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Kontroverse um die EU Verfassung in Frankreich

Von John P. Neelsen

1. Vorgeschichte und Entwicklung der Fronten

Anfang Mai verschickte die Pariser Regierung an alle Wahlberechtigten eine 191 Seiten starke Broschüre, die neben dem vollständigen „Vertragstext zur Etablierung einer Verfassung für Europa“ auch die gesamten Protokolle samt zweier Annexe enthält. Der Bürger sollte sich selbst ein Bild machen können, bevor er in dem Referendum am 29. Mai auf die Frage: „Stimmen Sie dem Gesetzesvorhaben zur Ratifizierung des Vertrages zur Etablierung einer Verfassung für Europa zu?“ antwortet.

Anders als in Deutschland, wo gerade eine überwältigende Mehrheit des Parlaments von 96 % dem Verfassungstext zugestimmt hat, wird in Frankreich, wie in neun anderen Staaten der EU, eine Bürgerbefragung dazu abgehalten. Dadurch ist eine lebhafte kontroverse Diskussion unter Parteien, in den Medien und unter der Bevölkerung über die Zukunft Europas in Gang gekommen. Mehrere thematische Bücher sind jüngst auf den Markt gekommen, die schon drei Wochen vor dem Referendum Auflagen von jeweils über 100.000 Exemplaren verzeichneten. Dabei hatte im letzten Winter zunächst noch alles wie eine Formalität ausgesehen. Präsident Chirac und mit ihm die Regierungspartei sowie die Führungsspitze der Sozialisten, die bei den Europawahlen 2004 einen überwältigenden Sieg davon getragen und sich in ihrem Votum zusätzlich auf das Ergebnis einer Anfang Dezember durchgeführten Mitgliederbefragung (60 % befürworteten die EU Verfassung) berufen konnten, hatten sich für eine Zustimmung ausgesprochen. So sicher war man sich des Ausgangs, schließlich wollten Meinungsumfragen zu Folge noch Ende 2004 65 % mit Ja stimmen, dass das ursprünglich für den Herbst vorgesehene Referendum (das überhaupt abzuhalten zunächst durchaus umstritten war) angesichts der Unterstützung der Sozialisten auf Mai vorgezogen wurde.

Soweit Kritik geäußert wurde, wurde sie als erwartet (Front National), als Ausdruck persönlicher Ambitionen (Fabius, ehemaliger Ministerpräsident der PS) behandelt, negative Umfrageergebnisse auf Frustration mit der aktuellen Regierung, inkl. Präsident, zurückgeführt. Doch inzwischen haben sich Fronten gebildet, geht der Riß durch die politischen Parteien, die Gewerkschaftsbewegung, ja Familien hindurch (so gehört die Witwe von Mitterrand zu den Opponenten, der Sohn Gilbert zu den Befürwortern), die ihre Haltung mit einer jeweils unterschiedlichen Bewertung des Verfassungstextes begründen. Wohl zum ersten Mal ist eine breite inhaltliche Diskussion zur Zukunft Europas seitens der Bürger in Gang gekommen, die politische Entscheidungen von langfristig großer Tragweite in die Mitsprache des Souveräns zurückverlagern, den Formaldemokratismus der etablierten politischen Klasse in Frage stellen.

In einer groben Übersicht gehören zur Front der Befürworter:
  • Die etablierten Parteien der Rechten, d.h. insbesondere UMP, UDF,
  • die Mehrheit der Führungsspitze der Sozialisten sowie die Grünen
  • unter den Gewerkschaften die den Sozialisten nahestehende CFTD
  • dazu die christliche CFTC
Im Lager der Gegner befinden sich:
  • Die extreme Rechte der Front National von Le Pen, aber auch zweier kleinerer Parteien angeführt von Pasqua, Gefolgsmann de Gaulles und Minister unter Chirac, sowie die MPF von de Villier (1999 zusammengelegt Zur RPF (Rassemblement pour la France)
  • Dazu die linke Fraktion in der Sozialistischen Partei (Fabius, Emmanuelli),
  • die kommunistische Partei (PC), die extreme Linke, Lutte Ouvrière und LCR (Ligue Communiste Revolutionaire), dazu die Bürgerrechtsbewegung MRC von Chevènement (ehemals PS, mehrfachem Minister, Mitglied der Regierungskoalition ‚gauche plurielle‘ unter Jospin,
  • die linken Gewerkschaften wie FSU (Lehrer), Force Ouvrière, die der kommunistischen Partei nahestehende CGT [1],
  • sowie die Altermondialisten unter Führung von ATTAC, Confédération paysanne (José Bové), etc.

2. Der Inhalt der Kontroversen

Bzgl. der Substanz der Kontroversen ist festzuhalten, dass es sich im wesentlichen um einen Diskurs aus der INNENANSICHT der EU handelt, d.h. sich auf Aspekte der Auswirkungen der Verfassung auf die französische Gesellschaft, Politik und Staat konzentriert, wohingegen Außen- und militärpolitische Fragen wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Materiell lassen sich vier zentrale Themenbereiche [2] ausmachen:
  1. Die Menschenrechte
  2. Sozialstaat und Neoliberalismus
  3. Demokratie
  4. Souveränität und Rolle Frankreichs
Zunächst ist zum Verfassungstext selbst festzuhalten, dass er aus vier Teilen mit 448 Artikeln besteht, wobei der erste mit 60 Paragraphen die Ziele, Organe, Kompetenzen und Funktionsweise der EU umreißt. Der zweite enthält eine Charta der Grundrechte, die in 53 Artikeln unter den Überschriften Menschliche Würde, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrecht, Justiz detailliert werden. Der dritte, weitaus umfangreichste Teil stellt den materiellen Kern des Entwurfs dar. Er regelt die ‚Politik und Funktionsweise der Union‘ im Einzelnen , wobei die insgesamt 321 Paragraphen zum Teil verbatim frühere Vertragstexte reproduzieren.

