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"EU-Auflagen treiben halb Europa in den Abgrund"

Beispiel Italien: Ökonom sieht Länder im Süden bei gleichbleibender Politik zum Ausstieg gezwungen. Ein Gespräch mit Riccardo Realfonzo *


Riccardo Realfonzo ist Professor für Politische Ökonomie an der süditalienischen Universität Sannio.


In offiziellen EU-Kreisen heißt es vermehrt, daß die Krise bald überwunden sei und sich die bisherige Politik ausgezahlt habe. Sehen Sie das auch so?

Ganz im Gegenteil! Die aktuelle Ordnung der Europäischen Währungsunion ist technisch untragbar. Die restriktive Sparpolitik, die das Produkt der europäischen Verträge ist, neigt nicht nur dazu, die Krise zu verschärfen, sondern trägt auch zur Spaltung Europas bei. Sie vertieft die Kluft zwischen den zentralen Teilen der Eurozone, die ein gewisses Wachstum verzeichnen, und ihren Peripherien, wie Griechenland, Spanien und Italien, in denen das Bruttoinlandsprodukt weiter schrumpft und die Arbeitslosigkeit schwindelerregend steigt. Die EU-Auflagen treiben halb Europa in den Abgrund.

Wieviel Zukunft hat die Gemeinschaftswährung unter diesen Umständen?

Wenn keine bedeutende Änderung vorgenommen wird und die europäische Wirtschaftspolitik nicht auf Expansion setzt, werden einige Länder der Peripherie zum Ausstieg gezwungen sein. Nur so können sie die wirtschaftspolitischen Instrumente zurückgewinnen, auf die sie verzichtet haben. Ich denke an eine eigenständige Währungspolitik und eine expansive Haushaltspolitik, die die Binnennachfrage wiederbeleben kann. Entweder ändert sich die Politik oder das Experiment Euro wird scheitern.

Die Regierung von Enrico Letta will aber mit dem sogenannten Stabilitätsgesetz die Privatisierungen vorantreiben...

Ein großer Teil der Meinungsmacher und der Politiker konzentriert sich nur auf den Schuldenabbau, als sei das das Hauptproblem unserer Ökonomie. Daher die Idee, soviel öffentliches Eigentum wie möglich zu verkaufen. Die zahlreichen Privatisierungen der Vergangenheit haben aber weder das Problem der Staatsverschuldung gelöst noch die Wettbewerbsfähigkeit erhöht.

Befindet sich Italien in einem dauerhaften Notstand?

Da muß man sich nur die Zahlen anschauen: Italien hat 2012 fast 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eingebüßt. 2013 wird ein Minus von weiteren knapp zwei Prozent hinzukommen. Ende Dezember wird die nationale Produktion rund neun Prozent unter dem Wert von 2007 liegen. Seither hat sich die Erwerbslosigkeit verdoppelt. Heute suchen hier mehr als drei Millionen Menschen einen Job. Natürlich hängen die Ergebnisse des kommenden Jahres auch von der Regierungspolitik ab, doch die Ankündigungen lassen nichts Gutes erwarten. Das Kabinett scheint nicht nur außerstande zu sein, eine deutliche Änderung der EU-Auflagen zu fordern, es konzentriert sich vor allem auf das Drücken des Haushaltsdefizits unter die Drei-Prozent-Marke. Die Rede ist nur von Ausgabenkürzungen. So besteht keine Chance, die Wirtschaft wiederzubeleben. Italien und die gesamte EU-Peripherie bräuchten auch eine Zugwirkung für Exporte durch eine stärkere Nachfrage aus Mittel­europa. Die entsprechenden Länder haben aber in den letzten Jahren die Löhne massiv begrenzt und ihre Handelsüberschüsse erhöht.

Nachdem die italienischen Banken die Derivatekrise halbwegs heil überstanden haben, geraten sie nun durch die Schrumpfung der Realwirtschaft in eine heikle Lage. Was befürchten Sie?

Nach Daten von Credit Reform nehmen die Unternehmensinsolvenzen in Staaten wie Deutschland und Holland deutlich ab, während sie an der Peripherie rasanter denn je steigen. Natürlich ist das Kreditrisiko der Banken im Süden sehr viel höher als im Zentrum. Das ist eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. In den Randzonen sinkt die gesamte Nachfrage massiv. Immer mehr Firmen brechen zusammen, mit gravierenden Auswirkungen auf das Bankensystem. In den Zentren hält das Bankengeflecht eben auch aufgrund der höheren Nachfrage, der Konkurrenzvorteile und der Exportförderung.

Ist die alte Parole der Linken »Die Reichen werden immer reicher« nun eine Binsenweisheit?

Diese Feststellung gilt sowohl zwischen als auch in den jeweiligen Ländern. Die Einkommensverteilung wird immer ungleicher, auch in Italien. Das belegt auch der zunehmende Rückgang der Lohnquote am Inlandsprodukt zugunsten der Profite und Renditen. Die Schrumpfung des Lohnanteils ist der Haupteffekt der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Klar, daß diese Umverteilung von den Armen zu den Reichen die Nachfrage nicht gerade ankurbelt.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Freitag, 25. Oktober 2013


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