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Streitfrage: Eine geordnete Insolvenz als Ausweg aus der Griechenland-Krise?

Es diskutieren: Heiner Flassbeck, UNCTAD, und Friederike Spiecker, Volkswirtin und Journalistin, sowie Jürgen Kaiser, erlassjahr.de


Das Thema verfehlt

Von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker *

Die Finanzkrise, die wir im Euroraum erleben, ist keine Griechenland-, sondern eine Krise der Europäischen Währungsunion (EWU). Ihre Ursache besteht nicht in erster Linie in der hohen Staatsverschuldung einzelner Mitgliedsstaaten der EWU, sondern in deren Auslandsverschuldung. Wäre ein hoher öffentlicher Schuldenstand ursächlich dafür, dass sich ein Land nicht an den internationalen Kapitalmärkten refinanzieren kann, müsste etwa Japan mit seinem Staatsschuldenstand von 200 Prozent relativ zur Wirtschaftsleistung längst der internationale Geldhahn abgedreht worden sein. Japan strotzt aber -- ähnlich wie Deutschland oder China -- vor im Ausland angelegtem Vermögen. Dass Japans Bürger eine große öffentliche Schuldenlast zu schultern haben, spielt für die internationale Bonität des Landes keine Rolle. Denn ein Land, das Überschüsse gegenüber dem Ausland erwirtschaftet, ist insgesamt, also über Staat und Private hinweg saldiert, Gläubiger und nicht Schuldner.

Doch auch wenn ein Land kein Auslandsvermögen, sondern Auslandsschulden besitzt, kann es hohe Bonität an den Kapitalmärkten genießen. Das ist immer der Fall, wenn seine Bürger Waren produzieren, die an den Weltmärkten konkurrenzfähig sind. Dann ist das Land in der Lage, im Ausland aufgenommene Kredite vertragsgemäß zu bedienen, egal, ob die Schulden auf das Konto der Privaten oder des Staates gehen. Zwar hat ein Staat -- anders als die Privaten -- nichts auf internationalen Gütermärkten anzubieten, aber er kann zur Finanzierung seiner im Ausland aufgenommenen Kredite seine Bürger via Steuern heranziehen -- vorausgesetzt, die verkaufen an das Ausland mehr, als sie von dort beziehen. Bleibt die Handelsbilanz jedoch ausgeglichen oder im Minus, findet kein Schuldenabbau im Ausland statt, völlig gleichgültig, wie hoch die Steuereinnahmen des Staates sind.

Im Kern geht es bei der Euro-Krise um große Unterschiede in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EWU. Wären alle Länder der EWU ungefähr gleich stark oder schwach auf den internationalen Gütermärkten, d. h. hätten alle gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt gleich hohe Überschüsse, Defizite oder, idealerweise, ausgeglichene Leistungsbilanzsalden, wäre die Gemeinschaftswährung nicht in Gefahr. Denn dann hätten alle Mitgliedsländer ungefähr die gleiche internationale Bonität, so dass kein Spekulant auf die Idee käme, einzelne Länder zu attackieren und so ein Auseinanderbrechen der EWU zu provozieren. Spekulationen für oder gegen den Euroraum insgesamt, also den Euro selbst, wären dann so an der Tagesordnung wie die für oder gegen den US-Dollar oder den Yen -- je nachdem, ob die gesamteuropäische Handelsbilanz permanent Überschüsse oder Defizite auswiese, je nach Zinskonstellation zwischen den verschiedenen Währungen und je nach weiterem Zögern, die Finanz- und insbesondere die Devisenmärkte ordnungspolitisch an die Kandare zu nehmen.

Hätten wir eine gleich schlechte oder gleich gute internationale Wettbewerbsfähigkeit aller EWU-Staaten, ließe sich eine etwa notwendige Stabilisierung des Euro-Wechselkurses ohne einen Cent an Steuergeldern organisieren, nämlich durch eine permanente Zusammenarbeit der Zentralbanken der vier großen Weltwährungen. Dafür müsste Europa auf die von Deutschland seit Jahren praktizierte und nun in der Krise explizit von seinen Währungspartnerländern abverlangte Strategie verzichten, mit einer deflationären Lohnpolitik mehr zu exportieren als zu importieren. Das würden sich nämlich die anderen drei großen Währungsräume nicht (mehr) gefallen lassen.