Die Befürworter der Verfassung haben vor allem die bessere und effizientere Funktionsweise der Institutionen der EU im Auge, die sich nach der Erweiterung von 2004 und dem zukünftigen Beitritt weiterer Staaten (als nächste Bulgarien und Rumänien 2007) als umso dringlicher erwiesen hat. Zum anderen unterstützen sie die Stärkung der EU sowohl nach innen durch die Ausweitung der Kompetenzen wie nach außen durch die Festlegung auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (inkl. Verteidigung). Drittens wird eine Stärkung durch die weitgehende Abschaffung von Einstimmigkeit zu Gunsten von Mehrheitsentscheidungen, statt der halbjährlichen Rotation die Berufung eines exklusiv für die EU tätigen Präsidenten des Europäischen Rates mit einer (einmal erneuerbaren) 2 ½ jährigen Amtszeit sowie der Einsetzung eines für Auswärtige Angelegenheiten und Sicherheitspolitik zuständigen EU-Außenministers, der zugleich als Vizepräsident der Kommission fungiert, anvisiert. Schließlich begrüßen die Befürworter die Aufnahme einklagbarer Menschenrechte sowie die größere Beteiligung des Europäischen Parlaments (EP) sowie die Einführung eines Petitionsrechts als Fortschritt, wobei sie als Maßstab vor allem die bisherigen Regelungen auf EU Ebene vor Augen haben. Bei allen Unzulänglichkeiten im Detail sehen sie den Verfassungsentwurf als gute, materiell und zeitlich unabdingbare Grundlage für die Zukunft Europas. Eine Ablehnung würde dagegen katastrophale Auswirkungen nach sich ziehen, das Projekt Europa überhaupt in Frage stellen, weshalb die Gegner der Verfassung mit Gegnern Europas gleichzusetzen sind.

Die Opponenten, deren Anteil trotz massiver Einseitigkeit in den Medien zwischenzeitlich wieder die Mehrheit bei den Umfragen in Frankreich ausmacht, begründen ihre Ablehnung des Verfassungsentwurfs vor allem inhaltlich.

Menschenrechte

Der formelle Bezug auf Menschenrechte und deren Auflistung im Einzelnen ist zwar grundsätzlich positiv, kann aber über entscheidende Defizite nicht hinweg täuschen. So gibt es kein Recht auf Wohnung oder auf Abtreibung, die Religionsfreiheit ist in einer Weise definiert, die die strikte Trennung von Religion und Schule (vgl. das jüngste gesetzlich verankerte Verbot des ‚islamistischen Kopftuchs‘ in öffentlichen Schulen) gefährdet. (II-70, II-82) Das fundamentale, die Würde des Menschen im alltäglichen Lebensvollzug entscheidend berührende, ‚Recht auf Arbeit‘ wird auf ‚das Recht zu arbeiten‘ verkürzt bzw. pervertiert. (II-75) Kommt hinzu, dass anders als in dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UN von 1966 (Art.8) die Bildung von Gewerkschaften keine besondere Würdigung genießt, vielmehr Arbeiter und Unternehmer gleich behandelt werden. Beiden wird in der Verfolgung ihrer allein materiellen Interessen das Mittel des Arbeitskampfs zugestanden, politische Streiks dagegen finden keine Berücksichtigung. (II-88) Man mag die Tatsache, dass sich zum ersten mal in der Geschichte der Gemeinschaftsverträge eine solche Liste von Grundfreiheiten findet, begrüßen, doch den Bürger interessiert weniger dieser Umstand als der Aspekt, inwieweit dieser Katalog über die für ihn aktuell geltenden (nationalen) Rechte hinausgeht. Und hier ist mit Ausnahme des Artikels II-63 zur Medizin und Bioethik nichts Neues festzustellen; mehr noch, diese Menschenrechtscharta fällt zumindest bei den sozialen Rechten, bei der Frage der kollektiven Selbstbestimmung sowie im Bereich der Menschenrechte der Dritten Generation eher hinter die entsprechenden UN Pakte von 1966 bzw. Wien 1993 zurück. Kommt hinzu, dass die bloße Proklamation von Rechten ohne verbindliche Feststellung von Inhalt und Reichweite in ihrer Bedeutung a priori stark eingeschränkt sind, ganz abgesehen von mangelnden Verfahrensvorschriften für ihre Umsetzung und eines durchaus offenen Verbindlichkeitscharakter (Rekurs bzw. Vorrang nationaler Regelungen). (Clergerie/Wassermann 2005, 19ff; A-F. Bechtel 2005, 125ff).[3]

