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Auslaufmodell Demokratie

Andreas Fisahns materialistische Staatstheorie zeigt: Europa ist auf dem Weg zur Oligarchie

Von Thomas Wagner *

Wie steht es eigentlich um die einst als besonders kritisch geltende Politologie? Manche Vertreter dieses Faches bewerten die Kapitalverträglichkeit von parlamentarischen Entscheidungen, andere geben den Regierende Tips, wie sie dem Wahlvolk unpopuläre Entscheidungen am besten verklickern können. Überwiegend dozieren Politikwissenschaftler brav über die immer gleichen Klassiker, interpretieren mehr oder weniger belanglose Statistiken oder betreiben das um sich selbst kreisende Gesellschaftsspiel der Systemtheorie. Schlimmstenfalls rechtfertigen sie die neuen imperialen Kriege. Gesellschaftskritisches vernimmt man kaum noch. Widerständig tönt es heute paradoxerweise zuweilen ausgerechnet aus den Reihen der als besonders konservativ geltenden Rechtswissenschaftler.

Herrschaftsverband

Nachdem der Jurist Andreas Wehr mit dem Buch »Europa ohne Demokratie« die antiemanzipatorische Stoßrichtung der gescheiterten Europäischen Verfassung herausgearbeitet hat, legt nun Andreas Fisahn, seines Zeichen Professor für öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, eine umfangreiche Studie vor, mit der die kritische Staatstheorie einen großen Schritt voran bringt. Auch Fisahn zeigt im Detail, wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung durch die Europäische Union abgesichert und ihre herrschende Oligarchie auf diese Weise gegen sozialreformerische Kräfte imprägniert wird. Doch formliert seine »Herrschaft im Wandel« genannte Studie darüber hinaus einem fundamentalen demokratietheoretischen Anspruch. Während die konservative Lehre den Staat als notwendigen Herrschaftsverband definiert und demokratische Wahlen auf ihre Legitimationsfunktion für die jeweilige Regierung reduziert, begreift Fisahn die Demokratie als diejenige »gesellschaftliche Organisationsform, die ausgerichtet ist an der regulativen Idee einer Überwindung von Herrschaftsbeziehungen«. Angestrebt wird die von Marx, Engels und Lenin postulierte soziale Republik der frei assoziierten Produzenten, die nicht verwirklicht werden kann, ohne daß die privatkapitalistische Herrschaft überwunden und die Bourgeoisie entmachtet wird. Die regulative Idee der Herrschaftsfreiheit legitimiert keine spontaneistische Theorie des unmittelbar zu realisierenden Reichs der Freiheit, sondern bildet den Hintergrund für eine realistische Veränderungsperspektive, die zentrale gesellschaftliche Institutionen wie das Recht nicht abschaffen, sondern so weit als möglich demokratisieren will. Wesentlich ist, daß es auch in einer substanziell demokratischen, nachkapitalistischen Gesellschaft »eine Sphäre individuell geschützter Rechte« geben muß, »die dem Zugriff des Staates oder gesellschaftlicher Assoziationen entzogen ist«.

Grundlagentext

Der hohe Gebrauchswert der Studie besteht darin, daß sie abstrakte theoretische Einsichten für die praktische politische Arbeit aufbereitet und die vielfältigen Prozesse neoliberaler Entdemokratisierung in den Staaten der Europäischen Union beim Namen nennt. Die sind im Einzelfall nicht neu, wurden bisher aber nirgends so umfassend und in ihrer Verflechtung dargestellt. Hier können daher nur wenige Stichworte genannt werden: Gezeigt wird, wie auf immer neue Weise staatliche Entscheidungen durch privatwirtschaftliche ersetzt werden und sich die Herrschenden in der EU mittels einer Vielzahl von institutionellen Vorkehrungen gegen den Einfluß der Bevölkerungsmehrheit oligarchisch abschotten. »Eliten« werden durch das Bildungssystem rekrutiert. Von der Regierung beauftragte Expertengremien verlagern Prozesse der Aushandlung und Entscheidungsfindung auf Orte außerhalb der Parlamente. Die Verwaltung wird betriebswirtschaftlich geführt, die ökonomische Logik in staatlichen Apparaten installiert. Die universitären Selbstverwaltungsgre­mien werden zugunsten eines Hochschulrates entmachtet. Die Demokratie erodiert und räumt ihren Platz für eine neue Form der Oligarchie: »Die öffentliche Entscheidungsfindung wird entdemokratisiert, aber nicht durch autoritäre, monokratische, sondern durch oligarchische Entscheidungsstrukturen ersetzt, bei denen die private, soziale Macht in die formale Stellung öffentlicher Entscheidungsgremien aufrückt oder die Logik der Apparate so angelegt ist, daß Entscheidungen durch soziale Macht determiniert werden.«

Globale Akkumulations- und Herrschaftsstrategien und ihren Einfluß auf die europäische Politik untersucht Fisahn nicht. Seine Kritik am Staatssozialismus bleibt oberflächlich. Trotzdem ist ihm ein großer Wurf gelungen: Da Fisahn von Thomas Hobbes, über Marx, Lenin, Gramsci bis hin zu Niklas Luhmann und Nicos Poulantzas nicht nur einen gut lesbaren Überblick über beinahe alle wichtigen Staatstheorien vor dem Hintergrund des jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsniveaus bietet, sondern daraus fundierte Ansätze einer an demokratische Befreiung interessierten Zeitdiagnose zur Diskussion stellt, ist sein Buch als Grundlagentext für Studierende und für die politische Bildungsarbeit dringend zu empfehlen.

Andreas Fisahn: Herrschaft im Wandel - Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates. PapyRossa Verlag, Köln 2008, 410 Seiten, 22,90 Euro

** Aus: junge Welt, 28. Juli 2008


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