Treibt die Eurokrise zur Entscheidung?
Der drohende politisch-ökonomische Kollaps eröffnet auch Perspektiven – auf mehr Demokratie
Von Wolfgang Fritz Haug *
Seit nunmehr zwei Jahren scheinen die europäischen
Regierungen es darauf anzulegen,
den marxschen Satz zu beweisen, »dass
der Verkehr souveräner ist als der Souverän
«. Die Halbwertzeit ihrer stets hinterherhinkenden
Maßnahmen gegen die sogenannten
Schuldenkrise wird immer kürzer.
Der französische Bankier und Le-Monde-
Verleger Matthieu Pigasse steht nicht an,
den von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy
praktizierten Umgang mit der Griechenland-
Krise »irrsinnig« zu nennen. Dabei
entbehrt nicht alles, was die Kanzlerin und
ihr getreuer Finanzknappe Wolfgang
Schäuble zur Sache sagen, einfach der Realität.
Aber es ist so real wie die Spitze eines
Eisbergs und so irreal wie der Glaube, die
Spitze sei das Ganze. Sie sprechen zur Sache,
aber nicht zur Ursache.
Wie ein Mantra wiederholen sie den einleuchtenden
Gemeinplatz, dass man doch
nicht die Schulden des Nachbarn bezahlt.
Es ist, als würden sie den Satz abwandeln,
der ihnen von den Straßen und Plätzen entgegenschallte,
als sie mit öffentlichem Geld
die Banken retteten, ohne öffentliche Mitsprache
im Bankenwesen dafür einzuhandeln:
»Wir zahlen nicht für eure Krise.« Wie
einmal die Vertauschung des Satzes »Wir
sind das Volk« durch den fast identischen
Satz »Wir sind ein Volk« den Sinn ins Gegenteil
umschlagen ließ, so hier die Entführung
aus dem Radikaldemokratischen ins
Nationalstaatliche. Aus dem Gegensatz der
99 Prozent gegen die Finanzmacht des
reichsten einen Prozents wurde der Gegensatz
von Nationen. Um der nationalen Zustimmung
willen zerstörten sie den transnationalen
Konsens, um dann doch ein ums
andere Mal und wegen der Verspätung desto
mehr »Geld in die Hand zu nehmen« zur
Sicherung jener Anderen, für deren Krise
man nicht zahlen will.
Die Gläubiger treiben die Politik vor sich
her, und die Politiker des Blocks an der
Macht und ihre Wirtschafts- und Finanzberater
scheinen wie besessen vom Schuldenschreck.
Doch die Staatsschulden sind nicht
das Problem. Sondern sie werden zum
Problem, indem man die Krisenbekämpfung
auf Schuldenabbau reduziert.
Das Unwahre an der mit biederem Alltagsverstand
vorgebrachten und von einer
Mehrheit der Deutschen unterstützten Weigerung
ist die Verdrängung der ursächlichen
Zusammenhänge der Nöte der »leistungsschwächeren
« Euroländer sowie der
Folgen der den anderen Euro-Ländern mit
der Macht überlegener Finanzkraft aufgezwungenen
Austeritätspolitik als einziger
und verabsolutierter Antwort auf die Krise.
Das Unausgesprochene ist, dass Europa
mit dem neoliberalen Kapitalismusverständnis
nicht vereinbar ist. Gemeinsamer
Markt hört sich wie alles Gemeinsame zunächst
schön an. Bis die Folgen klar machen,
dass er die transnationale Erweiterung
des Konkurrenzraumes meinte, in dem
der große Fisch den jeweils kleineren frisst.
Kommt die gemeinsame Währung hinzu,
verlieren die schwächeren Nationalökonomien
mit der monetären Souveränität zugleich
die beiden Druckausgleichsventile des
Wechselkurses und des Zinsniveaus. Nun
frisst ein fremder großer Fisch auch den
bisher relativ größten einheimischen. Was
auf Marktideologisch »gerechte Wettbewerbsordnung
der Freiheit, mit großen
Räumen der Entfaltung für Frauen und
Männer, aber auch für Staaten und Regionen
« (Di Fabio) heißt, ist nüchtern besehen
nichts als eine Großraumordnung
der Konkurrenz.
