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Vor dem Referendum: "Der Druck ist auch bei uns sehr stark"

In Frankreich scheiden sich die Geister am EU-Verfassungsvertrag. Ein Interview mit Elisabeth Gauthier, Unterzeichnerin des "Appells der 200"

Am 29. Mai befinden die Franzosen in einer Volksabstimmung über die EU-Verfassung. Zur Zeit gibt es eine relativ stabile Mehrheit (gegen 55 Prozent) gegen die Annahme der Verfassung. Die politische Auseinandersetzung dürfte sich in den nächsten Wochen also verschärfen, zumal Präsident Chirac und die konservative Regierung ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um doch noch zu einem mehrheitlichen "Ja" zu kommen. Das folgende Interview (Interviewer: Thomas Klein) gibt einen kleinen Einblick in die Brisanz der Diskussion im benachbarten Frankreich.



»Ein von oben aufgezwungener Text«

In Frankreich beginnt die heiße Phase der Kampagne gegen die EU-Verfassung. Gegner rechnen sich gute Chancen aus. Ein Gespräch mit Elisabeth Gauthier

Frage: Am 29. Mai wird in Frankreich per Referendum über den EU-Verfassungsentwurf abgestimmt. Mit einer kürzlich gestarteten Kampagne versuchen Sie, eine Mehrheit für ein »Nein« zu gewinnen. Welche Punkte sind Ihnen dabei wichtig?

Bei dem Entwurf handelt es sich keineswegs um eine klassische Verfassung, mit der demokratische Regeln festgelegt werden sollen, sondern um einen von oben aufgezwungenen Text. Er enthält ein detailliertes und klar neoliberales politisches Programm. Wenn man auch einige wohlklingende Sätze finden kann, so lautet die Grundlinie doch: Herstellung »eines Binnenmarktes mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb«.
Die »öffentlichen Dienste« – in Nizza wurden sie noch zu den »gemeinsamen Werten der Union« gezählt – bekommen hier nur mehr den »Stellenwert der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse«. Ihr Umfang wird begrenzt und das Wettbewerbsprinzip auf weitere, bisher öffentlich verwaltete Sektoren ausgedehnt.

F: In Deutschland kritisieren Friedensorganisationen u.a., daß eine Militarisierung in der Verfassung festgeschrieben werden soll. Spielt dieser Punkt in Frankreich im Rahmen Ihrer Kampagne auch eine Rolle?

Ja, auch in Frankreich wird die Unterordnung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik unter die NATO-Strategie und die Militarisierung der EU kritisiert. Gleichzeitig wird in vielen gesellschaftlichen Bereichen und oft im Rahmen sozialer Kämpfe der konkrete Bezug zum Verfassungstext hergestellt: In den Gewerkschaften, im Schulwesen, in der Forschung, von Feministinnen, im Kampf für Rechte der Migranten und um eine europaweite »citoyenneté de résidence«.
Nach mehreren Meinungsumfragen ist in Frankreich die Mehrheit der linken Wähler der Meinung, daß man »Nein« sagen muß, wenn man ein soziales und demokratisches Europa anstrebt. Es ist auf dieser Basis eines linken »Nein« eine starke Dynamik im Land entstanden.

F: Hierzulande ist gelegentlich zu hören: Wer gegen den Verfassungsentwurf ist, ist gegen Europa. Wird in Frankreich ähnlich argumentiert?

Der Druck ist auch bei uns sehr stark. Versucht wird, das »Ja« als Normalität hinzustellen und das Referendum zu entpolitisieren.
Die Wähler werden eine zwölfseitige, von den Befürwortern redigierte offizielle Zusammenfassung des Verfassungstextes erhalten. Außerdem sollen nun einige, kleinere soziale Zugeständnisse oder das Versprechen, die Bolkestein-Richtlinie geringfügig zu ändern, die soziale Situation entschärfen.

F: In Spanien hat bei dem Referendum zum Verfassungsentwurf eine große Mehrheit mit Ja votiert – allerdings bei einer »Wahlbeteiligung« von lediglich 42 Prozent. Was stimmt Sie zuversichtlich, daß in Frankreich ein Nein bei der Abstimmung durchaus möglich ist?

In Frankreich hat sich eine breite Koalition aus verschiedenen gesellschaftlichen Kräften gebildet: als Gesamtparteien KPF und LCR, bedeutende Teile der Sozialistischen Partei, linke Grüne, wesentliche Teile der Gewerkschaften, Bewegungen wie ATTAC. Der sogenannte »Appell der 200« – von sozialen und politischen Akteuren unterzeichnet – hat frühzeitig ein Signal gesetzt.
Die bereits mehr als zehn Umfragen, die das »Nein« mit 51 bis 55 Prozent ausweisen, bringen die Vertreter des »Ja«, insbesondere in der Sozialistischen Partei, in große Schwierigkeiten. Wichtig wird in den nächsten Wochen sein, dem ständig zunehmenden Druck der europäischen Rechten und der Sozialdemokratie glaubhaft entgegensetzen zu können, daß wir auf die Unterstützung all derer rechnen können, die hoffen, daß ein französisches »Nein« gegen den Neoliberalismus auch ihnen eine Stimme gibt.

* Elisabeth Gauthier ist Unterzeichnerin des »Appells der 200« gegen die EU-Verfassung, Mitglied im Exekutivkomitee der KPF (Kommunistische Partei Frankreichs), Generalsekretärin von »Espaces Marx« und aktiv im europäischen Netzwerk »Transform!«

Aus: junge Welt, 14. April 2005



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