"Globalisierung gerecht gestalten, Frieden europäisch denken"
Bündnis90/Die Grünen verabschieden EU-Wahlprogramm - Der außen- und sicherheitspolitische Teil im Wortlaut
Bündnis90/Die Grünen haben die Weichen für die kommende Europawahl gestellt: Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Dresden verabschiedete die Partei am 29. November 2003 mit überwältigender Mehrheit ihr Programm für den Wahlkampf 2004.
Dieses Programm setzt die Schwerpunkte grüner Europa-Politik auf die Themen Nachhaltigkeit und Verbraucherrechte (Kapitel 1), ökologische Erneuerung der Wirtschaft und Ausbau sozialer Handlungsspielräume (Kap. 2), europäische Wissensgesellschaft (Kap. 3), lebendige Demokratie (Kap. 4), gerechte Globalisierung und friedliches Europa (Kap. 5).
In der europäischen Außen- und Friedenspolitik (Kap. 5) soll dem Programm zufolge die Veto-Möglichkeiten der Nationalstaaten abgeschafft werden. Bei der multilateralen Einbindung sollte sich die EU eindeutig an den Vereinten Nationen (UN) orientieren und ein ziviles Friedenskorps zur Unterstützung von UN und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufstellen. Wir dokumentieren im Folgenden dieses Kapitel 5 im Wortlaut. Wir werden in lockerer Folge auch über die entsprechende außen- und sicherheitspolitische Programmatik der anderen Parteien berichten.
D O K U M E N T A T I O N
5. Globalisierung gerecht gestalten, Frieden europäisch denken
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für ein friedliches Europa, dass sich weltweit für die Schaffung
und Bewahrung des Friedens und die gerechte Gestaltung der Globalisierung einsetzt.
Die Geschichte der Europäischen Union ist ein Beispiel dafür, dass durch politische und ökonomische
Integration Frieden und Stabilität geschaffen werden kann. So ist es in den letzten 50 Jahren
gelungen, durch eine dauerhafte Zusammenarbeit der Staaten Westeuropas jahrhundertealte Gräben
zu überwinden. Aus einstigen Feinden wie Frankreich und Deutschland sind gute Nachbarn
und Freunde geworden. Junge Demokratien konnten stabilisiert werden. Der Beitritt der Staaten
Mittel- und Osteuropas unterstreicht diese konstante Leistungsfähigkeit europäischer Politik. Für
die Länder auf dem Balkan wird in naher Zukunft - nicht zuletzt dank des Stabilitätspaktes - das
Gleiche möglich werden. Wir setzen uns dafür ein, Europa zum Zentrum für Abrüstung und Friedensforschung,
zum Zentrum der Initiativen der friedlichen Konfliktbewältigung und des friedlichen
Konfliktausgleiches zu machen. Menschenrechte, Toleranz, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Freiheit sind unveräußerliche Grundsätze unseres Europagedankens.
Die - auch leidvollen - historischen Erfahrungen haben uns Europäerinnen und Europäern zentrale
Orientierungspunkte außenpolitischer Gestaltung gegeben: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen,
dass die Europäische Union ihre auswärtigen Politiken am friedlichen Interessenausgleich orientiert.
Sie richtet sich an den Werten eines gemeinsamen europäischen Engagements für Frieden, Demokratie,
Recht, Stabilität, internationale Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung aus. Im Zentrum
einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits-, Außenhandels- und Entwicklungspolitik müssen die Förderung
von Demokratie und Nachhaltigkeit und die Einhaltung sowie die Weiterentwicklung der
Menschenrechte ebenso stehen wie die Gleichstellung von Frauen und Männern, das Recht auf
Nahrung, neue Wege der Regulierung der globalisierten Wirtschaft und die Abrüstung und Schaffung
neuer internationaler Sicherheitsstrukturen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betonen die Verantwortung Europas für eine gerechte Gestaltung der
Globalisierung und für eine auf Frieden ausgerichtete Welt, wissen aber auch aus den Erfahrungen
der Vergangenheit, dass die EU diese Verantwortung nur dann wahrnehmen kann, wenn sie ge-
schlossen auftritt. Um die Herausforderung der Globalisierung anzunehmen, brauchen wir mehr
Europa in der internationalen Politik.