Neoliberalismus

Überhaupt werden soziale Rechte, soziale Sicherheitssysteme und generell öffentliche Dienstleistungen nicht prinzipiell als einklagbare Grundrechte in die Charta aufgenommen. Zum einen sind sie bzgl. ihrer Geltung typisch einschränkend der Form „die Union anerkennt und respektiert das Recht auf Zugang zu...“ formuliert bzw. unter den Vorbehalt der ‚Rechtsvorschriften bzw. der nationalen Gesetze und Praktiken“ gestellt. (II-94; auch Artikel III-133ff sprechen lediglich von der für eine EU-weite freie Zirkulation der Arbeitskraft unabdingbaren Koordination der verschiedenen nationalen Sicherungssysteme). Schlimmer noch, sie werden in Umfang und Funktionsweise auch dort, wo sie bestehen, relativiert und so faktisch ausgehöhlt. Formal schon angedeutet in der Transformation ‚öffentlicher Dienstleistungen‘ zu ‚Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse‘ (II-96) werden sie unter das vorrangige Gebot der Finanzierbarkeit gestellt. Hier wirkt sich die Gesamtheit der Regelungen aus, die der Europäischen Zentralbank nicht nur eine völlig unabhängige, sondern zugleich einseitig allein auf Preisstabilität ausgerichtete Funktion zuschreibt, die faktisch in der einklagbaren Einhaltung bestimmter Grenzen bei Haushaltsdefiziten einmündet. Anders, das Schicksal des Einzelnen wird von der Kassenlage des Staates abhängig gemacht; womit zugleich der Kampf gegen soziale Exklusion und Armut sich letztlich als schlicht rhetorische Floskel erweist.

Besondere Kritik und wachsenden Protest hat in diesem Zusammenhang die nach ihrem Initiator, dem für den Binnenmarkt zuständigen EU-Kommissar, benannte ‚Bolkestein Richtlinie‘ auf sich gezogen. Der Protest gegen diesen bereits im Januar 2004 bekannt gewordenen Vorschlag richtet sich gegen die Deregulierung bzw. Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, die Einführung europaweiter Dienstleistungen nach dem ‚Herkunftslandsprinzip‘ und generell gegen die Philosophie der ‚freien ungehinderten Marktkonkurrenz‘ ihrer Protagonisten. Für die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften symbolisiert sie die Unterminierung des Sozialstaats, den direkten Angriff auf die im Zuge von Arbeitskämpfen erkämpften Errungenschaften gerade in den reichen EU Ländern in einem allgemeinen Trend nach unten. Erst unter dem Eindruck massiver Demonstrationen, wie zuletzt seitens der Globalisierungsgegner und der europäischen Gewerkschaftsbewegung am 19. März in Brüssel wurde die Richtlinie zurückgezogen. Doch ein Blick in die Verfassung zeigt, dass die Liberalisierung der Dienstleistungen nicht nur innerhalb der EU, sondern auch weltweit das Ziel der Vertreter des Neoliberalismus in Wirtschaft und Politik bleibt. (III-144-149). Eine Schlacht wurde gewonnen, aber nicht der Krieg: Delokalisierung, hohe und persistierende Arbeitslosigkeit (in Frankreich 10.5 %), Abbau von sozialen Sicherungssystemen, stagnierende Einkommen sowie zunehmend unsichere und prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse haben die traditionelle Befürwortung zu Gunsten von Europa in Skepsis gegenüber dem in der Verfassung sich spiegelnden speziellen (neoliberalen) Projekt umschlagen lassen.

Zwar benennt die Verfassung unter ihren Zielsetzungen (I-3.3) auch die ‚soziale Marktwirtschaft‘ neben ‚dauerhafter Entwicklung‘ und Umweltschutz doch werden solche Formulierungen gleich wieder in den vorrangigen Kontext größter Wettbewerbsfähigkeit gerückt. Schon ein zunächst sehr vordergründig erscheinendes Argument zeigt, wohin die Reise geht: von ‚sozialem Fortschritt‘ wird dreimal gesprochen, von Wettbewerb und Konkurrenzfähigkeit 27 mal; und gleich 78 mal wird auf den ‚Markt‘ Bezug genommen. Hiermit ist einer der schärfsten Kontroversen angesprochen: (a) die für eine Verfassung generell eher seltene explizite Festschreibung nicht nur auf einen bestimmten ordnungspolitischen Rahmen/ Produktionsweise, hier die private Marktwirtschaft/Kapitalismus, sondern (b) auf ihren neoliberalen Typus, wie er sich in der immer wieder betonten ‚freien und uneingeschränkten Konkurrenz‘ und in dem von jeglichen sozialen Bindungen freien Recht auf Privateigentum niederschlägt. Auch wenn viele dieser Bestimmungen aus früheren Verträgen übernommen worden sind, wobei an die Geschichte der EU als einer bewußt immer enger integrierten Wirtschaftsgemeinschaft zu erinnern ist, sollen hier spezifische politische Basisorientierungen Verfassungsrang erhalten, quasi sakrosankt zum einklagbaren Maßstab zukünftiger Politik gemacht werden. Mehr als allgemeine Gesellschaftspolitik manifestiert sich hier reine Klassenpolitik, wobei selbst der Anschein der Vertretung von Allgemeininteressen durch den Staat unterlaufen wird.