Doch haben wir aktuell enorme Wettbewerbsfähigkeitsunterschiede innerhalb der EWU, die sich nicht rasch beseitigen lassen. Dagegen helfen kein noch so großer Rettungsschirm aus Steuergeldern und keine noch so umfangreichen Staatsanleihekäufe seitens der Notenbank, weil beide Instrumente nur kurzfristig Liquiditätsengpässe beheben, aber die Begleichung der Schulden nicht bewerkstelligen und vor allem die systematische Entstehung neuer Schulden nicht abwenden. Die drastischen Sparauflagen, die nun mit den beispiellosen Rettungsmaßnahmen verbunden werden, sind reine Symptomkuriererei und befördern letztlich nur Deflation und Depression in Europa -- das Gegenteil von dem, was die verschuldeten Länder brauchen, um aus ihren Schuldenbergen herauszuwachsen, und so automatisch auch das Gegenteil von dem, was wir Deutschen zur Rettung unseres im Ausland angelegten Vermögens brauchen.

Der einzige Weg, die Wettbewerbsdifferenzen in der EWU tatsächlich dauerhaft zu beseitigen, damit Schulden ehrlich bezahlt werden können, ist eine koordinierte nicht-deflationäre Lohnpolitik, die zu einer Umkehr der Handelsungleichgewichte innerhalb Europas führt. Wiederum müsste das deflationäre Nettoexportmodell Deutschlands aufgegeben werden.

Ein nicht-konkurrenzfähiges Unternehmen verschwindet auf Dauer vom Markt. Dieser Weg steht einem Land nicht offen. Denn seine Bürger können sich nicht in Luft auflösen wie ein Firmenname, sondern müssen weiter existieren. Sollte das eine ausgerechnet aus Ostdeutschland stammende Bundeskanzlerin verdrängt haben, um keine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik einleiten zu müssen? Wer eine europäische Transferunion vermeiden und trotzdem den Euro als politischen wie wirtschaftlichen Eckpfeiler europäischer Politik nicht einreißen will, der muss sich an die Koordination der Lohnpolitik wagen, endlich eine Wechselkurspolitik zwischen den großen Weltwährungen ins Leben rufen und beide Politikfelder durch eine rigorose ordnungspolitische Zähmung der Finanzmärkte absichern.

* Heiner Flassbeck, 1950 geboren, ist Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD).
* Friederike Spiecker, Jahrgang 1967, ist Volkswirtin und Publizistin. Sie arbeitet zu den Bereichen Konjunkturpolitik, Makroökonomie und Arbeitsmarkt.



Gläubiger am Risiko beteiligen

Von Jürgen Kaiser **

Dass Staaten pleite gehen können, ist eine Tatsache. Griechenland steuert nicht nur aktuell auf eine Staateninsolvenz zu. Es hatte in vier von zehn Jahren der letzten zwei Jahrhunderte die Zahlungen an seine Gläubiger eingestellt. Deutschland war zweimal in der jüngeren Geschichte pleite, auch die USA hat es schon mal erwischt, von zahlreichen Ländern Afrikas und Lateinamerikas gar nicht zu reden. Die zentrale Frage ist vielmehr: Wer zahlt für die Bewältigung einer Staatspleite? Und wer entscheidet darüber?

Ein Blick darauf, wie seit 1982 mit zahlungsunfähigen Staaten umgegangen worden ist, sollte den Griechen, und allen, die sich ansonsten in Europa auf eine Staatsinsolvenz zubewegen, die größten Sorgen machen: Mit drastischen Strukturanpassungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) mussten seit 1982 die ärmsten Bevölkerungsgruppen der verschuldeten Entwicklungs- und Schwellenländer den Versuch bezahlen, ihre Länder aus einer Überschuldungssituation herauszusparen. Dass für eine Zahlungsunfähigkeit außer den (häufig undemokratischen) Regierungen des Schuldnerstaates vielleicht auch die geldgebenden Banken, Regierungen und Finanzinstitutionen eine Verantwortung tragen könnten, wurde dort, wo Entscheidungen getroffen wurden, nicht mal gedacht.

Das war auch kein Wunder: In Institutionen wie dem Pariser Club, in der Weltbank und im IWF treffen die Gläubiger selbst alle Entscheidungen. Deswegen brauchten diese zu Insolvenzrichtern mutierten Gläubiger vom Ausbruch der Schuldenkrise 1982 volle 23 Jahre bis sie (nach dem G8-Gipfel in Gleneagles 2005) das taten, was Ihnen Kirchen und NROs schon in den Achtzigern gesagt hatten: Wenigstens die ärmsten Länder von (fast) allen untragbaren Auslandsschulden zu befreien. In der Privatwirtschaft würde man so etwas »Insolvenzverschleppung« nennen. Mit dem kleinen Unterschied, dass weniger die ehrlichen Gläubiger das Opfer solchen Treibens waren, sondern die ärmsten Bevölkerungsgruppen in den Schuldnerländern, die ein »verlorenes Entwicklungsjahrzehnt« durchlebten. Aber selbst für die Gläubiger waren die Schuldenstreichungen am Ende umso teurer, je länger sie aufgeschoben wurden.

