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"Unübersichtlichkeit statt Transparenz"

Anmerkungen zum falschen Verfassungsverständnis der EU-Verfassung

Von Norman Paech*

Eine Verfassung ist klassischerweise ein Gesellschaftsvertrag, der den Konsenszu einem offenen System politischer Gestaltung fixiert, in dem sowohl der Wechsel zwischen politischer Mehrheit und Minderheit wie auch zwischen alternativen politischen Konzepten und Entwürfen möglich ist. Diese Grundregel wechselnder politischer Kräfte und Politiken verlangt von der Verfassung nicht nur die Institutionalisierung des politischen Konfliktes und den Schutz der Minderheit vor Repression, sondern auch die politische Offenheit, die es konkurrierenden gesellschaftlichen Positionen erlaubt, andere politische Konzeptionen zu verfolgen und evtl. durchzusetzen. Die europäischen Verfassungen und insbesondere das Grundgesetz vermeiden deshalb zu detaillierte Regelungen einzelner Politikbereiche, um den Spielraum politischer Gestaltung nicht unzulässig einzuengen und die Politik nicht der Möglichkeit zur Anpassung an zukünftige Entwicklungen zu berauben. Die Verfassungen sind daher relativ kurz, überschaubar und transparent.

Die Zukunftsoffenheit ist ein zentrales Kriterium der Verfassung, die es ihr verbietet, die Politik des Staates auf ein detailliertes Programm festzulegen und ihr damit die notwendigen Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft zu nehmen. Sie muss sich damit auf die Fixierung allgemeiner Kompetenzen, Staatsziele, Rechte und Programmatiken beschränken, die den Prozess demokratischer Auseinandersetzung über alternative gesellschaftliche Konzepte ermöglicht und fördert. Ein vorbildliches Beispiel dieser Zurückhaltung liefert das Grundgesetz, indem es die Wirtschaftspolitik nicht auf ein bestimmtes System festlegt, sondern wie es das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, gegenüber der Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik neutral bleibt, der Politik also einen weitgehenden Gestaltungsspielraum gewährt. Das Grundgesetz definiert die Spielregeln und den Rahmen, somit also auch bestimmte Grenzen, sie organisiert den politischen Prozess, überlässt es aber den einzelnen Gesetzen, konkrete Politikinhalte festzulegen.

Die Europäische Verfassung folgt diesem Verfassungsverständnis in seinen ersten beiden Teilen, die die Grundlagen der Europäischen Union und die Charta der Grundrechte enthalten. In ihrem dritten Teil, welches die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union regelt, verlässt die Verfassung jedoch ihre Bestimmung und verfällt in eine detaillierte Regelungswut. Diese macht sie nicht nur zu einem unübersichtlichen Monstrum und zerstört die ursprünglich geforderte Transparenz, sondern ergeht sich in detailliertesten Regelungen einzelner Politikbereiche, die normalerweise einfachen Gesetzen bzw. Verträgen vorbehalten sind.

Beispiele

Einige Beispiele belegen das. So wird im wirtschafts- und währungspolitischen Teil (Art. III-177 ff.) das allgemeine Ziel einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ (Art. I-3) konkretisiert. Dabei fällt zunächst auf, dass aus der Formel des Art. I-3 das Adjektiv „sozial“ entfällt und zum „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ umdefiniert wird, der gleich dreimal in den Art. III-177, 178 und 185 erscheint. Diese Formulierung ist aus dem EGV übernommen worden und soll somit verfassungsrechtlich aufgewertet und abgesichert werden. Dies ist - ganz im Gegensatz zum Grundgesetz - eine Systementscheidung und somit eine deutliche Einschränkung wirtschaftspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten, da sie nicht mehr einfachvertraglicher Disposition unterliegt.