Demokratie

Auch die allseits betonten Demokratiefortschritte sind allenfalls relativ. Da ist zunächst festzuhalten, dass der Verfassungsentwurf von keiner ‚konstituierenden Versammlung‘, sondern einem mit keiner demokratischen Legitimation ausgestatteten ‚Konvent‘ von 105 Personen ausgearbeitet worden ist.[4]

Die Änderung der Verfassung ist faktisch unmöglich gemacht, insofern sie als ersten Schritt an ein kompliziertes Konsultations- und Prüfungsverfahren gebunden ist. Selbst wenn dies erfolgreich abgeschlossen ist, stellt deren Annahme ein weiteres Hindernis dar. So verlangt ein Inkrafttreten die mehrheitliche Unterstützung durch den Europäischen Rat gefolgt von der einstimmigen Befürwortung durch eine Konferenz von Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten sowie die anschließende Ratifizierung durch jeden einzelnen EU-Staat. (III-443) Mögen ähnliche Klauseln für bisherige Verträge gelten, diese können durch neue Verträge abgelöst werden, während der jetzige Text bei seiner Annahme als EU Konstitution für Jahrzehnte die Grundlage und Richtschnur europäischer Politik sein wird.

Das Petitionsrecht (I-10, 2; II-104; III-334) gibt jedem Bürger der EU individuell oder im Verein mit anderen das Recht, dem EP eine Petition vorzulegen. Allerdings, erscheint dies angesichts des in den Nationalstaaten längst institutionalisierten Rechts einerseits, der Machtlosigkeit des Europaparlaments andererseits eher formell als substantiell ein Zugewinn an Demokratie. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem ‚Initiativrecht‘ der Bürger (I-47). Herausgestrichen als Ausdruck ‚partizipativer Demokratie‘ verrät schon die Sprache: „die Bürger der Union, vorausgesetzt es handelt sich um mindestens 1 Million und sie stammen aus einer ‚signifikanten‘ Zahl von Mitgliedsstaaten, können die Initiative ergreifen und die Kommission auffordern, einen Vorschlag zu machen...“, dass es sich um eine Ausnahmeregelung handelt. Sie hat keinerlei Einfluß auf die autoritäre Kompetenzverteilung, dem Souverän wird nicht einmal der Schein von Mitbestimmung gelassen, denn was passiert, wenn die Kommission der Aufforderung nicht folgt – Nichts!

Statt mehr Demokratie ist der Bürger im Grunde entmündigt. Die Verfassung kennt keine Europäische Staatsbürgerschaft. Allein das Petitionsrecht und die Anrufung eines Mediateurs sind vorgesehen; ansonsten bleibt er als Staatsbürger institutionell in die Schale seiner Nation eingemauert, obwohl gerade die letztere immer mehr Kompetenzen an die EU abgibt. Und die dortigen Entscheidungsverfahren haben mit einer demokratischen Gewaltenteilung, partizipativer Demokratie und Kontrolle durch den Souverän gar nichts zu tun. Da das Parlament in seiner Zusammensetzung (a) auf national zusammengestellten Wahllisten und Wahlkreisen beruht, und (b) der eingeführte demographische Faktor aus der Sicht der kleinen Staaten eine systematische Dominanz der bevölkerungsreichen Länder und damit auch deren parteipolitischer Ausrichtungen zur Folge hat, kann deshalb nur von einer Scheindemokratisierung gesprochen werden. Das EP hat zwar größere Mitspracherechte; diese bleiben aber weit hinter solchen der nationalen Parlamente zurück.

Souveränität

Nicht nur Politiker der extremen Rechten auch die linksliberale Bürgerbewegung MDC lehnt die Verfassung ab, weil sie darin einen unkontrollierbaren Verlust an Souveränität fürchtet.

Es geht nicht allein um die Erweiterung der exklusiv der EU vorbehaltenen Kompetenzen, vor allem Außengrenzen, Außenhandel, Geldpolitik/EZB, Binnenmarkt (Wettbewerbsregeln und Funktionsweise) (I-13) und ihrer gestärkten (faktisch übergeordneten) Position auch in den Feldern ‚geteilter Kompetenz‘ (I-14; u.a. Sozialpolitik, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Transport, Energie, Forschung, Technologie und Raumfahrt), sowie bei der Außen- und Sicherheitspolitik, inkl. der Einrichtung gemeinsamer Polizeibehörden. Für sich genommen, mögen sie im Einzelnen notwendig, gar wünschenswert sein; doch im Kontext der Entscheidungsverfahren und Kontrollfunktionen sind deutliche Einschränkungen nicht zu leugnen. Schon heute ist mindestens die Hälfte, nach anderen Schätzungen mehr als Dreiviertel der Gesetzgebung in den nationalen Parlamenten der EU nichts anderes als Übernahme und Adaptation der Gemeinschaftsgesetze. Diese aber kommen im Regelfall auf Vorschlag der Kommission (I-26,2) zustande und werden rechtskräftig erst nach gemeinsamer Zustimmung durch den Ministerrat und das EP (auch in Budgetfragen). In der auf fünf Jahre gewählten, mit weitgehenden Vollmachten ausgestatteten Kommission aber, die nur als Kollektiv agiert und abgewählt werden kann, werden in Zukunft einschließlich Präsident und EU Außenminister nur mehr zwei Drittel der Mitgliederstaaten durch einen Repräsentanten vertreten sein, der zudem die Gemeinschaft und gerade nicht ein spezifisches Nationalinteresse vertreten soll. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis Frankreich –wie jedes andere Mitgliedsland- einmal für mindestens fünf Jahre in der Kommission nicht personell vertreten sein wird. Und bedeutete das frühere Einstimmigkeitsgebot im Ministerrat faktisch ein Veto für jedes einzelne Mitgliedsland, wird dies mit der breiten Einführung ‚qualifizierter Mehrheiten‘ zwar die EU als ganzes handlungsfähiger machen, die politischen Institutionen der einzelnen Mitgliedsstaaten aber entmachten. Wie oben angeführt, wird diese Souveränitätsabgabe nicht von größerer demokratischer Kontrolle durch das Parlament (oder gar den Souverän, das Volk) begleitet oder gar kompensiert; denn das EP kann nach Zusammensetzung und zugewiesenen Kompetenzen diese Funktion schon institutionell weit weniger wahrnehmen als es im nationalen Kontext der Fall ist.

