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"Neoliberalismus bekommt in der EU Verfassungsrang"

Wissenschaftler aus ganz Europa formulieren Alternativen - Memo: Jenseits von Lissabon

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das am 18. Dezember in der Tageszeitung "junge Welt" erschien. Peter Wolter sprach mit Prof. Dr. Jörg Huffschmid, Universität Bremen, anlässlich der Herausgabe des Euro-Memorandums "Jenseits von Lissabon", das von europäischen Wirtschaftswissenschaftlern herausgegeben wurde.
Das EuroMemo 2004 kann hier heruntergeladen werden: EuroMemorandum 2004: Jenseits von Lissabon



Interview mit Prof. Dr. Jörg Huffschmid*

Frage: Erneut haben Wirtschaftswissenschaftler aus ganz Europa ein Memorandum zur Wirtschaftspolitik vorgelegt. Welche Rolle spielte dabei der Entwurf zur EU-Verfassung?

Jörg Huffschmid: Wir sind der Ansicht, daß das, was wir jahrelang als eine kontraproduktive und sozial schädliche Wirtschaftspolitik kritisiert haben, unverändert in den Verfassungstext übernommen wurde. Unsere Kritik konzentriert sich auf die ökonomischen und sozialökonomischen Passagen der Verfassung, die im wesentlichen im Teil III stehen. Wir halten das für verhängnisvoll, weil der Neoliberalismus dadurch Verfassungsrang bekommt – und das, obwohl er wissenschaftlich umstritten und politisch außerordentlich schädlich ist.
Selbst wenn es neue politische Mehrheiten gäbe, ließe sich diese verfassungsrechtliche Festlegung auf den Neoliberalismus kaum aus der Welt schaffen – dazu wären wieder einstimmige Beschlüsse und Referenden nötig. Unserer Ansicht nach ist das ein Versuch, eine umstrittene Theorie einfach dadurch zu immunisieren, daß man ihr Verfassungsrang gibt. Der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung braucht man sich dann gar nicht erst zu stellen.

F: Wie viele Wissenschaftler sind mittlerweile an dieser Euro-Memorandumsgruppe beteiligt?

Das sind etwa 70, 75 aktive Wirtschaftswissenschaftler aus fast allen europäischen Ländern. Auch vier oder fünf Länder aus Osteuropa sind dabei. Wir kommen jährlich zu ein oder zwei großen Konferenzen zusammen und diskutieren dort den Text der Entwürfe für das Memorandum.

F: Haben diese Wirtschaftswissenschaftler eine gemeinsame wirtschaftstheoretische Plattform?

Gemeinsam ist allen die Kritik an der herrschenden Wirtschaftspolitik und die Forderung, in der EU einen anderen makroökonomischen und sozialpolitischen Weg zu verfolgen. Die Kritik speist sich aus unterschiedlichen theoretischen Ansätzen: keynesianisch, reformorientiert-sozialdemokratisch, ökosozial, auch marxistisch.

F: Wie will die Wissenschaftlergruppe ihre Vorstellungen in die Öffentlichkeit transportieren?

Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Aber immerhin – das Memorandum geht jeweils an 500 bis 600 Ökonomen in ganz Europa, die mit ihrer Unterschrift ihre Zustimmung zu dem Text geben. Für das neue Memorandum haben wir jetzt schon knapp 300 Unterschriften gesammelt. Auch wenn diese Ökonomen nicht allen Aussagen zustimmen – sie sind sich einig darin, daß eine Kursänderung nötig ist. Und zwar zu einer expansiveren Makroökonomie und einer fortschrittlicheren Sozialpolitik. Einig sind sie sich auch in ihrer Ablehnung dieser Privatisierungs- und Deregulierungswelle.

F: Wie ist denn das Echo in den Medien?

In Griechenland wurde im letzten Jahr das Memorandum in vollem Wortlaut in einer Wirtschaftszeitung veröffentlicht. Dieses Jahr wurde die dreiseitige Zusammenfassung im Wortlaut abgedruckt. In Frankreich hat letztes Jahr Le Monde darüber berichtet. In Deutschland ist es sehr unterschiedlich, letztes Jahr brachten viele Zeitungen einen Zweispalter. In Großbritannien und Spanien tut sich überhaupt nichts, in Schweden etwas. Aber wir gehen davon aus, daß uns zumindest die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen.

F: Haben Sie auch Kontakte zu sozialen Bewegungen wie ATTAC oder den Sozialforen?

Wir haben an den Europäischen Sozialforen in Paris und London teilgenommen, unsere Veranstaltungen waren sehr gut besucht. Ich selbst war z. B. bei einer Veranstaltung über alternative Geldpolitik. Obwohl das ein ziemlich trockenes Thema ist, haben die 300 Teilnehmer vier Stunden lang am Stück diskutiert. Im Grunde sind diese Bewegungen und die Gewerkschaften auch unsere Hauptzielgruppen. Es geht uns zum einen darum, die Wissenschaftsblockade aufzubrechen. Zum anderen wollen wir Fragen beantworten, welche Alternativen denkbar sind.

* Professor Dr. Jörg Huffschmid lehrt Volkswirtschaft an der Universität Bremen. Er ist Koordinator der EuroMemorandum-Gruppe, in der alternative Wirtschaftswissenschaftler aus ganz Europa zusammenarbeiten. Die Gruppe stellte kürzlich ihr neuestes Memorandum zur Wirtschaftspolitik vor.
Weitere Informationen: www.memo-europe.uni-bremen.de



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