Sie wurde in der
deutschen Ideologie nicht
zum Problem, weil deutsches
Kapital der europäisch
größte Fisch ist.
Das »Irrsinnige«
kommt herein durch das
von der selbstgerechten
Politik der Bundesregierung
praktizierte Spiel mit dem Feuer. Die
Flammen haben nun schon auf fünf Euroländer
übergegriffen und schicken sich an,
die gesamte Euro-Architektur in Schutt und
Asche zu legen.
Wie heißt es doch im Kommunistischen
Manifest? Durch »die fortwährende Umwälzung
der Produktion, die ununterbrochene
Erschütterung aller gesellschaftlichen
Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung
[… sind] die Menschen endlich gezwungen,
ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen
Beziehungen mit nüchternen Augen
anzusehen« (4/466). Werfen wir einen Blick
auf die untergetauchten Teile des Eisbergs
und halten wir ein paar bürgerlich-nüchterne
Tatsachen gegen Griechen- und Krisenkarikaturen
und die gängige Arroganz
gegenüber den sogenannten Peripherieländern
(vor wenigen Jahren nannte man so
die Entwicklungsländer). Dies gleich am
Beispiel des im Vergleich zu Griechenland
ungleich stärkeren Euro-Austrittskandidaten
Spanien. Die dortige Bankenkrise ist
dem Genfer Finanzwissenschaftler Harald
Hau (»Warum auch Spanien auf einen Euro-
Austritt zusteuert«, in: FAZ, 23.6.12, 12)
zufolge »deshalb so bedrohlich, weil der
private Sektor hohe Auslandsschulden aufgetürmt
hat.« Die »Investitionsruinen«
wurden mit ausländischen Krediten finanziert.
So steht Spanien laut Hau vor einer
»klassischen externen Schuldenkrise«. Nur
ein Viertel von Spaniens 2,4 Billionen Euro
Bruttoschulden entfallen auf den Staat, drei
Viertel auf den privaten Sektor. Und von den
Staatsschulden wird weniger als ein Drittel
(ca. 200 Mrd. Euro) vom Ausland gehalten.
Harald Haus Fazit: »Anders als in Griechenland
ist der private Sektor die Ursache
der Krise. Die gewaltigen Auslandsverpflichtungen
spanischer Gläubiger stellen
die griechische Krise daher weit in den
Schatten. Hier ist genug Sprengstoff für eine
zweite weltweite Finanzkrise. […] Allein die
Bankenkrise und die nötige Bankenrettung
könnten die Staatsverschuldung sehr schnell
um bis zu 20 Prozent auf fast 100 Prozent
des Bruttosozialprodukts
anwachsen lassen.« Damit
sei »die Grenze einer
tragfähigen Schuldensituation
vermutlich schon
überschritten«.
Die Bundesrepublik
hat sich als größter europäischer
Gläubigerstaat
zum Vorkämpfer
der privaten Gläubiger
gemacht, statt den Antagonismus der beiden
Gläubigerpositionen auszufechten und
im Namen des Gemeinnutzens den profitorientierten
Finanzmärkten Grenzen zu
ziehen. Sie rechtfertigt das mit vermeintlichem
Nationalinteresse, als ginge es um die
Sezession der (auch dank Euro) wirtschaftlich
stärksten Region aus dem Staatenverbund.