Im Kontext der Debatte um die Souveränität Frankreichs und die Einführung qualifizierter Mehrheiten wird neuerdings immer wieder auf das bei Annahme der Verfassung steigende Gewicht Frankreichs allein bzw. mit Deutschland oder auch im Verbund der sechs Gründungsstaaten der EGKS (Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl) bzw. der EWG (Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) verwiesen. Zunächst definiert die Verfassung eine für den Europäischen Rat wie den Ministerrat, für Regionalkomitee wie Wirtschafts- und Sozialausschuß normalerweise geltende ‚qualifizierte Mehrheit‘ als 55 % der Mitglieder, die mindestens 65 % der EU Bevölkerung repräsentieren sollen. Konkret heißt das (im Gegensatz zu aktuellen Verhältnissen) einen Anstieg in der Gewichtung Frankreichs von 9.2 auf 13.2; angesichts einer Verdoppelung bei Deutschland steigt das gemeinsame Gewicht auf über 31% (statt 18%) und zusammen mit den Beneluxländern und Italien kommen die sechs Gründerstaaten auf zukünftig 49 % (statt 36 %). Formal richtig kann das Argument jedoch aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Allein um mehrheitsfähig zu sein, müssen die Sechs noch weitere 8 bzw. 9 Staatenvertreter finden. Zum anderen wird eine systemische Interessenidentität von Frankreich und Deutschland bzw. der alten EWG Staaten suggeriert, die ebenso wenig existiert, wie die implizite Frontstellung gegenüber den seit 1973 in vier Etappen dazu gekommenen Ländern. Schließlich wird prinzipiell die Gleichheit, zentrales Prinzip der Demokratie, verletzt, wenn (hier implizit) eine systematische Majorisierung der (kleinen) Länder gefordert wird. Nein, es handelt sich um ‚populistische‘ Argumente der um ihre Mehrheit bangenden Verfassungsbefürworter. Dennoch dürfte faktisch je nach Kontext und Interesse mit variierenden Konstellationen in der EU (variable Geometrie) zu rechnen sein, insofern die Verfassung nach Absprache eine ‚verstärkte Zusammenarbeit‘ zwischen einzelnen Mitgliedsländern in Einzelbereichen vorsieht (I-44, III-416 ff) und dies ausdrücklich für die zur Kooperation Fähigen und Willigen in Rüstungs- und Sicherheitsfragen bezieht. Die Bedenkenträger bzgl. der schwindenden Souveränität Frankreichs dürfte es keinesfalls beruhigen.

3. Die EU-Verfassung von Außen betrachtet

Zum Frieden beizutragen, hat sich die EU laut Verfassung als oberstes Ziel auf ihre Fahnen geschrieben. Und gerade dies ist es, was in diesem Mai aus Anlaß des 60. Jahrestages des Endes des 2. Weltkriegs diesseits und jenseits des Rheins mit viel Pathos betont wird.

Richtig ist sicherlich, dass sich 1950 Monnet und Schumann für die Schaffung der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, den Vorläufer der heutigen EU, mit dem Willen und aus der Erkenntnis heraus eingesetzt haben, dass nur durch eine Zusammenführung der zentralen Basis der Wirtschafts- und Rüstungsindustrie unter eine Hohe Behörde zukünftige Kriege zwischen den beiden Erbfeinden unmöglich gemacht würden. Wenn sich diese Erwartung auch erfüllt hat, so ist die Ursache jedoch weniger in der EGKS zu suchen. Der Grund liegt vielmehr in dem sich seit 1947 abzeichnenden Kalten Krieg, wie er sich in der Gründung zweier deutscher Staaten 1948 und der Gründung der NATO 1949 manifestiert. M.a.W., das deutsch-französische Verhältnis wurde dem Ost-West-Gegensatz unter Führung der beiden Supermächte USA und der UdSSR untergeordnet, so dass beide gar nicht über die notwendige Handlungsfreiheit für eine autonome Politik verfügten.