Zivile Außenpolitik mit einer Stimme
Gemeinsame historische, soziale, kulturelle und ökonomische Erfahrungen bilden die Grundlage für
eine europäische Identität und Solidarität. Diese Erfahrungen müssen sich auch wiederfinden in
einer gemeinsamen außenpolitischen Vision eines zivilen Europas und deren gemeinschaftlicher
Umsetzung. Im Mittelpunkt der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) muss eine
zivile Außenpolitik stehen, die sich an den Zielen des Friedens und der Demokratie, der Verwirklichung
der Menschenrechte und eines ökologisch und sozial gerechten Interessenausgleichs zwischen
den Weltregionen ausrichtet. Mit einer internationalen Strukturpolitik wollen wir die Globalisierung
gerecht gestalten. Ebenso wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer Politik der nationalen
Machtprojektion eine Absage erteilen, wollen wir auch keine militärische Supermacht Europa, sondern
eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik einer Zivilmacht Europa, die den Sicherheitsbegriff
nicht polizeilich und militärisch verkürzt. Wir setzen dabei auf die weitere Verrechtlichung der internationalen
Beziehungen, auf die Geltung des Völkerrechts und auf multilaterale Einbindung.
Europas Integration ist ein einzigartiger Einigungsprozeß, in dem Erfahrungen entstanden sind, die
für das Zusammenwachsen der Regionen in anderen Teilen der Welt fruchtbar sein können. Europas
einzigartiger Einigungsprozess ist Vorbild für viele andere Regionen der Welt. Diese Vorbildfunktion
wollen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fördern, damit ein Zusammenwachsen der Regionen
der Erde im Inneren wie im Äußeren Frieden, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Menschenrechte
auch für künftige Generationen sichert.
Die Europäische Union hat nur dann Gewicht in der Weltpolitik, wenn sie mit einer Stimme spricht.
Es ist ein großer Fortschritt, dass in Zukunft ein europäischer Außenminister oder eine europäische
Außenministerin der EU-Außenpolitik eine Stimme geben kann. Der Aufbau eines gemeinsamen
diplomatischen Dienstes der Union in Ergänzung zu den jeweils nationalen Botschaften der EU
bildet einen geeigneten Unterbau für die europäische Außenpolitik. Für BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN ist entscheidend, dass die GASP der Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegt
und dass die europäische Außenministerin bzw. der europäische Außenminister auch dem
Parlament verantwortlich ist.
Multilaterale Einbindung
Aus unserer Sicht bilden die Vereinten Nationen (UN) den Hauptrahmen für eine weltweite Ordnungspolitik,
bei der die Menschenrechte im Zentrum stehen. Deshalb wollen BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN die UN als wichtigste internationale Institution zur Lösung globaler Probleme und Konflikte
stärken. Wir wollen das Völkerrecht im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen weiterentwickeln.
Dazu gehört auch die dringliche und überfällige Reform des UN-Sicherheitsrates als
Sanktionsgremium. Seine zentrale Rolle bei der Bewahrung des Weltfriedens wollen wir weiter
ausbauen. Die Zusammensetzung des Sicherheitsrats ist nicht repräsentativ. Entwicklungsländer
mit demokratischen Strukturen sollten künftig regional ausgewogen ständig im Rat vertreten sein.