Doch die Folgen, die sich abzeichnen,
falls es keinen Politikwechsel gibt, werden
auch Deutschland ins Unglück stürzen. Noch
läuft der Export, noch sind die Auftragsbücher
voll und scheinen die Arbeitslosenzahlen
niedrig (schließt man die Augen davor,
dass ein Großteil der neugeschaffenen Arbeitsplätze
prekär sind), während die Nachbarländer
in die Rezession abgleiten und etwa
Spaniens Arbeitslosigkeit an die der
deutschen in der letzten Großen Weltwirtschaftskrise
heranreicht. Die Gefahr, die
Deutschland täglich näher rückt, wird an
den Finanzmärkten als »Kernschmelze des
Euro« beredet. Nicht die Sparguthaben wären
dann das Hauptproblem, sondern die
Arbeitsplätze. Beim Untergang des Euro
bräche der deutsche Export in die bisherigen
Euroländer zunächst vollends ein. China
und die anderen Schwellenländer, denen
der deutsche Export seine hauptsächlichen
Zuwächse seit dem tiefen Einbruch von
2008/2009 verdankt, würden weniger kaufen
von Deutschland, da Europa weniger von
ihnen kaufen könnte. Die Folge wäre eine
verheerende Arbeitslosigkeit im bisherigen
Musterland exportindustrieller Leistungsfähigkeit.
Wenn dann der Staat an die Grenze
seiner Leistungsfähigkeit stieße, hätten wir
Deutschen Verhältnisse wie Anfang der
1930er Jahre.
Wie es scheint, nähert die Krise sich dem
Kipp-Punkt. Aber wohin kann die Situation
umschlagen? Entgleitet sie der Kontrolle?
Das wäre der definitive politisch-ökonomische
Notstand. Fünf Minuten vor zwölf haben
nun die vier ranghöchsten EU-Amtsträger
(der EU-Ratsvorsitzende, der Kommissionspräsident,
der EZB-Chef und der
Eurogruppen-Chef) das Projekt eines Integrationsschubs
der Eurozone vorgelegt. Es
nimmt Deutschlands Vorbedingung für eine
Vergemeinschaftung der Finanzpolitik (und
damit der Schulden) auf: eine Art europäisches
Finanzministerium mit Kontrolle der
nationalen Haushalte. Das Budgetrecht,
Kern des Parlamentarismus, müsste dann
zwingend aufs Europaparlament übertragen
werden, was dieses aus einem nominellen
zum wirklichen Parlament machen
würde. Dann würde das vom Bundesverfassungsgericht
in seinem Lissabon-Urteil
genannte Kriterium erfüllt: dass nämlich
»im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung
« ein »einheitliches europäisches
Volk als Legitimitätssubjekt seinen
Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch
wirksam formulieren« könnte. Wenn die
Achillesferse des europäischen Einigungsprojekts,
die ihm jetzt tödlich zu werden
droht, in letzter Instanz sein demokratisches
Defizit ist, so öffnet die unter der Drohung
des politisch-ökonomischen Zusammenbruchs
aufgemachte Perspektive eine
»konstituierende Situation«. Bereits jetzt
öffnet der Zwang zu verfassungsändernden
Mehrheiten eine gewisse Chance für die
Linke im weiten – Sozialdemokraten, Grüne,
Piraten und Sozialliberale, aber auch linke
Christdemokraten umfassenden – Sinn, Demokratisierungsgewinne
auf europäischer
Ebene herauszuholen, deren Forderung ohne
solches Interessen-Huckepack in gewohnter
Aussichtslosigkeit verhallen würde.
Europa ist nicht vereinbar
mit dem neoliberalen
Kapitalismusverständnis.
* Wolfgang Fritz Haug, 1936 in
Esslingen geboren, ist Philosoph,
Verleger des Argument-Verlags,
Herausgeber der Zeitschrift »Das
Argument« und des »Historischkritischen
Wörterbuchs des Marxismus
«. Publikationen u.a.:
»Kritik der Warenästhetik«
(1971), »Vorlesung zur Einführung
ins Kapital« (1974), »Faschismus
und Ideologie« (1980).
Jüngst erschien Haugs Buch
»Hightech-Kapitalismus in der
Großen Krise«.
Aus: neues deutschland, Samstag, 30. Juni 2012 ("Forum")
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