Dabei ginge es auch anders. Bereits in ihrem Trade and Development Report 1986 hatte die UNCTAD, zusammen mit Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen ein Insolvenzverfahren für Staaten gefordert. Seither sind zahlreiche praktische Vorschläge gemacht worden, welche auch für Griechenland eine Perspektive jenseits der kontinuierlichen Refinanzierung eines längst unbezahlbar gewordenen Schuldenberges eröffnen könnten. Ihnen allen gemeinsam sind die zentralen Merkmale, die auch im Inland eine geregelte Insolvenz ausmachen:

Die Entscheidung über einen eventuellen Schuldenerlass fällen nicht die Gläubiger, sondern eine unparteiische Instanz wie z. B. ein Schiedsgericht;

Ob ein Schuldnerlass unvermeidbar ist oder nicht, wird auf der Grundlage eines unabhängigen Gutachtens entschieden, und nicht von den Gläubigerinstitutionen Weltbank und IWF;

Alle Gläubiger müssen in eine Regelung einbezogen werden, statt dass Banken, Anleihegläubiger, Regierungen und Finanzinstitutionen jeweils getrennt verhandeln -- und darauf setzen, dass eine andere Gruppe zuerst Zugeständnisse macht. Ist ein »Haircut« (Schuldenerlass) unvermeidlich, trifft er alle Gläubiger gleichermaßen.

Die Eröffnung eines Verfahrens hat eine sofortige Einstellung aller Zahlungen zur Folge; so wird verhindert, dass einzelne Gläubiger versuchen, ihr Schäfchen auf verschlungenen Wegen ins Trockene zu bringen.

Ein solches Verfahren würde keine erst noch zu schaffende Insolvenzbürokratie erfordern -- auch wenn es jetzt in der Krise sehr nützlich wäre, wenn etwa eine Staateninsolvenzkammer z. B. nach der Argentinien-Krise 2001 geschaffen worden wäre. Vielmehr könnte nach den Prinzipien des Kapitels 9 des US-Insolvenzrechts, welches die Insolvenz von Gebietskörperschaften regelt, ein Schiedsverfahren ad-hoc und kurzfristig zu einer Lösung kommen. Wie das Schritt für Schritt ablaufen könnte, hat erlassjahr.de an verschiedenen Fällen gezeigt.

Würde ein solches Verfahren nicht den Zugang des Landes zum Kapitalmarkt endgültig zerstören? Im Gegenteil: Griechenlands Zugang zu den Finanzmärkten ist zerstört. Das Land wird Monate oder gar Jahre wesentlich von den öffentliches Mitteln des Rettungspakets leben müssen. Erst ein geordnetes Verfahren bietet die Chance, das Vertrauen von Anlegern -- und damit einen bezahlbaren Zugang zu privaten Mitteln -- wieder herzustellen. Schließlich wird jeder rationale Anleger eher dort investieren, wo neue Mittel nicht die Bedienung von unbezahlbaren Altschulden finanzieren, sondern einen glaubwürdigen Neuanfang nach einem »Haircut«. Mit genau dieser Zielsetzung wurden z. B. die oben erwähnten Schuldnerlasse für die ärmsten Länder (wenn auch zu spät und zu langsam) auf den Weg gebracht.

Und vor allem wäre ein solches geordnetes Insolvenzverfahren der einzige Weg, diejenigen, die wegen der hohen Zinsen griechische Titel gekauft haben, auch am Risiko zu beteiligen. Die Trennung von Investition und Risiko, die die anhaltenden staatlichen Rettungspakete mit sich bringen, ist der größtmögliche Anreiz für unverantwortliches Gläubigerverhalten. Wäre umgekehrt schon vor zehn Jahren klar gewesen, dass Griechenland nicht unter allen Umständen und immer seine Schulden bezahlen wird, wäre es den trickreichen Finanzverantwortlichen in Athen erheblich schwerer gefallen, Geldgeber für Kredite zu finden, von denen wir heute wissen, dass sie besser nie gewährt worden wären.

** Jürgen Kaiser, 1954 geboren, ist Politischer Koordinator von erlassjahr.de. Zu den 800 Mitglieder dieses Bündnisses zählen Landeskirchen, Eine-Welt-Gruppen sowie entwicklungspolitische Organisationen, unter ihnen »Brot für die Welt« und »World, Economy, Ecology & Development« (WEED) und »pax christi«.

Beide Beiträge aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2010 ("Debatte")



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