Wenig diskutiert wird auch die Tatsache, dass die EU Verfassung nicht nur keinen konkreten Geltungsbereich in Form der Nennung ihrer Mitgliedstaaten vorgibt, sondern "Europa" eher als abstraktes Konzept, hier explizit als eine Wertegemeinschaft definiert wird, die für alle Staaten Europas, die diese Werte teilen und sie zu fördern bereit sind, offen ist. (I-1) Allein, es dürfte schwer fallen, in der heutigen Staatenwelt ein Land zu finden, dass nicht ebenso die Verwirklichung der Menschenrechte, Solidarität, Toleranz, Gleichheit, Gerechtigkeit, Pluralismus und Demokratie (I-2), wenn nicht explizit als Verfassungsziele, so doch als Mitglied der UNO und Unterzeichnerstaat der beiden Menschenrechtspakte von 1966 zu verfolgen sich verpflichtet hätte. Nein, hier liegt ein strategisches geopolitisches Programm vor, das faktisch auf die Totalrevision der Nachkriegsordnung hinausläuft. Konkret: das Wiederaufleben einer Alternative zur Marktwirtschaft und zugleich die Möglichkeit eines erneuten Aufstiegs Rußlands zu einer europäischen Großmacht auf Dauer zu verhindern. Dabei ergänzen sich die Interessen der westlichen Staaten beiderseits des Atlantik mit denen der im Zuge des Zusammenbruchs des sozialistischen Lagers neu an die Macht gekommenen internen Eliten in Osteuropa. Hatte der amerikanische Außenminister Baker dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow noch 1990 versichert, die NATO werde sich auch nicht einen Zentimeter über die deutschen Grenzen hinaus ausbreiten,[5] sind kaum 15 Jahre nach dem Fall der Mauer nicht nur alle Mitglieder des ehemaligen Warschauer Paktes, sondern sogar Republiken der früheren Sowjetunion zuerst Mitglieder der NATO und anschließend der EU geworden. Die Parallele im deutsch-französischen Verhältnis nach den beiden Weltkriegen drängt sich auf: in Versailles 1919 bzw. in den ersten Jahren nach 1945 drängte nicht zuletzt Frankreich darauf - mochte Deutschland auch besiegt, das Land ausgeblutet, Infrastruktur und Produktionsanlagen zerstört, Millionen auf der Flucht sein - alles zu unternehmen, um über den Augenblick hinaus für alle Zukunft auch sein Potential für einen erneuten Aufstieg zu beschneiden.[6] Die a priorische Weigerung der EU, einen Beitritt Rußlands zur EU (aber dafür den der Ukraine) auch nur zu erwägen wie auch der Konflikt um den Zugang zu Kaliningrad, zentraler Hafen der russischen Flotte an der Ostsee und Litmus Test für die Beziehungen der EU zu Rußland,[7] zeigen die EU als Teil einer neo-containment Politik gegenüber Rußland, mag dies Land auch die größten Opfer im zweiten Weltkrieg zu beklagen, und zugleich den größten Anteil am Sieg über den Faschismus gehabt haben.

Die out-of-area Einsätze, die euphemistisch als ‚Entwaffnungsaktionen‘ bezeichneten völkerrechtswidrigen Präventivkriege, die Orientierung militärischer Interventionen der EU „in Konformität mit den Prinzipien der UN-Charta“[8] (und eben nicht im Namen und Auftrag der UN bzw. des Sicherheitsrats), was auf eine Selbstmandatierung hinausläuft, wie die Verwendung eben derselben Formulierung, bei der ohne UN Mandat durchgeführten Bombardierung Ex-Jugoslawiens belegt, die Einrichtung einer gemeinsamen Rüstungsagentur und die Verpflichtung zur Aufrüstung sind in Frankreich wenig diskutiert worden. Dies bezieht sich auch auf die erleichterte militärische Zusammenarbeit bei willigen und potenten Mitgliedern der EU, was auf eine Stärkung der großen Länder und - trotz Einmütigkeitsgebot bei Entscheidungen im Einzelfall - auf einen erleichterten Gebrauch militärischer Mittel in den internationalen Beziehungen hinausläuft. Ebenso wenig wird die Marginalisierung des EP und damit einer internen Quelle von Legitimation im Kriegsfall beklagt, insofern die europäischen Parlamentarier lediglich regelmäßig konsultiert und informiert, nicht aber an Entscheidungen über Krieg und Frieden direkt beteiligt werden sollen. (I-41; III-309-312).

In diesem Mai der Gedenktage ist auch daran zu erinnern, dass der Verfassungsentwurf die konstitutionell festgeschriebene Neutralität Österreichs vom 15. Mai 1955 in Frage stellt, insofern alle Mitgliedsstaaten zur Solidarität mit den internationalen Aktionen, die eventuell auch mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden können, aufgerufen sind. (I-40, 5, 7)

Generell interessiert die französische Öffentlichkeit und Politik eher die Frage nach dem Verhältnis zu den USA, insbesondere im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Während aber die Politiker gern auf das Beispiel der Ablehnung der Unterstützung des Irak-Krieges vor allem durch Deutschland und Frankreich verweisen, um die Eigenständigkeit der EU zu unterstreichen, so ist dies nur die halbe Wahrheit. Nicht nur gehören 19 der 25 EU Mitglieder der NATO an, wobei die Verfassung selbst erklärt, die für die betroffenen Staaten aus deren Mitgliedschaft in der NATO erwachsenden Verpflichtungen zu respektieren. Sie geht noch darüber hinaus und verspricht explizit, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch zukünftig im Einklang mit den Verpflichtungen gegenüber der NATO, die als Fundament der kollektiven Verteidigung der betreffenden Mitglieder ausdrücklich genannt wird, zu halten. (I-41, 2,7). Die NATO aber ist das zentrale Instrument um die Hegemonialmacht USA politisch in eine ‚europäische‘ Macht zu verwandeln, ihr –angesichts der sehr ungleichen Machtverhältnisse – auf Dauer entscheidende Mitspracherechte in der EU zu sichern.