Das langfristige Ziel eines gemeinsamen europäischen Sitzes, den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befürworten,
bleibt bestehen. Weiter setzen wir uns für eine Reform des Vetorechts im Sicherheitsrat
ein. Maßstab ist dabei die Effizienz und die demokratische Legitimität der Entscheidungen. Die
Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen und anderer völkerrechtlicher Sonderorganisationen
wollen wir stärken. Angesichts der Zunahme von Konflikten sind die Anforderungen an die UN
wesentlich komplexer geworden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten deshalb nachdrücklich für den
Ausbau von Ansätzen regionaler Sicherheitskooperation wie der OSZE und in anderen außereuropäischen
Regionen ein, um die Fähigkeiten und Instrumente zur zivilen Krisen- und Konfliktprävention
in den Krisenregionen selbst zu stärken. Dazu gehört die umfassende und schnellere Umsetzung
der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates, die für Frauen gleichberechtigte und führende
Rollen in der Krisenprävention fordert. Wir unterstützen alle Bemühungen, die dazu führen, dass
der Internationale Strafgerichtshof sich zu einer unabhängigen und wirkungsvollen globalen Gerichtsbarkeit
entwickeln kann. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden weiter darauf drängen, dass alle
EU-Mitgliedsstaaten sowie die verbleibenden Beitrittskandidaten die Integrität des Statutes des
Internationalen Strafgerichtshofs uneingeschränkt verteidigen.Âusnahmeregelungen, die durch die
Staatsangehörigkeit oder Amtsstellung des Tatverdächtigen begründet werden, erteilen wir eine
eindeutige Absage.
Der multilaterale Ansatz bezieht sich aber nicht nur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Zivilgesellschaftliche
Akteure wie Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen aber auch
Unternehmen werden zunehmend wichtiger in den internationalen Beziehungen. Im Zeitalter der
Globalisierung können nachhaltige Problemlösungen nur durch ein Zusammenspiel von internationalen,
staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren erreicht werden. Viele Ziele des Regierens
können im Zeitalter der Globalisierung nur noch kooperativ erreicht werden, und das Zusammenspiel
von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren ermöglicht oftmals erst nachhaltige Problemlösungen.
Daher setzen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dafür ein, eine stabile europäische Infrastruktur
zu schaffen, auf der sich zivilgesellschaftliche Interessen als Teil einer europäischen Öffentlichkeit
auch über Grenzen hinweg Einfluss nehmen können.
In Europa und weltweit abrüsten
Der Europäischen Union kommt offenkundig Verantwortung für die Erhaltung des Friedens in Europa
und den angrenzenden Regionen zu. Sie sollte diese Verantwortung in Partnerschaft mit den
anderen europäischen Akteuren, etwa der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(OSZE), dem Europarat oder der NATO, wahrnehmen und dabei die Schaffung einer gesamteuropäischen
Friedens- und Sicherheitsordnung anstreben. Die EU muss zu einem tragenden Pfeiler
der internationalen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung werden. Dies gilt
für sämtliche atomare, biologische oder chemische Massenvernichtungswaffen ebenso wie für
konventionelle Waffen. Dem erfolgreichen Einsatz der EU für ein internationales Verbot von Anti-
Personenminen muss die Abschaffung aller Landminen und Streubomben folgen. Wir treten für die
weltweite Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen, aller Atomwaffenversuche sowie ein internationales
Verbot radioaktiver Munition ein. Die Maßnahmen zur Eindämmung und zum Abbau
des legalen und illegalen Kleinwaffenexports wollen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN intensivieren. Europäische
Rüstungsexporte müssen durch ein transparentes Verifikationsregime überprüfbar gemacht
werden. Der europäische Verhaltenskodex muss zwischenstaatliche Rüstungskooperationen,
Kleinwaffen- und Dual-Use-Exporte einschließen, und auch rechtsverbindlich werden. Hierüber ist
das Europäische Parlament umfassend zu informieren.
