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Abgestimmt wird, bis es paßt

2008 im Rückblick. Heute: Europäische Union. Noch immer kein neuer Vertrag. Die Eliten hoffen auf das neue Jahr

Von Andreas Wehr *

Im Dezember 2001 beauftragten die europäischen Staats- und Regierungschefs einen Konvent mit der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung. Sieben Jahre sind seitdem vergangen. Und noch immer ist kein Ergebnis in Sicht.

Bei der Reform der EU-Vertragsgrundlagen geht es den herrschenden Eliten um eine Zentralisierung und Straffung der europäischen Institutionen und Verfahren. Die Überschrift hierfür lautet: »Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der EU«. Bei Abstimmungen im Rat sollen zukünftig vor allem die Bevölkerungsgrößen der Mitgliedsländer zählen. Profitieren werden davon die großen Staaten – und hier vor allem Deutschland. Sein Anteil verdoppelt sich glatt. Verlierer sind die mittelgroßen und kleinen Länder. Ihre Stimmenanteile werden sich deutlich verringern. Auch sollen nicht mehr alle Länder mit einem Kommissar in Brüssel vertreten sein.

Glatt durchgefallen

Doch dieser Plan ging bisher nicht auf! In Frankreich und in den Niederlanden fiel der Verfassungsvertrag 2005 bei Referenden glatt durch. Anschließend verordnete sich die EU eine »Reflexionsphase«. Tatsächlich wurde aber nie daran gedacht, das Scheitern wirklich zu reflektieren, den Text in der Substanz zu ändern oder gar das ganze Projekt aufzugeben. Die »Reflexionsphase« diente nur dazu, die Zeit zu überbrücken, bis in den Niederlanden eine Regierung gewählt war, in der die Kritiker des Verfassungsvertrages ein geringeres Gewicht haben, und bis in Frankreich Präsident Nicolas Sarkozy ins Amt kam. Er hatte schon früh angekündigt, das Verfassungsprojekt wieder aufnehmen zu wollen, dabei aber das Volk außen vor zu lassen.

Im Sommer 2007 war es dann soweit. Unter deutscher Präsidentschaft wurde bei nur marginalen inhaltlichen Änderungen aus dem Verfassungsvertrag über Nacht der Reform- bzw. Lissabonner Vertrag. Seit Ende 2007 durchläuft nun dieser »neue« Vertrag die Ratifikationsverfahren in den 27 EU-Mitgliedsländern. In Frankreich und in den Niederlanden vermieden es die Regierungen geflissentlich, ihn erneut dem Volk zur Entscheidung vorzulegen. Anders in Irland. Hier gebietet es die nationale Verfassung, jegliche Änderung europäischer Verträge einem Referendum auszusetzen. Es ist das einzige EU-Land, in dem eine solche Verpflichtung existiert. Und prompt ging es dort für die europäischen Eliten schief. Entgegen allen Voraussagen fiel am 12. Juni 2008 der Lissabonner Vertrag durch. Ausschlaggebend für das Nein waren der mit dem Vertrag wahrscheinliche Verlust des eigenen irischen Kommissars und die Sorge um die Neutralität des Landes.

Doch in der EU gilt ein Nein bei Volksabstimmungen noch lange nicht als endgültiges Nein. Regelmäßig läßt man neu abstimmen, bis das Ergebnis am Ende paßt. So war es bereits bei der Ablehnung des Vertrags von Maastricht 1992 in Dänemark. Damals machte man dem Land ein paar Zugeständnisse und ließ noch einmal abstimmen. Dann reichte es. Und so war es schon einmal in Irland, als dort der Vertrag von Nizza durchfiel. Auch hier wiederholte man wenig später das Referendum.

