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Verunrechtlichung

Hannes Hofbauers Buch über Rechtsprechung als politisches Instrument

Von Werner Pirker *

Die neoliberale Hegemonie äußert sich eher nicht im klassisch liberalen Laissez faire. Sie tendiert vielmehr zunehmend zu einer äußerst rigiden Disziplinierung der Gesellschaft, auch bei der Formierung der öffentlichen Meinung. Und je mehr den bürgerlich-demokratischen Gesellschaften die demokratische Legitimation abhandenkommt, desto anmaßender artikuliert das westliche Hegemonialkartell seinen Machtanspruch auf universelle Werte. Werte, die sich keineswegs aus der ureigenen Ethik des Kapitalismus ergeben, die er sich als vermeintlicher Sieger der Geschichte aber auf seine Fahnen geschrieben hat: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Der Begriff »westliche Wertegemeinschaft« suggeriert den Anspruch, daß der Westen die einzige wertegeleitete Gemeinschaft ist. Daß er vor allem eine interessengeleitete Wertegemeinschaft ist, wird indes keineswegs als moralischer Makel empfunden.

Im westlichen Wertediskurs an sich ist die Einschränkung der Meinungsfreiheit bereits angelegt. Da die Dreifaltigkeit – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte – in Konnotation mit Marktwirtschaft in Erscheinung tritt, gerät das Wertegelaber zur Kapitalismusapologie. »Wenn die Herstellung von Menschenrecht als Durchsetzung von (parlamentarischer) Demokratie und Marktwirtschaft verstanden wird, so wie sie das in zahlreichen EU-Dokumenten bezeichnet wird«, schreibt Hannes Hofbauer in seinem Buch »Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung«, dann verkommt die Freiheit, sich mit dieser Vorstellung von Menschenrecht zu konfrontieren, zur Farce.« Präsentiert sich die bürgerliche Demokratie, wie sie zum Beispiel im deutschen Grundgesetz verstanden wird, als nach vorne offen, so ist die in den EU-Verträgen dekretierte liberale Demokratie untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden, was alle über die bürgerliche Ordnung hinausgehende Demokratievorstellungen ausschließt.

Recht des Stärkeren

Nach seinem Sieg über den östlichen Systemkonkurrenten begann sich der imperialistische Westen als Alleinvertreter des humanistischen Erbes zu gerieren. Das betraf vor allem den Antifaschismus, der sich vor der Systemwende im Osten praktisch im Alleinbesitz der Linken befunden hatte. Damit nicht genug, begannen die imperialen Mächte als globale Befreiungsbewegung aufzutreten. Die Internationale erkämpft des Menschen Recht. Kriege wurden nicht mehr Kriege genannt, sondern humanitäre Interventionen. Imperialistische Gewaltpolitik zur Sicherung von Rohstoffquellen, Absatzmärkten und Verkehrswegen ist als internationale Solidaritätsaktion zu betrachten. Völkerrechtliche Barrieren waren zu beseitigen. Hofbauer: »Für die intellektuelle Absicherung dieses neo-imperialistischen Gehabes (…) sorgten Philosophen vom Schlage Bernard-Henry Lévy oder Jürgen Habermas. Sie betrieben die Ablösung des ›legalistischen Institutionalismus‹ durch einen ›werteorientierten Universalismus‹«.

Analog zur Zerstörung der Rechtsgrundlagen der internationalen Ordnung erfolgte die Verrechtlichung des gesellschaftlichen Diskurses. Der Weg zum Rechtsnihilismus, das heißt zum Recht des Stärkeren, ist mit den besten zivilisatorischen Vorsätzen gepflastert. Zum Beispiel der EU-Rahmenbeschluß zur Kriminalisierung von Rassismus, Antisemitismus und Leugnung von Völkermord. Das wirke, so Hofbauer, auf dem ersten Blick vernünftig. Doch: »Welches Gericht definiert welche kriegerische Katastrophe als Völkermord? Welches Gericht maßt sich die Definition einer historischen Wahrheit an?« Am Beispiel des jugoslawischen Bürgerkrieges zeigt der Autor auf, daß die Definitionsmacht über Begriffe wie Völkermord von jener »hegemonialen Kraft« ausgeübt wurde, die auf seiten der serbenfeindlichen Bürgerkriegsparteien in den Konflikt interveniert hatte. Nicht nur, daß die Erzählung der antiserbischen Jagdgesellschaft zur historischen Wahrheit erklärt wurde, fallen auch noch anderslautende Meinungen unter den Straftatbestand »Leugnung von Völkermord«.