Einen erweiterten Sicherheitsbegriff für Europa
Nach dem Ende der politisch-militärischen Blockkonfrontation 1989/90 waren viele Hoffnungen
und Erwartungen auf den Beginn einer neuen Zeitrechnung gerichtet, in der die Vorherrschaft des
internationalen Rechts politische Konflikte zwischen den Staaten löst. Heute erkennen wir, dass die
allgemeine Durchsetzung einer zuvorderst zivilen Weltinnenpolitik noch nicht gelungen ist und
weiterer Anstrengungen bedarf. Wir möchten die europäische Außen- und Sicherheitspolitik danach
ausrichten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenden sich gegen jede Politik des Großmachtdenkens
und setzen sich für eine an folgenden Zielen orientierte zivile Außenpolitik ein: am Ziel der
Stärkung der weltweiten Rechtsordnung und der Verwirklichung der Menschenrechte, am Ziel der
nachhaltigen Entwicklung und des engagierten Klimaschutzes, der ökologischen Gerechtigkeit und
der wirksamen Armutsbekämpfung sowie am Ziel der Verminderung von Spannungen und gewaltfreien
Austragung von Konflikten zwischen Staaten und Völkern. Ein erweiterter Sicherheitsbegriff
muss besonders die Lebensrealitäten von Frauen berücksichtigen. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ist eine aktive Politik der Konfliktprävention die oberste Verpflichtung der EU-Außenpolitik. Konfliktprävention
und Friedenskonsolidierung sind Querschnittsaufgaben, die stärker als bisher bei
der Formulierung und Implementierung aller EU-Politiken, insbesondere der Außenhandels- und
der Agrarpolitik, berücksichtigt werden müssen. Hierzu zählt auch, dass die Vertreibung von Menschen
als Umweltflüchtlinge sowie kriegerische Auseinandersetzungen um Wasser oder andere
natürliche Ressourcen rechtzeitig verhindert werden. Sie muss von einem regionalen Ansatz ausgehen,
wonach mit internationalen Organisationen, Nationalstaaten, Nichtregierungsorganisationen
und lokalen Friedensinitiativen zusammengearbeitet wird. Die EU stellt ein Ziviles Friedenskorps
auf, das auf nicht-militärische Formen der zivilen Krisen- und Konfliktprävention spezialisiert
ist und auch den UN und der OSZE zur Verfügung steht. Dieses Primat der zivilen Konfliktbearbeitung
muss sich künftig in der Verfassung, in den Sicherheitskonzepten und im Haushalt der EU
widerspiegeln.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wissen aber auch, dass sich die Anwendung rechtsstaatlich und völkerrechtlich
legitimierter Gewalt nicht immer ausschließen lässt. Die EU soll ein eigenes strategisches
Konzept erarbeiten, das auch die Aufgaben und Einsatzgebiete ihrer Schnellen Reaktionstruppe
definiert. Dabei muss die Verhütung und Beendigung bewaffneter Konflikte an den instabilen Außengrenzen
Europas in Zusammenarbeit mit UN und OSZE im Zentrum stehen. Jede militärische
Intervention muss durch ein UN-Mandat legitimiert sein und den Kriterien von Verhältnismäßigkeit
und Wirksamkeit entsprechen. Für die Aussendung der schnellen Einsatztruppe und anderer militärischer
Einsätze der EU sind die Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie für den Fall einer
deutschen Beteiligung die Zustimmung des Bundestages notwendig.
Es ist sinnvoll, dass europäische Sicherheitskräfte im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (ESVP) kooperieren. Es kann auch sinnvoll sein, diese Kooperation zu verstärken,
wenn durch europäische Arbeitsteilung Verteidigungsausgaben reduziert werden. Im Zuge
einer besseren demokratischen Verankerung der GASP muss auch die ESVP in Zukunft unter die
Kontrolle des Europäischen Parlamentes gestellt werden. Die EU soll ihre zivilen Instrumente im
Bereich der Frühwarnung , Konfliktanalyse und Friedensförderung stärker ausbauen und mit mehr
Mitteln ausstatten. Die gegenwärtige Entwicklung, nach der seitens einiger Mitgliedsstaaten wesentlich
mehr Mittel für die Vorhaltung militärischer (Interventions-)Kapazitäten als für zivile Präventionsinstrumente
bereitgestellt werden, muss aufgehalten und dieses Missverhältnis korrigiert
werden. Im militärischen Bereich werden Aktivitäten zukünftig in einer Rüstungsagentur koordiniert.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen im zivilen Bereich ein institutionelles Gegengewicht schaffen. Die Stärkung des Aufbaus der zivilen Fähigkeiten und Strukturen – wie etwa im Bereich der
Schaffung eines Zivilen Friedenskorps – muss einhergehen mit dem Abbau überholter und ineffektiver
Militärstrukturen. Die Kosten der ESVP müssen im jährlichen Haushaltsplan der EU gesondert
ausgewiesen werden, die Verwendung der Mittel muss der Kontrolle durch das Parlament unterliegen.