So gedenkt man nun auch mit dem irischen Nein vom 12. Juni zu verfahren. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs empfahl der Regierung in Dublin am 11./12. Dezember, den Vertrag noch einmal der Bevölkerung vorzulegen. Ganz dafür sind auch Sozialdemokraten und Grüne. Sie werden dabei nicht müde in ihrer Polemik gegen das irische Nein. Immer wieder kritisieren sie, daß ein solch kleines Volk von gerade einmal viereinhalb Millionen Einwohnern nicht den Weg der übrigen 26 Länder mit ihren mehr als 350 Millionen Einwohnern blockieren darf. Dieser Argumentation mangelt es nicht nur am Respekt vor der staatlichen Souveränität eines kleinen Landes. Sie ist auch heuchlerisch. Sozialdemokraten und die sonst so basisdemokratischen Grünen wissen ganz genau, daß es Ablehnungen nur so geregnet hätte, wären Abstimmungen in weiteren EU-Ländern nur zugelassen gewesen. Franzosen und Niederländer wären mit Sicherheit auf den Trick der bloßen Umbenennung des Verfassungs- in Lissabonner Vertrag nicht hereingefallen. Auch in Dänemark, Schweden, Tschechien, und Großbritannien wäre ein Nein wahrscheinlich gewesen. Und selbst in Deutschland ist der Ausgang einer solchen Befragung unvorhersehbar.

Der Europäische Rat will nun den Weg für eine zweite Abstimmung in Irland freimachen. Gegen »die Zusage der irischen Regierung, die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon bis zum Ende der Amtszeit der derzeitigen Kommission anzustreben«, will man deshalb von dem ursprünglichen Ziel Abstand nehmen, die Zahl der europäischen Kommissare deutlich zu reduzieren. Bislang wurde angestrebt, die Kommission auf eine Größe zu verkleinern, die zwei Drittel der Mitgliedstaaten entspricht, was 18 Kommissare bedeuten würde. Gegenwärtig hat jedes Land einen Kommissar. Vor allem für kleine Mitgliedsländer ist dies von Bedeutung, um sich in der Brüsseler Bürokratie durchsetzen zu können.

Hinsichtlich anderer Forderungen der irischen Verweigerer beließ es der Rat bei vagen Absichtserklärungen. Zum Verlangen nach »sozialem Fortschritt und Schutz der Arbeitnehmerrechte« bzw. »öffentlicher Dienstleistungen als unverzichtbares Instrument des sozialen und regionalen Zusammenhalts«, ließ sich der EU-Gipfel lediglich zur Erklärung herab, daß ihnen »eine hohe Bedeutung beigemessen wird«. In Aussicht gestellt wurde, manches davon in einem Beitrittsvertrag mit Kroatien (sic!) zu fixieren. Die linke Partei Sinn Féin hat diese Deklarationen als das kritisiert, was sie sind: »Nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben wurden. Solange sie nicht in Protokollen festgeschrieben und von allen Mitgliedsländern ratifiziert sind, sind die von der Regierung behaupteten ›Garantien‹ wertlos.«

Probleme in Tschechien

Probleme machen aber nicht nur die Iren. In Tschechien wird das Parlament erst Anfang Februar 2009 über den Vertrag entscheiden. Der Ausgang gilt als ungewiß. Und sollte es zustimmen, so hat der tschechische Präsident Vaclav Klaus bereits angekündigt, die Ratifizierung vom Ausgang des zweiten irischen Referendums abhängig zu machen. Ebenso will der polnische Präsident Lech Kaczynski verfahren. In Deutschland hat der Bundespräsident wohl das Zustimmungsgesetz für den Lissabonner Vertrag unterzeichnet, da aber noch Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ihn anhängig sind, durfte die Ratifizierungsurkunde bisher nicht ausgefertigt werden. Auch in Belgien ist das Verfahren noch nicht beendet. Aufgrund der komplizierten staatlichen Verfaßtheit des Landes müssen neben dem nationalen Parlament auch die Parlamente der Regionen sowie Sprach- und Kulturgemeinschaften zustimmen. Wegen andauernder Streitigkeiten zwischen Wallonen und Flamen kommt das Verfahren gegenwärtig aber nicht voran.

Es ist daher ungewiß, ob der Lissabonner Vertrag am Ende des neuen Jahres in allen EU-Mitgliedsländern tatsächlich ratifiziert sein wird. So könnte auch 2009 für die Herrschenden in Europa ein schlechtes Jahr werden.

Unter dem Titel »Europäische Union – Das nette Imperium von nebenan« diskutieren bei der XIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 10.1. ab 18 Uhr in der Berliner Urania Lothar Bisky (Europäische Linkspartei), Michael Kronawitter (Antifa-Aktivist), Stefanos Loukas (KP Griechenlands – KKE) und Domenico Losurdo (Italien).

* Aus: junge Welt, 23. Dezember 2008


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