In Art. III-184 wird auf zweieinhalb (!) engbedruckten Seiten die Verschuldenspraxis der Mitgliedstaaten geregelt. Hier wird im Stil von Verwaltungsregelungen die Überprüfung der Einhaltung der Haushaltsdisziplin und die Entscheidungs-, Beschluss- und Empfehlungskompetenzen von Kommission und Rat sowie die Definition einer qualifizierten Mehrheit und einer Sperrminorität formuliert – alles Vorschriften von zweifelsfreier Wichtigkeit, die jedoch allenfalls in die Verträge, nicht aber in eine Verfassung gehören. Mit dem zusätzlichen Verweis auf das 10. Protokoll werden sodann die in Art. III-184 Abs. 2 erwähnten Referenzwerte für Defizitobergrenzen auf jene bekannten 3 % festgesetzt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich damit die Meinung verbreiten könnte, dass dadurch auch die 3 % verfassungsrechtlich abgesichert seien. Auch den Bürgerinnen und Bürgern weitgehend verschlossene Detailregelungen mit umfassenden Verweisungen zur Europäischen Zentralbank in Art. III-187 gehören in keine Verfassung, zumal die Verweisungen sich ohnehin auf die Möglichkeit beziehen, Artikel der Verfassung durch Europäische Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse zu verändern oder zu konkretisieren.

Von ähnlicher bürokratischer Detailliertheit sind die Artikel zur „Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung“ III- 265 – 268, deren technokratische Unempfindlichkeit und zentrales Anliegen der Abwehr sich bereits an den Unwörtern „Massenzustrom“, „plötzlicher Zustrom von Drittstaatenangehörigen“ oder „wirksame Steuerung der Migrantenströme“ erkennen lassen.

Auch ein zweifellos zentraler Politikbereich wie Verkehr und Transeuropäische Netze (Art. III-236 ff.) bedarf zwar detaillierter Regelung, nicht aber auf Verfassungsebene – es sei denn, sie will auch hier den politischen Spielraum durch programmatische Festlegungen gezielt einengen. Darauf deutet Art. III-246 Abs. 2 hin, der lautet: „Die Tätigkeit der Union zielt im Rahmen eines Systems offener und wettbewerbsorientierter Märkte auf die Förderung des Verbunds und der Interoperabilität der einzelstaatlichen Netze sowie des Zugangs zu diesen Netzen ab.“ Dies bedeutet nichts anderes als die Entscheidung für ein privatisiertes Konkurrenzsystem beim „Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze in den Bereichen Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur“. Ein stärker auf staatliche Aktivitäten ausgerichtetes System könnte mit dieser Vorschrift wirksam bekämpft werden.

Interessant ist demgegenüber die Allgemeinheit, Aussagearmut und Unverbindlichkeit der Verfassung in anderen Politikbereichen wie etwa dem Verbraucherschutz, dem sich nur der Art. III-235 widmet und dessen Absatz 1 lautet: „Zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus leistet die Union einen Beitrag zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher sowie zur Förderung ihres Rechtes auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen.“ Die in den folgenden Absätzen erwähnten Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele sind vollkommen inhaltslos. Ein derartiger Artikel schadet zwar nichts, steht aber doch in einem bezeichnenden Gegensatz zu dem Regelungsexzess in anderen Politikbereichen.

Diese Beispiele verfassungsfremder Regelungsdichte auf dem Niveau von Verwaltungsvorschriften und programmatischer Engführung und Festlegung der Politik einerseits sowie inhaltlichem Leerlauf bei anderen Politikbereichen andererseits lassen sich aus den übrigen Abschnitten des Teil III um weitere Beispiele ergänzen – von inhaltlichen Problemen und eindeutigen Widersprüchen zum Grundgesetz (z.B. Art. II-77) abgesehen. Die Monstrosität einer 448 Artikel umfassenden „Verfassung“ mit zusätzlich 36 Protokollen und 30 Erklärungen erzeugt Unübersichtlichkeit statt Transparenz sowie Gleichgültigkeit oder Widerstand statt Verfassungsenthusiasmus oder -patriotismus. Sie ist ein deutliches Zeichen dafür, dass zweijährige Konventsberatungen und anschließende zweijährige Verfassungspropaganda nicht ausreichen, um eine so komplizierte Institution wie eine Europäische Verfassung für die Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger verständlich, überzeugend und Vertrauen erweckend zu schaffen. Dazu braucht es noch weitere Zeit.

Hamburg, 7. 4. 05

* Norman Paech, geboren 12.4. 1938, ist Professor für Öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik.

Quelle: www.attac.de



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