Mit internationaler Strukturpolitik zu mehr Gerechtigkeit
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kämpfen dafür, dass sich die Zahl der Menschen in absoluter Armut bis
zum Jahr 2015 halbiert. Hierfür brauchen wir eine internationale Strukturpolitik, die den ressourcenraubenden
Wirtschafts- und Lebensstil der Industrieländer umstellt auf nachhaltige Modelle in
der Finanzwirtschaft, beim Handel, in der Landwirtschaft, der Fischerei und in allen anderen Bereichen
der Produktion und des Verbrauchs. Europa als einer der produktionsstärksten und kaufkräftigsten
Märkte handelt nur dann verantwortlich, wenn es globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit
zum Ziel seiner internationalen Politik macht.Es geht uns um die Entwicklung und die Fortschreibung
international verbindlicher Regeln, insbesondere um die erneute soziale und ökologische Einbindung
der Marktmacht international wachsender Konzerne, um Probleme von globaler Reichweite
zu lösen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für starke multilaterale Organisationen für den Umweltschutz
ein. Das UN-Umweltprogramm muss zu einer UN-Umweltorganisation aufgewertet werden.
Die EU soll innerhalb der Entwicklungsrunde der WTO für die Verpflichtung der WTO eintreten,
den Schutz der Umwelt und die Bekämpfung der Armut als vorrangig anzuerkennen. Umweltschutz
und Armutsbekämpfung dürfen durch Handelsliberalisierung nicht unterlaufen und in Frage
gestellt werden. Wir wollen, dass sich die EU bei der WTO für die Zollfreiheit aller Umwelttechnologien,
die Aufnahme des Vorsorgeprinzips in die WTO-Verträge und die Zulassung produktionsbezogener
Umweltstandards einsetzt.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten dafür ein, dass die EU sich für mehr Fairness im Welthandel
stark macht. Dazu gehört an erster Stelle die Demokratisierung der WTO: Die Mitwirkung der ärmeren
Länder muss verbessert, die Mitbestimmung von EP, nationalen Parlamenten sowie Nichtregierungsorganisationen
gestärkt werden. Zu mehr Fairness gehören auch Subventionsabbau in
Europa – vor allem in den Bereichen Landwirtschaft und Fischerei – und mehr Chancen für Entwicklungsländer.
Bisher räumt die EU nur den ärmsten der Entwicklungsländer quoten- und zollfreien
Marktzugang für ”Alles außer Waffen”, der den Import und Export von Waffen in und aus
den beteiligten Ländern verhindern soll, ein. Die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft
muss verbessert werden; durch verbesserten Markzugang nichttarifärer Handelshemmnisse
und eine Verringerung der Zolleskalation bei verarbeiteten Produkten. Beim Abkommen über
internationalen Handel mit Dienstleistungen (GATS) und dem Abkommen über geistiges Eigentum
(TRIPS) wollen wir die Interessen der Menschen in Entwicklungsländern sichern, vor allem hinsichtlich
der Privatisierungspläne bei der Wasserversorgung und der Patentrechte. Pläne, die Privatisierung
der Wasserversorgung durch international vereinbarte Regelungen zu ermöglichen oder zu
erleichtern, lehnen wir ab. Der Zugang zu sauberem Wasser betrachten wir als Menschenrecht.
Wir setzen uns dafür ein, dass die EU bei der weiteren internationalen Harmonisierung des Patentrechts
dafür kämpft, dass lebende Materie und im wesentlichen biologische Züchtungsverfahren
von der Patentierung ausgenommen werden können. Darüber hinaus wollen wir durchsetzen,
dass sich die EU für hohe Umwelt- und Sozialstandards bei der internationalen Harmonisierung
staatlicher Exportkredite (z.B. Hermes-Bürgschaften) einsetzt.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern von der EU größtmöglichen Einsatz zur Erreichung der Ziele
von Johannesburg. Zentral sind der globale Ausbau der Erneuerbaren Energien, die Reduzierung
der Armut und Fortschritte in der Wasserversorgung. Bis zum Jahr 2015 soll die Zahl der Menschen,
die keinen Zugang zu sauberem Wasser und zu sanitären Anlagen haben, halbiert werden.