Entdemokratisierung

Die Holocaustleugnung als Straftatbestand bildete den Auftakt. Hofbauer: »Argumentiert wurde diese Gesinnungsjustiz mit der Einzigartigkeit der verbrecherischen Ausrottungspolitik an den Juden und Roma.« Mit dem EU-Rahmenbeschluß, »nach dem die Leugnung jedes als solchen identifizierten Völkermordes in die nationalen Strafgesetzbücher aufgenommen werden muß«, werde diese Einzigartigkeit aufgehoben, gibt Hofbauer zu bedenken. Er relativiert freilich auch die These von der Einzigartigkeit des nazistischen Judenmordes, indem er auf die Geschichte der Nazigreuel als Ganzes verweist, darunter auf den Vernichtungsfeldzug der Hitler-Wehrmacht gegen die slawischen Völker. »Die Leugnung und Verharmlosung dieses Verbrechens steht in Deutschland und Österreich allerdings nicht unter Strafandrohung.«

Das jüngste, besonders drastische Beispiel für die Verrechtlichung der historischen Wahrheit lieferte das französische Parlament mit seinem Beschluß, die Leugnung des türkischen Völkermordes an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Der Autor schildert die unterschiedlichen Narrative der armenischen Katastrophe. Während die armenische und die mir ihr verbündete westliche Seite die grausame Vertreibung der Armenier aus Ostanatolien als gezielte Ausrottungspolitik bezeichnet, wird sie von seiten der Türken als chaotisch verlaufene und deshalb so verlustreiche Umsiedlungsaktion einer mit dem Kriegsgegner Rußland sympathisierenden Bevölkerung dargestellt. Über die unterschiedlichen Sichtweisen läßt sich streiten. Das abschließende Urteil, sofern es ein solches überhaupt geben kann, sollte jedenfalls nicht von einem Gericht gefällt werden.

Hinsichtlich der postjugoslawischen Gemetzel sieht sich allein die serbische Seite mit der Völkermordthese konfrontiert. Das Massaker von Srebrenica, per Gerichtsbeschluß als »Völkermord« zu betrachten, sei zum Gründungsmythos des bosnischen Staates geworden, vermerkt der Autor. Während im Fall Srebrenica bereits das Bestreiten der Völkermordthese eine strafbare Handlung darstellt, werden hinsichtlich der israelischen Vertreibungs- und Besatzungspolitik ganz andere Maßstäbe angelegt. Von Völkermord wagt ohnedies niemand zu reden. Denn schon die Benennung der Vertreibung als ethnische Säuberung und der Kriegshandlungen der israelischen Armee gegen Zivilisten als Massaker zieht massive Antisemitismusvorwürfe auf sich.

Abschließend verweist der Autor auf »zwei parallel zueinander stattfindende Prozesse«: die Entpolitisierung im Sinne einer fortschreitenden Entdemokratisierung und des Durchmarsches des Wirtschaftslobbyismus auf der einen und die politische Beschlagnahme der Justiz auf der anderen Seite. Der politische Diskurs wird in den Gerichtssaal verlegt, wo wiederum politische Opportunität das Urteil spricht.

Hannes Hofbauer: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung - Rechtsprechung als politisches Instrument. Promedia Verlag, Wien 2011, 264 Seiten, 17,90 Euro

* Aus: junge Welt, 9. Januar 2012


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