Dass das Verhältnis zu den USA auch aus der Sicht der einzelnen EU-Länder von Kooperation und Konkurrenz gezeichnet ist, bewies zuletzt die unterschiedliche Haltung der Europäer zum Irak Krieg. Einen Beleg für das gemeinsame Interesse von NATO und EU als imperialen Mächten auf der internationalen Bühne liefern die aktuellen Verhandlungen zur Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags (NPT), speziell das Agieren gegenüber dem Iran. Denn während die USA an der Miniaturisierung von Atomwaffen und solchen mit großer Durchschlagskraft arbeiten und die NATO den Ersteinsatz solcher Massenvernichtungswaffen nicht ausschließt, kommen die drei westlichen Atommächte andererseits ihren vertraglichen Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung bestenfalls formal und äußerst zögerlich nach. Umgekehrt soll anderen, als (potentiell) feindlich eingestuften Ländern (von den 200 Kernwaffen Israels sprechen EU und USA nie), schon die Entwicklung jeder eigenen Nuklearkapazität untersagt werden. Dabei lehrt gerade der Irak Krieg, dass im Konfliktfall nur eigene Atomwaffen den Schwachen einen Schutz versprechen können. Die EU verfügt mit 160 Mrd. Dollar nach den USA über das weltweit umfangreichste Verteidigungsbudget und gehört zu den weltweit wichtigsten Waffenexporteuren. Mit Frankreich und Großbritannien enthält sie auch zwei erklärte Atommächte, während weitere andere, inklusive der BRD, über die NATO in die Planung und den eventuellen Einsatz von Atomwaffen eingebunden sind. Im Fall des Iran zeichnet sich dabei geradezu ein modellhaftes Vorgehen ab: während die USA mit dem Säbel rasseln, mit dem Gang vor den Sicherheitsrat und Sanktionen drohen, einen Militärschlag –gegebenenfalls mit Hilfe Israels- nicht ausschließen, insistieren die europäischen Hauptmächte, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, (zunächst) auf den Verhandlungsweg. Iran soll zur vollständigen Aufgabe jeder auch nur potentiellen Atomrüstung durch Absage bereits eigener Urananreicherungsanlagen veranlaßt werden. M.a.W. Bewahrung (und Perfektionierung) des eigenen Massenvernichtungsarsenals in Kombination mit weitest möglicher Verhinderung solcher Waffen bei potentiellen Gegnern repräsentieren die geteilten Interessen von EU und USA. Dieses Ziel langfristig zu garantieren, arbeitet man als ersten Schritt mit verteilten Rollen: die EU verhandelt und verspricht Zuckerbrot, die USA drohen gleichzeitig mit der Peitsche. Für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen hat England schon die Unterstützung der ‚harten‘ Haltung der USA zugesagt. Die Entwicklung nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus und der Auflösung des Warschauer Pakts hat noch eine andere Dimension als quasi innere historische Logik offengelegt: die NATO Mitgliedschaft ist das Eingangsbillet zur EU. Die NATO Osterweiterung 1999 öffnete das Tor für den EU Beitritt der baltischen und osteuropäischen Staaten, ein Vorgang der sich am Beispiel Rumäniens und Bulgariens 2007 wiederholen wird.

Als letzter Gesichtspunkt verdient die Außenwirtschaftspolitik und speziell die Entwicklungspolitik der EU mehr Aufmerksamkeit als sie sie bisher in der öffentlichen Debatte gefunden hat. Erst der Blick auf die Dritte Welt jenseits der Rhetorik um ‚fair trade‘, Kampf gegen Hunger und Armut, wie sie der Verfassungstext beschwört (I-3,4; III-316ff) zeigt deutlich die Auswirkungen der seit Jahrzehnten den Ländern des Südens gegenüber praktizierten Politik. Die EU ist mit einem Anteil von 42 % mit weitem Abstand der wichtigste Pfeiler im Weltmarkt; unter den 100 größten Transnationalen Konzernen befinden sich mehr europäische als us-amerikanische; vier Staaten der G 7 gehören der EU an. Zusammen mit den USA entscheiden sie die Politik von IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation. Anders, wenn Entwicklungsländer die im Gefolge ihrer internationalen Verschuldung oktoyierten Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF beklagen, die ihre Länder ausbluten und mehr an den Interessen der Kreditgeber ausgerichtet sind als an den Bedürfnissen der armen Länder und ihrer langfristigen Entwicklung, so ist es faktisch die für die Außenwirtschaftspolitik zuständige EU, die sie für die 100.000 tagtäglich an Hunger und Unterernährung Sterbenden im Trikont mitverantwortlich machen. Selbst die Mißerfolge der 77 AKP Staaten (die ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, der Karibik und im Pazifik), die der EU seit 1975 in den Verträgen von Lomé und jetzt von Cotonu angegliedert sind, belegen angefangen bei der ausbleibenden Entwicklung bis hin zu den Vertragsbedingungen das materielle Interesse der Metropole generell, das die Leitlinien der EU charakterisierende neoliberale Paradigma speziell. Die Wahl von Pascal Lamy, französischer Sozialist und bis 2004 verantwortlicher Kommissar der EU für den Außenhandel, zum designierten Direktor der Welthandelsorganisation, macht auch ohne Aktenstudium schon auf dieser personellen Ebene deutlich, welche Politik er mit Erfolg vertreten hat. Handelt es sich bei der WTO doch um die wichtigste, mit Sanktionen ausgestattete Institution des internationalen Kapitals und ihrer wichtigsten politischen Zentren, der Triade oder den metropolitanen Staaten. Sie haben sich mit ihr dem freien Weltmarkt nicht nur im Warenverkehr, sondern ebenso bei Dienstleistungen verschrieben und beispielsweise einen individuellen Geistigen Eigentumsbegriff zu Lasten der Kranken, der Bauern und Armen in der Dritten Welt weltweit verbindlich durchgesetzt. In diesen Tagen findet angesichts drastisch gestiegener Textilimporte aus China nach Ablauf des MFA (Multifaser-Abkommens) in Frankreich der Ruf nach Importbeschränkungen breite Resonanz, wird mit werbendem Verweis auf die EU-Verfassung einem regulierten gegenüber einem ultra-liberalen Kapitalismus angelsächsischer Prägung das Wort geredet. So hat der EU-Kommissar für Außenhandel Peter Mandelson China zur Selbstbeschränkung aufgerufen und eine Prüfungskommission eingesetzt. Dass es sich hier um ein rein politisches Manöver mit Blick auf den 29. Mai handelt, machte Pascal Lamy sein Vorgänger im Amt deutlich. Die von den USA zum Schutz ihrer Textilunternehmen verhängten Importquoten kommentierte er mit einem: „It is not the law of the jungle, and the WTO rules were clearly set.“[9] M.a.W., die Aktionen der USA sind illegal, die EU und USA als entscheidende Protagonisten der WTO mit ihrer neoliberalen Agenda wissen es.