Da diese Bereiche insbesondere Lebensbereiche von Frauen sind, müssen bei allen Programmen
und Maßnahmen die Lebensrealitäten von Frauen berücksichtigt werden. BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN treten dafür ein, dass die EU eine Initiative zur Einführung der Tobin-Steuer und anderer
geeigneter Instrumente ergreift, um die internationalen Finanzmärkte zu regulieren und die Devisenspekulationen
einzuschränken. Die Erlöse der Tobin-Steuer sollen unter anderem Maßnahmen
zur Bekämpfung der Armut und zur Erhaltung der Umwelt zugute kommen.
Entschuldung fortsetzen und Währungsfonds reformieren
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen ein Europa, das die Entschuldung hochverschuldeter, armer
Länder fortsetzt und diese bei der Erreichung der Entwicklungsziele unterstützt. Die Verschuldung
ist nicht nur für die ärmsten Entwicklungsländer, sondern auch für einige Schwellenländer ein ernstes
Problem. Wir schlagen ein neues Verfahren zur Bereinigung der Überschuldung vor. Trotz des
bisherigen Scheiterns muss die EU versuchen, ein internationales Insolvenzrecht zu schaffen. Die
Stimmenverhältnisse im Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei der Weltbank geben der EU
einen bedeutenden Einfluss bei der Reform dieser Institutionen. Mehr als bisher muss sie dort mit
einer Stimme sprechen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen eine Reform des IWF, so dass dieser
stärker krisenpräventiv arbeitet, die Konditionen seiner Programme überprüft und in klarer Abgrenzung
zur Weltbank sein Mandat ausfüllt. Innerhalb der Strukturanpassungsprogramme muss
neben der ökonomischen Stabilisierung berücksichtigt werden, dass die Ziele einer nachhaltigen
sozialen und ökologischen Entwicklung gefördert werden können. Die Verbesserung der Lebensbedingungen
vor allem der Armen, von denen zwei Drittel Frauen und Kinder sind, muss hier im
Mittelpunkt stehen. Dazu gehört auch, dass die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
gefördert werden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen mehr Öffentlichkeit beispielsweise auch gegenüber NGOs über
die den Welthandel betreffenden Verträge herstellen. Das Europäische Parlament muss mit diesen
Verträgen befasst werden. Wir treten für die Einrichtung einer Beschwerdestelle ein, an die sich alle
Entwicklungsländer und NGOs wenden können, die in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Menschenrechte,
soziale oder ökologische Standards verletzt sehen. Außerdem machen wir uns dafür
stark, dass die EU Vorrangregelungen für den Import von fair-trade Produkten erlässt.
Entwicklung fördern
In der europäischen Entwicklungspolitik setzen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die Entwicklungsziele
der Vereinten Nationen ein: Armutsbekämpfung, Gesundheit, Bildung, Nachhaltigkeit,
Gleichstellung von Frauen, Rechte der Kinder und die Aufrechterhaltung einer staatlichen Basisinfrastruktur
in den Partnerländern. Besondere Schwerpunkte muss die europäische Entwicklungszusammenarbeit auf die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung und sauberes Wasser sowie auf den
Einsatz Erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern legen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich dafür ein, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit auf
europäischer Ebene deutlich aufzustocken. Dazu ist es auch erforderlich, dass die Bundesrepublik
im Rahmen konkreter Zeitpläne so schnell wie möglich die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit
auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts erhöht. Die Strukturen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit
wollen wir reformieren, damit ein schnellerer und effizienterer Einsatz der
Mittel vor Ort erreicht werden kann. Dabei ist uns bewusst, dass nicht nur die finanzielle Zusammenarbeit
von Bedeutung ist. Solange viele Entwicklungsländer gezwungen sind, bis zu 80 Prozent
ihrer Devisen für Energieimporte auszugeben und damit jede Entwicklung fast unmöglich wird,
haben Maßnahmen zum Klimaschutz oder der Ausbau der Erneuerbaren Energien in diesen Ländern
ein ebenso großes Gewicht.
