrmann verwehrte sich dabei gegen Worthülsen wie »wir müssen mehr reden« oder »mehr zuhören«, die von einigen ihrer Parteikollegen geäußert wurden. »Wir Stadträte und Bezirksbürgermeister sind an der Basis dran«, bekräftigte sie. Auch sei die Arbeit an der Basis immer schon eine Stärke der Grünen gewesen.

Auch in Berlin wollen die Grünen sich weiterhin für erneuerbare Energien stark machen. Michael Schaefer, Mitglied der Fraktion im Abgeordnetenhaus, verwies noch mal auf den Volksentscheid zur Rekommunalisierung des Stadtnetzes. »Wir sind zwar knapp gescheitert am Quorum. Aber auch der Senat ist gescheitert mit seiner Aufforderung, mit Nein zu stimmen.« Zusätzlich zu den traditionellen Kernthemen sollen in Zusammenarbeit mit den Landesarbeitsgemeinschaften neue grüne Schlüsselprojekte erarbeitet werden.

Dritter größerer Punkt der Ldk war das Thema Mobilität. Unter dem Titel »Umsteigen bitte – Grüne Mobilität für mehr Bewegungsfreiheit« wollen sich die Grünen beispielsweise für einen Ausbau der Radwege einsetzen sowie den Besitzern der Umweltkarte ermöglichen, Fahrräder ohne Aufpreis im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) mitzunehmen. Die Grüne Jugend warb zudem erfolgreich für ihren Antrag, einen durch Steuern finanzierten und so kostenfreien ÖPNV zur Diskussion zu stellen.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 2. Dezember 2013


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