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Eine Chance für Mitsprache

Von Sylvia-Yvonne Kaufmann *

Das Rüffert-Urteil des Europäischen Gerichtshofs machte deutlich: Die Entsenderichtlinie muss geändert werden, um einen wirklichen Schutz der Arbeitnehmer vor Lohndumping zu gewährleisten. Dies fordern Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien. Aber die EU-Kommission schweigt und versucht, die Probleme auszusitzen. Und das, obwohl nach europäischem Recht nur sie eine solche Änderung einleiten kann, denn sie hat das Initiativmonopol.

Daraufhin wird in zahlreichen Mitgliedstaaten eine Europäische Bürgerinitiative gestartet, um die EU-Institutionen zum Handeln zu zwingen. Im Zuge dieser Kampagne fordern schließlich eine Million Bürgerinnen und Bürger aus mehreren EU-Staaten die Kommission auf, endlich von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch zu machen. Zugleich wird ihr mitgeteilt, wie dieser Vorschlag in seinen Grundzügen aussehen soll. Jetzt ist die Kommission in der Pflicht, sie muss öffentlich Stellung nehmen. Aufgrund des massiven Drucks sieht sie sich veranlasst, im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu handeln. Und: Die nächste Bürgerinitiative zur Einführung einer europäischen Tobinsteuer rollt bereits auf sie zu.

Sicher, das ist Zukunftsmusik. Aber so in etwa könnte es in der EU nach der erfolgreichen Einführung der Europäischen Bürgerinitiative aussehen. Allerdings, der Weg dahin ist noch weit und steinig. Obwohl der Vertrag von Lissabon, der mit dem Instrument der Bürgerinitiative erstmals direkte supranationale Demokratie in der EU einführen würde, auf Eis liegt, sind die Dinge dennoch in Bewegung geraten. Das Europäische Parlament hat entschieden, ein deutliches Zeichen zu setzen. Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen von Europa abwenden, will sich das Parlament dafür stark machen, die Bürgerinnen und Bürger endlich unmittelbar in den Aufbau Europas einzubeziehen. Es setzt auf ihre Ideen und ihr bürgerschaftliches Engagement. Sein Ziel ist die umgehende Einführung der Europäischen Bürgerinitiative in den europäischen Gesetzgebungsprozess. Noch vor Abschluss dieser Legislatur soll ein Vorschlag für eine EU-Verordnung auf dem Tisch liegen, und mir wurde als Berichterstatterin die Verantwortung dafür übertragen.

Am 18. September dieses Jahres soll es losgehen. Der Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments wird einen Workshop mit zahlreichen Fachleuten und Nichtregierungsorganisationen durchführen. Ihre Sachkompetenz und ihre Erfahrungen sind gefragt. Schließlich war es vor allem ihrem unermüdlichen Drängen zu verdanken, dass es in der letzten Nachtsitzung des Europäischen Konvents im Jahr 2003 doch noch gelang, die Rechtsgrundlage für die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative in den damaligen Verfassungsentwurf aufzunehmen. Die Regierungen trauten sich später nicht, diese Bestimmung wieder zu streichen.

Jetzt ist es endlich soweit, diese Idee mit Leben zu erfüllen. Meine Erfahrungen aus dem Verfassungskonvent sagen mir aber, dass der Widerstand derjenigen, die in der EU auch weiterhin lieber auf bürgerferne Geheimdiplomatie setzen, enorm sein wird, im Rat ebenso wie in der Kommission. Deshalb ist gerade die Linke gefordert, sich mit ihren Vorstellungen konkret einzumischen!

* Sylvia-Yvonne Kaufmann ist stellvertretende Vorsitzende der linken GUE/NGL-Fraktion im Europäischen Parlament und Mitglied im Verfassungsausschuss.

Aus: Neues Deutschland, 5. September 2008 (Rubrik: "Brüsseler Spitzen")



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