Die wichtige Arbeit, die Nichtregierungsorganisationen in Europa für die Verbesserung der Lebensbedingungen
in Entwicklungsländern leisten, wollen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiter aktiv unterstützen.
Erweiterung und gute Nachbarschaft
Auch nach der Erweiterung um zehn neue Staaten ist der Erweiterungsprozess der EU keineswegs
beendet. Die laufenden Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien sollen zügig abgeschlossen
werden, damit sie im Jahr 2007 beitreten können. Dank der Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
wird eine Beitrittsperspektive auch für die anderen Balkanländer konkret. Hier
muss die EU ihre Anstrengungen deutlich verstärken und alle internationalen Akteure in der Region
koordinieren, um Demokratie und Stabilität zu fördern und ein Wiederaufflammen der Konflikte
mit den entsprechenden Folgen für die betroffenen Regionen und für die EU selbst zu verhindern.
Der EU kommt bei dem Dialog mit den islamisch geprägten Staaten eine herausragende Rolle zu.
Auf diplomatischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Wegen können hier
Konflikte bearbeitet, Bande geknüpft und Reformen befördert werden. Dies muss einen Schwerpunkt
der gemeinsamen EU-Außenpolitik bilden.
Die Türkei und die Europäische Union blicken auf eine lange Geschichte gemeinsamer Beziehungen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekräftigen die Integrationsperspektive für die Türkei: Wenn das
Land die menschen- und minderheitenrechtlichen sowie die demokratischen Kriterien der EU erfüllt
hat, muss mit Beitrittsverhandlungen begonnen werden. Bei der Umsetzung der notwendigen Reformen
steht die Europäische Union in der Pflicht, stärker als bisher unterstützend tätig zu werden.
Ein Beitritt der Türkei ist für das Land und die EU eine politische und ökonomische Herausforderung.
Für die Türkei würde der EU-Beitritt einen Modernisierungsschub des Landes und eine Stabilisierung
der rechtsstaatlichen und demokratischen Reformpolitik bedeuten. Die EU würde ökonomisch
und sicherheitspolitisch hinzugewinnen. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei würde zudem die
Integration der Millionen in Deutschland und den anderen EU-Staaten lebenden Menschen aus der
Türkei erleichtern. Hierzu sind verstärkte Beratungen, intensiverer Erfahrungsaustausch im Bereich
der politischen Institutionen, der Verwaltung, Justiz und Wirtschaft sowie substanzielle finanzielle
Hilfen notwendig.
Der Europäische Rat wird Ende 2004 prüfen, ob die Türkei die politischen Voraussetzungen erfüllt,
um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu ermöglichen. Die Türkei muss die verbleibende
Zeit nutzen, um mit den Reformen weiter voran zu kommen. Die Europäische Union sollte die Türkei
dabei nach Kräften unterstützen!
Die EU ist ein politisches Projekt, das Frieden, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in Europa sichern
will. Sie ist weder als exklusiver christlicher Verbund konzipiert, noch kulturell definiert. Wir
begrüßen den Plan von UNO-Generalsekretär Kofi Annan zur Lösung des Zypern-Problems und
unterstützen die regionale Bewegung, die sich in Zypern um Ausgleich und Verständigung bemüht.
Die Erweiterung der Europäischen Union darf keine neuen Grenzen über den Kontinent ziehen.
Wir wollen die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern der EU intensivieren. Nachbarschaftsbeziehungen
im Osten und Süden zu verbessern heißt für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in erster Linie,
dazu beizutragen, den demokratischen Wandel und die Menschenrechte in der Region zu stärken
und multikulturelles Zusammenleben vor Ort und über Grenzen hinweg zu fördern. Den europäischen
Nachbarstaaten darf die Verantwortung für die Bewältigung der internationalen Flüchtlingsbewegung
nicht allein überlassen werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich dafür ein, dass
die Nachbarländer der EU zur Teilung der Verantwortung in die Flüchtlingsfonds mit einbezogen
werden.
