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Die Ostsee-Region - Modell für Europa?

Konferenz diskutiert Chancen und Risiken

Helmut Scholz; der Europaabgeordnete (LINKE) ist Mitinitiator der Rostocker Konferenz.



ND: Am Wochenende veranstaltet die LINKE gemeinsam mit der Linksfraktion im Europaparlament in Rostock eine internationale Konferenz zur EU-Ostseestrategie. Was ist an dem Thema so brisant?

Scholz: Die Ostsee und ihre Anrainerstaaten - von denen acht der EU angehören - haben sich zu einer europäischen Großregion entwickelt, die nicht nur über erhebliches Entwicklungspotenzial verfügt, sondern in der sich zugleich zahlreiche Probleme ballen. Dazu gehören die wachsende Umweltverschmutzung, der starke Schiffsverkehr und der drastische Rückgang der Fischbestände, Munitionsreste und Wracks auf dem Meeresgrund sowie die Krise der maritimen Industrie. Zugleich stellt der geplante Bau und Ausbau der Energieversorgungssysteme durch die Ostsee eine große Herausforderung für alle beteiligten Staaten dar. Diese Probleme und Herausforderungen sind nicht nationalstaatlich, sondern nur durch ein komplexes und multilaterales Herangehen zu meistern.

Sind diese Herausforderungen mit der von der schwedischen Ratspräsidentschaft im vergangenen Herbst vorgelegten Ostseestrategie zu bewältigen?

Diese Strategie war angesichts der genannten Probleme - und ebenso der Chancen für die Region - überfällig. Es geht darum, die Ostseestrategie nicht als Projekt einiger weniger Staaten zu begreifen, sondern als Anliegen der gesamten Gemeinschaft, das auch alle Politikbereiche - von der Beschäftigung über Verkehr bis Umwelt - und Ebenen erfasst und einschließt. Nehmen wir die geplante Ostseepipeline: Natürlich dient diese nicht nur der Energieversorgung im Ostsee-Raum, sondern der gesamten EU. Da ist es doch verständlich, dass sich nicht nur die Anrainer für eine sichere Verlegung, die ökologische Aspekte berücksichtigt, verantwortlich fühlen. Ganz zu schweigen von Umwelt- und Klimafragen, die nur »im ganz großen Rahmen« angegangen werden können. Daneben entspricht selbstverständlich auch der Abbau des gerade in der Region existierenden wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen EU-»Alt«- und Neumitgliedern den Gemeinschaftszielen.

Bei der von Frankreich forcierten Mittelmeerstrategie klangen die Ziele ähnlich. Inzwischen ist von dem Projekt kaum noch etwas zu hören.

Das liegt sicher einerseits an der mangelnden Konsequenz bei der Umsetzung. Andererseits stellte sich die Mittelmeerstrategie schnell als ein Prestigeprojekt von Nicolas Sarkozy heraus, welches zu wenig nationale und regionale Aspekte mit gesamteuropäischen Ansätzen verbindet. Sicher findet die Vernetzung auch im Ostsee-Raum zuerst regional statt. Aber der Mehrwert liegt ja gerade in dieser Verbindung von Regionalem und Europäischen. Deshalb steht die Ostseestrategie auch von Beginn an allen EU-Staaten offen.

Russland ist ebenfalls Ostsee-Anrainer - und soll offensichtlich nicht einbezogen werden.

Das ist Ausdruck dafür, dass Russland von der EU und ihren Mitgliedern noch immer nicht als gleichberechtigter Partner wahrgenommen wird. Unser Ansatz war gerade, auch die berechtigten Interessen Russlands zur Sprache zu bringen. Es bleibt abzuwarten, ob Moskau sich selbst aktiv in die Entwicklung eines solchen Dialoges mit der EU und den Mitgliedstaaten einbringt. Die Ostseestrategie würde sich selbst widersprechen, wenn sie Russland nur als Zaungast behandelt. Moskau muss von Beginn an und umfassend einbezogen werden.

Sie sind optimistisch, was die Umsetzung der Strategie anbelangt?

Ich halte sie zumindest für einen guten Ansatz. Umso erstaunlicher ist, dass dafür bisher keine Strukturfondsmittel bereitgestellt wurden. Die Antwort auf die Frage, aus welchen Mitteln das Geld für die Realisierung des Plans kommen soll, blieben Rat und Kommission bis heute schuldig. Werden hier künftig heute noch für die Struktur- und Regionalfonds bereitgestellte Mittel nur neu verteilt oder gibt es reale Erweiterungen? Dass die Ostsee-Großregion auch zu einem Modell für andere Regionen werden kann, setzt aber nicht nur die Lösung des Finanzierungsproblems voraus. Vielmehr muss der politische Wille bei allen Beteiligten da sein, das Vorhaben auch konsequent und umfassend umzusetzen. So darf man eben nicht bei der vorgesehenen Schaffung von Wirtschaftsclustern oder bei der Realisierung der Ostsee-Pipeline stehen bleiben. Für mich ist von besonderer Bedeutung, wie die Strategie zu einer wirklich sozialen Wirtschaftsentwicklung unter Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse beiträgt.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2010


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