Die Debatte um die EU-Konstitution hat nicht das Projekt Europa als solches, sondern die Frage seine spezifischen Verfassung, seiner programmatischen außenpolitischen wie ideologischen Orientierung ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt, die Frage nach dem cui bono als zentrale gesellschaftliche Frage aufgeworfen. Allein dass diese Kontroverse öffentlich ausgetragen, den Hinterzimmern der Macht mit ihrer formaldemokratischen Fassade zumindest für einen Augenblick entzogen worden ist, muß bereits als Gewinn verbucht werden. Eine Ablehnung des Verfassungsentwurfs durch Frankreich würde mitnichten eine Katastrophe bedeuten, schließlich laufen die bestehenden Verträge weiter. Auch diese sind Ausdruck bürgerlich-neoliberalen Denkens, dessen Politik sie weiterhin intern wie international vorantreiben. Ein Sieg der Ablehnungsfront würde also nur eine Atempause bedeuten, eine Chance in einer noch weit zu verstärkenden Auseinandersetzung, das bestehende Kräfteverhältnis zu Gunsten einer anderen Politik zu ändern zu suchen.

Fußnoten
  1. B. Thibault, Generalsekretär der CGT, hatte ursprünglich seitens der Organisation keine Wahlempfehlung für die Mitglieder auszusprechen vorgeschlagen, war aber vom Zentralkomitee der Gewerkschaftsföderation zu Gunsten einer eindeutigen Ablehnung der Verfassung überstimmt worden. Es war nicht zuletzt diese im Februar 2005 getroffene Stellungnahme der CGT mit ihren 700.000 Mitgliedern, die die Front der Befürworter ins Wanken, die Diskussion im Land so recht in Gang brachte.
  2. Ursprünglich war die Frage des Beitritts der Türkei ein zentrales Thema auf Seiten der Rechten, inklusive breiter Teile der Regierungspartei UMP; vor allem deren Generalsekretär (und Rivale Chiracs) Sarkozy (der anders als der Präsident einem Türkeibeitritt eher ablehnt) gelang es jedoch diese Frage zu marginalisieren. In der aktuellen öffentlichen Diskussion spielt sie keine zentrale Rolle mehr.
  3. Siehe auch für die folgende Argumentation J.L.Clergerie, G. Wasserman, Référendum – Les conséquences du NON, Paris 2005. M.F.Garaud (ed), Oser dire NON à la politique du mensonge, Paris 2005.
  4. Außer dem Präsidenten VG d’Estaing (1974-81 Präsident Frankreichs) und zwei Vizepräsidenten (ehemalige Ministerpräsidenten Italiens und Belgiens) gehörten dem Konvent je ein Vertreter der Regierungen der 15 Mitgliedsstaaten, 16 Europaparlamentarier, je 2 Mitglieder der nationalen Parlamente, 2 EU Kommissare sowie 39 Vertreter der 13 Beitrittskandidaten (je einer für die Regierung und zwei für das Parlament) an.
  5. Strobe Talbott, The Russia Hand, Random House, London 2003, pp 93, 441.
  6. So auch Jesse Helms, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des US Senats: „a central strategic rationale for expanding NATO must be to hedge against the possible return of a nationalist or imperialist Russia“, Wall Street Journal 9 July 1997; ganz ähnlich auch die beiden Sicherheitsberater Lake und Brzezinski.
  7. Y.Primakov, A World Challenged, Washington 2004, p 116.
  8. Das dies nicht zufällig ist, belegt Artikel I-41, 7, indem ausdrücklich auf die Beistandspflicht im Falle auswärtiger Aggression gegen ein Land der EU unter Berufung auf Art. 51 der UN Charta Bezug genommen wird.
  9. International Herald Tribune, ‚China assails US textile quotas‘,May 16, 2005, p 11.
Mai 2005

John P. Neelsen ist Hochschullehrer an der Uni Tübingen


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