Russland und die anderen europäischen GUS-Staaten sind unmittelbare Nachbarn der EU und gehören
zu ihren wichtigsten Partnern. Mit ihnen verbindet die EU eine lange gemeinsame Geschichte
und gegenwärtige enge Beziehungen auf vielen Gebieten. Diese sollen und werden sich mit
einer weiteren erfolgreichen demokratischen und ökonomischen Entwicklung Osteuropas vertiefen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für eine konstruktiv-kritische Begleitung der Reformprozesse
in den GUS-Staaten ein. Die Forderung nach politischen Lösungen für gewaltsame Konflikte
und der Beendigung massiver Menschenrechtsverletzungen wie in Tschetschenien stehen an
erster Stelle. Wir unterstützen die entstehenden Zivilgesellschaften und drängen auf die Beseitigung
nuklearen Mülls und anderer Umweltgefahren.
In den Beziehungen zu Russland, zur Ukraine, zu Weißrussland und zu Moldawien wird es neben
der intensiven politischen, sozialen, wirtschaftlichen und umweltpolitischen Zusammenarbeit in
der nächsten Zeit vor allem notwendig sein, negativen Folgen der Verschiebung der EUAußengrenze
vorzubeugen. Wir setzen uns dafür ein, den ”kleinen Grenzverkehr” zwischen benachbarten
Regionen zu erleichtern und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit finanziell zu
fördern. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen den Barcelona-Prozess, der die Gestaltung der EUNachbarschaftsbeziehungen
im südlichen und östlichen Mittelmeerraum zum Gegenstand hat,
stärker als bisher zur Förderung von Frieden und Stabilität sowie zu einem intensivierten Dialog der
Kulturen nutzen. Auch in weiteren Regionen wie Irak und Westsahara kann er hierfür mittelfristig
zu einem wichtigen Instrument werden. Die EU muss sich mit ihren Partnern weiterhin in den
Nahost-Friedensprozess einbringen, um die Sicherheit Israels sowie die Schaffung eines lebensfähigen
und demokratischen palästinensischen Staates zu unterstützen.
Eine neue transatlantische Agenda
Die Industriestaaten tragen gemeinsam Verantwortung für einen globalen, umweltverträglichen,
sozialen und demokratischen Wandel. Hier steht Europa in der Pflicht, aber ebenso die USA. Wir
wollen eine neue transatlantische Agenda, die dieser gemeinsamen Verantwortung Rechnung
trägt. Trotz Differenzen bleibt ein enges und freundschaftliches Verhältnis Europas zu den USA
und die Bereitschaft zur Pflege und Erneuerung der gemeinsamen Agenda auch im 21. Jahrhundert
von entscheidender Bedeutung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen das Bündnis in kritischer Solidarität
ausgestalten und sehen in der Einbindung der USA in multinationale Organisationen eine
wichtige Voraussetzung dafür, dass sie trotz ihrer internationalen Sonderrolle als alleinige Supermacht
als gleichberechtigte Partner in der Staatengemeinschaft mitwirken. Wir drängen darauf,
dass die USA endlich das Statut zum Internationalen Strafgerichtshof ratifizieren. Mit Sorge sehen
wir die Aufrüstungspläne der USA. Ihre militärische Strategie der Präventivschläge lehnen wir ab.
Folge der Aufrüstung ist kein Mehr an Sicherheit, sondern eine gigantische Ressourcenverschwendung.
Das transatlantische Verhältnis darf sich nicht auf die Zusammenarbeit im militärischen Teil
der NATO beschränken. Teil einer erneuerten Agenda kann es sein, die Weiterentwicklung des
internationalen Rechts aktiv voranzutreiben. Zur transatlantischen Agenda gehört ein neuer Anlauf
in der Zusammenarbeit für die Verankerung von Umweltaußenpolitik. Die Agenda umfasst auch
den Austausch über den wirksamen Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Gefahren, wobei
wir die Bedeutung rechtsstaatlicher Werte besonders betonen. Schließlich sollte die transatlantische
Zusammenarbeit zur Transformation des Nahen und Mittleren Ostens zu Demokratie und Frieden
beitragen.
Aus: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europawahlprogramm 2004.
Fassung vom 30.11.2003. Beschlossen von der 22. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz, 28.-30. November 2003, Dresden;
im Internet: http://www.gruene-partei.de/rsvgn/rs_datei/0,,4931,00.pdf
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